Entscheidungsstichwort (Thema)
Unternehmensrestitution. Vermögensgegenstand, weggeschwommener. Schädigungsmaßnahme, gesonderte. Enteignung Unternehmen. Rechtsträger, verschiedene. Überzeugungsgrundsatz
Normenkette
VermG § 6 Abs. 6a S. 1, § 31 Abs. 5 S. 3; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
VG Dresden (Entscheidung vom 21.07.1999; Aktenzeichen 5 K 2951/98) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 21. Juli 1999 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Dresden zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 225 000 DM festgesetzt.
Gründe
Die Klägerin begehrt die Feststellung ihrer Berechtigung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1, § 6 Abs. 6 a Satz 1 i.V.m. § 31 Abs. 5 Satz 3 VermG hinsichtlich eines Wohngrundstücks, das zu dem Vermögen ihres früheren Unternehmens gehörte und Ende 1952 zugleich mit dem Unternehmen enteignet wurde. Der Beklagte hat durch den angefochtenen Bescheid den Antrag abgelehnt, weil das betroffene Grundstück aus dem Unternehmensvermögen „weggeschwommen” und darum keiner gesonderten Schädigung ausgesetzt gewesen sei. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, die Berechtigung der Klägerin festzustellen. Die Revision gegen sein Urteil hat es nicht zugelassen.
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Seine Verfahrensrüge führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat sich seine Überzeugung in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet und damit gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen.
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gebot der freien Beweiswürdigung verpflichtet unter anderem dazu, bei Bildung der Überzeugung von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt auszugehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1990 – BVerwG 7 C 3.90 – BVerwGE 85, 155 ≪158≫ m.w.N.). Übergeht das Tatsachengericht wesentliche Umstände, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen, fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts sowie für die Überprüfung seiner Entscheidung darauf, ob die Grenze einer objektiv willkürfreien, die Natur- und Denkgesetze sowie allgemeine Erfahrungssätze beachtenden Würdigung überschritten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – BVerwG 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 ≪208 f.≫ m.w.N.).
Nach der dem angegriffenen Urteil zugrundeliegenden Rechtsauffassung konnte die Klage nur unter der Voraussetzung Erfolg haben, daß die Verstaatlichung des früheren Unternehmens der Klägerin nicht das Grundstück an der M.-H.-Straße erfaßte, sondern dieses gesondert zugunsten eines anderen Rechtsträgers enteignet worden ist. Das Verwaltungsgericht hat dementsprechend von diesem rechtlichen Ausgangspunkt her die Auffassung vertreten, daß das in Rede stehende Grundstück „nicht durch die Verstaatlichung des Unternehmens …, sondern mittels einer gesonderten – parallel hierzu erfolgenden – schädigenden Maßnahme” entzogen worden sei. Die Beschwerde rügt zu Recht, daß das Verwaltungsgericht bei dieser Würdigung wesentlichen Akteninhalt nicht berücksichtigt hat. Das Grundstück stand im Eigentum der Kunstseidenweberei Sch. GmbH. Deren gesamtes Vermögen hatten die staatlichen Stellen wirtschaftlich bereits als Volkseigentum gewertet, bevor sie mit Wirkung vom 1. November 1952 die förmliche Enteignung vollzogen haben. Das ergibt sich aus dem Schreiben des Ministeriums des Innern – Amt zum Schutze des Volkseigentums – vom 24. Oktober 1952 an den Rat des Bezirks D. (Bl. 812 der Verwaltungsakten). In diesem Schreiben