Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an die Rüge eines Abwägungsfehlers nach § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB.
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 26.11.2018; Aktenzeichen 10 D 25/16.NE) |
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.
Rz. 2
Das Oberverwaltungsgericht hat den vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 32 ("Baumwollstraße - Großemast") für unwirksam erklärt, weil dieser an beachtlichen Fehlern bei der nach § 1 Abs. 7 BauGB gebotenen Abwägung leide. Der Rat der Antragsgegnerin habe die Belange des Geruchsimmissionsschutzes (UA S. 14 ff.) und des Lärmschutzes (UA S. 27 ff.) in der konkreten Planungssituation nicht fehlerfrei abgewogen. Beide Abwägungsfehler seien i.S.v. § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BauGB beachtlich und innerhalb der Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB geltend gemacht worden. Das Oberverwaltungsgericht geht dabei davon aus, dass beide Abwägungsfehler je für sich zur Gesamtunwirksamkeit des streitgegenständlichen Bebauungsplans führen.
Rz. 3
Ist die vorinstanzliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 1994 - 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4 S. 4). Denn ist nur bezüglich einer Begründung ein Zulassungsgrund gegeben, dann kann diese Begründung hinweggedacht werden, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert (BVerwG, Beschlüsse vom 9. September 2009 - 4 BN 4.09 - ZfBR 2010, 67 = juris Rn. 5 und vom 21. August 2018 - 4 BN 44.17 - BauR 2018, 1982 = juris Rn. 3). Jedenfalls in Bezug auf die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Antragsgegnerin habe die Belange des Lärmschutzes in der konkreten Situation verkannt, der Abwägungsfehler sei beachtlich und rechtzeitig geltend gemacht worden, ist kein Zulassungsgrund dargelegt. Die Sache hat insofern nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.
Rz. 4
Die Beigeladene hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob in einem Rügeschreiben an die Gemeinde nach Inkrafttreten des Bebauungsplans die bloße Bezugnahme auf die in einem Einwendungsschreiben im Rahmen der öffentlichen Auslegung (§ 3 Abs. 2, § 4a Abs. 3 BauGB) geltend gemachten Mängel den Anforderungen des § 215 BauGB an die Substantiierung und Konkretisierung einer Rüge genügt, wenn das Einwendungsschreiben dem Rügeschreiben nicht beigefügt ist, der Inhalt des Einwendungsschreibens im Rügeschreiben nicht dargestellt wird, sondern lediglich auf das Einwendungsschreiben verwiesen wird.
Rz. 5
Die Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Auf sie lässt sich - soweit sie überhaupt einer über den konkreten Einzelfall hinausgehenden Antwort zugänglich ist - auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation antworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 28. Mai 1997 - 4 B 91.97 - Buchholz 407.4 § 5 FStrG Nr. 10, vom 24. August 1999 - 4 B 72.99 - BVerwGE 109, 268 ≪270≫, vom 23. Januar 2003 - 4 B 79.02 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 114 und vom 16. Juli 2019 - 4 B 9.19 - juris Rn. 4).
Rz. 6
Unbeachtlich wird nach § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB ein nach § 214 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BauGB beachtlicher Mangel des Abwägungsvorgangs, wenn er nicht innerhalb eines Jahres seit Bekanntmachung der Satzung, hier des vorhabenbezogenen Bebauungsplans, schriftlich gegenüber der Gemeinde unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts geltend gemacht worden ist. Dabei verlangt § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB Substantiierung und Konkretisierung. Der Gemeinde soll durch die Darlegung die Prüfung ermöglicht werden, ob Anlass besteht, in eine Fehlerbehebung einzutreten ("Anstoßfunktion" der Rüge; vgl. Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2019, § 215 Rn. 34). Darüber hinaus wird durch die schriftliche Darlegung der Kreis der präkludierten Rügen bestimmt (BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2012 - 4 BN 35.11 - ZfBR 2012, 261 = juris Rn. 4). Das schließt eine nur pauschale Rüge aus (BVerwG, Beschlüsse vom 8. Mai 1995 - 4 NB 16.95 - Buchholz 406.11 § 244 BauGB Nr. 1, vom 19. Januar 2012 - 4 BN 35.11 - ZfBR 2012, 261 = juris Rn. 4 und vom 16. Dezember 2014 - 4 BN 25.14 - ZfBR 2015, 270 Rn. 6).