heißt es, daß die Geschäftsanteile der GmbH, die im Eigentum eines Unternehmens mit Sitz in der Volksrepublik Polen standen, herrenlos geworden seien und deshalb den Bestimmungen der Nr. 2 des SMAD-Befehls Nr. 124 in Verbindung mit Nr. 4 des SMAD-Befehls Nr. 64 unterfielen; da die unter der Treuhandverwaltung des VVB Baumwoll- und Leinenwebereien stehende GmbH Volkseigentum darstelle, solle sie auf der Grundlage dieser Bestimmungen in Volkseigentum überführt und ihr Vermögen künftig bei dem VEB Kunstseidenweberei Sch. bilanziert werden. Dem entspricht, daß mit Datum vom 2. Dezember 1952 zwei im wesentlichen übereinstimmende Rechtsträgernachweise erlassen wurden, denen zufolge das Eigentum der Kunstseidenweberei Sch. GmbH auf der Grundlage der Nr. 2 des SMAD-Befehls Nr. 124 in Verbindung mit Nr. 4 des SMAD-Befehls Nr. 64 in Volkseigentum übergegangen ist. Die Rechtsträgernachweise unterscheiden sich lediglich darin, daß das Anlage- und Umlaufvermögen sowie näher bezeichnete Grundstücke mit Wirkung vom 1. November 1952 dem VEB Kunstseidenweberei Sch. als Rechtsträger zugeordnet wurde (Bl. 815 der Verwaltungsakten), während Rechtsträger des Wohngrundstücks mit Wirkung vom selben Tag der Rat der Stadt B. wurde (Bl. 846 der Verwaltungsakten).
Angesichts des genannten Akteninhalts drängt sich die Folgerung auf, daß die Enteignung des Unternehmens der Klägerin auf einem einheitlichen Vorgang beruhte, der das gesamte Unternehmensvermögen erfaßte. Darauf deutet auch das Schreiben des Rats des Bezirks an den Rat des Kreises L. vom 2. Dezember 1952 hin (Bl. 147 der Verwaltungsakten). Mit diesem Schreiben, das das Verwaltungsgericht ebenfalls nicht gewürdigt hat, wurde um Löschung der Firma Kunstseidenweberei Sch. GmbH im Handelsregister ersucht und gebeten, als Löschungsvermerk einzutragen: „Es hat Betriebsenteignung gemäß den Enteignungsgesetzen (und Vorschriften) der Länder der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in Verbindung mit Ziff. 4 des SMAD-Befehls 64 (ZVOBl Nr. 15) stattgefunden.” Unter diesen Umständen ist nicht nachzuvollziehen, weshalb das Verwaltungsgericht zu seiner Annahme gelangt ist, daß das zum Unternehmensvermögen gehörende Wohngrundstück einer eigenständigen Schädigung unterlag. Die Annahme, das Verwaltungsgericht könnte in der Zuordnung von einzelnen Vermögenswerten eines Unternehmens an einen gesonderten Rechtsträger stets eine von der Unternehmensenteignung gesonderte Schädigungsmaßnahme erblickt haben, so daß – wie die Beschwerdeerwiderung der Klägerin vorbringt – kein Verfahrensfehler, sondern alleinfalls eine sachliche Unrichtigkeit gerügt werde, scheidet schon im Blick auf den materiellrechtlichen Ansatz des Verwaltungsgerichts aus, weil man der Vorinstanz einen solchen in der Tat nur als abwegig zu bezeichnenden rechtlichen Perspektivenwechsel nicht unterstellen kann. Angesichts dessen lassen sich die Erwägungen des Verwaltungsgerichts nur so verstehen, daß es der Zuweisung des Grundstücks in die Rechtsträgerschaft der Stadt B. indiziellen Charakter für die Annahme einer gesondert vorgenommenen Enteignung zugemessen, dabei aber wesentlichen Akteninhalt unberücksichtigt gelassen hat. Eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung im Bereich des Indizienbeweises ist als Verfahrensfehler anzusehen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 – BVerwG 4 C 28.89 – BVerwGE 84, 271 ≪273 f.≫). Der Senat nimmt den Verfahrensfehler zum Anlaß, das Urteil gemäß § 133 Abs. 6 VwGO durch Beschluß aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Dr. Franßen, Gödel, Herbert
Fundstellen