Rz. 7
Bei der Rüge von Mängeln im Abwägungsvorgang ist es erforderlich, dass die Belange, in deren Behandlung im Plan der Rügende einen Abwägungsfehler erblickt, mit ihrem Tatsachengehalt konkret und substantiiert dargelegt werden (Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2019, § 215 Rn. 34). Das erfordert einen Bezug zur Abwägungsentscheidung der Gemeinde. Damit wahrt eine Rüge, die lediglich pauschal auf die im Bebauungsplanverfahren erhobenen Einwendungen verweist, etwa dahingehend, dass alle Rügen aufrechterhalten werden, nicht die Frist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB, weil sie keinen Bezug zur gemeindlichen Abwägungsentscheidung herstellt und die Anstoßwirkung verfehlt. Ist im Rügeschreiben der Abwägungsfehler in seinem Tatsachengehalt dagegen konkret dargelegt (bezeichnet), dann kann zur (weiteren) Substantiierung des Tatsachenvortrages auf die in einem Einwendungsschreiben insofern bereits gemachten Ausführungen verwiesen werden; deren Wiederholung im Rügeschreiben bedarf es nicht. Da sich das in Bezug genommene Einwendungsschreiben bei den Bebauungsplanakten befindet, muss es in diesem Fall auch nicht noch einmal gesondert beigefügt werden. Alles andere wäre reiner Formalismus ("copy and paste") und würde keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn erbringen.
Rz. 8
Die Feststellung, ob eine Rüge im konkreten Fall den dargestellten Anforderungen des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB genügt, obliegt den Tatsachengerichten. Mehr ist verallgemeinernd nicht auszuführen.
Rz. 9
Von diesen Grundsätzen hat sich das Oberverwaltungsgericht leiten lassen. Es hat mit bindender Wirkung für den Senat (§ 137 Abs. 2 VwGO) festgestellt, dass der Fehler im Abwägungsvorgang hinreichend substantiiert gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemacht worden sei, weil jedenfalls die Antragsteller im Parallelverfahren 10 D 40/16.NE im Rügeschreiben vom 19. Mai 2015 (richtig: 19. Mai 2016) ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, dass weiterhin sämtliche Einwendungen zur Lärmschutzproblematik aufrechterhalten würden. Die Rüge, dass die Einwendungen in den Schreiben vom 27. Januar 2014 und vom 11. April 2014 nicht beziehungsweise nicht mit der gebotenen Abwägungserheblichkeit, die diesen Belangen zukomme, im Rahmen der Abwägungsentscheidung beachtet und damit die Schutzinteressen der Antragsteller des Parallelverfahrens zur Wahrung ihrer Wohnsituation unberücksichtigt geblieben seien, sei ausdrücklich erhoben worden (UA S. 32). Die so formulierte Rüge habe genügt, um die Antragsgegnerin gegebenenfalls zu veranlassen, die Abwägungsentscheidung zur planbedingten Zunahme des Verkehrslärms noch einmal mit Blick auf die Lärmschutzbelange gerade auch der Wohnhäuser unmittelbar an der B 70 einer Fehlerkorrektur zu unterziehen (UA S. 32).
Rz. 10
Damit kann offen bleiben, ob in Bezug auf die Annahme eines Abwägungsfehlers bei der Behandlung des Geruchsimmissionsschutzes ein Revisionszulassungsgrund dargelegt und gegeben ist.
Rz. 11
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Fundstellen
BauR 2020, 79 |
IBR 2020, 45 |
ZfBR 2020, 66 |
DVBl. 2021, 1292 |
UPR 2020, 67 |
BBB 2020, 53 |
FSt 2020, 304 |