Entscheidungsstichwort (Thema)

Atomrechtliches Genehmigungsverfahren. Beteiligung der Öffentlichkeit. Verfahrensfehler, Beteiligungsfehler, Rechtsschutz. Möglichkeit einer anderen Entscheidung in der Sache. behördlicher „Beurteilungsspielraum”. Ermittlungspflicht der atomrechtlichen Genehmigungsbehörde. Heranziehung technischer Regelwerke. Reaktorsicherheitskommission. Kerntechnischer Ausschuß. Stand von Wissenschaft und Technik. Verfassungsmäßigkeit des Atomgesetzes. Entsorgung der Kernkraftwerke

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Rechtsverletzung eines Dritten durch Nichtbeachtung von Verfahrensvorschriften im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren.

Zur Aufhebung eines verfahrensfehlerhaften Verwaltungsakts wegen der Möglichkeit einer anderen Entscheidung in der Sache.

Die Verwertbarkeit technischer Regelwerke der Reaktorsicherheitskommission und des Kerntechnischen Ausschusses für die Genehmigung eines Kernkraftwerkes hängt entscheidend davon ab, ob diese dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen; sie wird nicht schon dadurch in Frage gestellt, daß diesen Gremien keine Vertreter von gesellschaftlichen Gruppen angehören, die der Nutzung von Kernenergie gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt sind.

 

Normenkette

AtG § 7 Abs. 2 Nr. 3, § 9a Abs. 3; StrSchV § 28 Abs. 3 S. 4; VwVfG § 46; VwGO § 42 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches OVG (Urteil vom 03.03.1992; Aktenzeichen 7 L 121/90)

VG Oldenburg (Entscheidung vom 14.12.1989; Aktenzeichen 3 OS VG A 20/87)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsichen Oberverwaltungsgerichts vom 3. März 1992 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 und zu 2.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20.000 DM festgesetzt.

 

Gründe

Der Kläger, ein niederländischer Staatsangehöriger, begehrt die Aufhebung der Ersten Teilgenehmigung für das Kernkraftwerk Emsland (KKE) vom 4. August 1982. Er wohnt in einer niederländischen Grenzgemeinde etwa 25 km von dem Kernkraftwerk entfernt. Seine Klage wurde vom Verwaltungsgericht zunächst wegen Fehlens der Klagebefugnis als unzulässig abgewiesen. Auf die Sprungrevision des Klägers hat der beschließende Senat die Klage für zulässig gehalten, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (Urteil vom 17. Dezember 1986 – BVerwG 7 C 29.85 – BVerwGE 75, 285 = Buchholz 451.171 AtG Nr. 17). Nach erneuter Verhandlung hat das Verwaltungsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete Beschwerde des Klägers kann keinen Erfolg haben. Die in der Beschwerdeschrift geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO) liegen nicht vor.

Soweit die Beschwerde das Verhältnis von § 42 Abs. 2 VwGO und § 46 VwVfG für klärungsbedürftig hält, vermag das eine Zulassung der Revision schon deshalb nicht zu rechtfertigen, weil über die Zulässigkeit der Klage bereits durch das Urteil des beschließenden Senats vom 17. Dezember 1986 (a.a.O.) entschieden ist.

Der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf auch nicht, unter welchen Voraussetzungen ein Kläger, dessen Recht auf Beteiligung am atomrechtlichen Genehmigungsverfahren verletzt worden ist, die Aufhebung der erteilten Genehmigung verlangen kann. Diese Frage ist in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt. Der Fall gäbe keine Gelegenheit zur Klärung weiterer, noch offener Fragen. Das gilt auch im Hinblick auf § 46 VwVfG. Die Beteiligung der Öffentlichkeit an Verwaltungsverfahren in grundrechtsrelevanten Bereichen dient vor allem dem Schutz der Grundrechte potentiell betroffener Bürger. Solange der Gesetzgeber nicht Verfahrensteilhaberrechte unabhängig von einer potentiellen materiellrechtlichen Betroffenheit schafft, ist es nicht Sache der Gerichte, verfahrensfehlerhafte Verwaltungsentscheidungen aufzuheben, um eine Beteiligung „politisch verantwortlicher Bürger” am Verwaltungsverfahren zu gewährleisten. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des beschließenden Senats, daß das atomrechtliche Verfahrensrecht Drittschutz nur im Hinblick auf eine bestmögliche Verwirklichung einer materiellrechtlichen Rechtsposition vermittelt und daß deshalb die auf einen Fehler des Verwaltungsverfahrens gestützte Klage nur Erfolg haben kann, wenn der Dritte dartut, daß und inwieweit sich die Nichtbeachtung der Verfahrensvorschrift auf seine materiellrechtliche Rechtsposition ausgewirkt hat (vgl. Beschluß vom 13. Juli 1989 – BVerwG 7 CB 80.88 – Buchholz 451.171 AtG Nr. 30 = NVwZ 1989, 1168, m.w.Nachw.). Das ist z.B. dann der Fall, wenn der Kläger infolge des Verfahrensfehlers daran gehindert worden ist, Umstände vorzutragen, die die Behörde nicht beachtet hat, denen sie aber bei einer den Anforderungen des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG entsprechenden Ermittlung und Bewertung von Risikofaktoren hätte nachgehen müssen.

So liegen die Dinge hier nicht. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Behörde den Sicherheitsfragen, die im Verwaltungsverfahren vorzubringen der Kläger sich durch den Beteiligungsfehler gehindert gesehen hat und über die mit der angefochtenen Ersten Teilgenehmigung entschieden worden ist, nachgegangen und hat hierzu die erforderlichen Ermittlungen und Bewertungen getroffen. Dafür, daß die „konkrete Möglichkeit” (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Mai 1984 – BVerwG 4 C 58.81 – BVerwGE 69, 256 ≪270≫) bestanden hätte, daß eine andere Entscheidung in der Sache getroffen worden wäre, liegt somit nichts vor. Deshalb wäre in einem Revisionsverfahren auch nicht zu klären, ob ein verfahrensfehlerhaft zustandegekommener Verwaltungsakt wegen der Möglichkeit einer anderen Entscheidung in der Sache gemäß § 46 VwVfG dann aufzuheben ist, wenn der Behörde ein „Beurteilungsspielraum” zusteht. Denn bei einem der Behörde eingeräumten Beurteilungsspielraum kommt es für die Möglichkeit einer anderen Entscheidung in der Sache darauf an, ob die Beurteilungsgrundlagen der angefochtenen Behördenentscheidung vollständig waren oder der Ergänzung bedurften, nicht hingegen darauf, daß auch der Kläger auf Umstände, die die Behörde berücksichtigt hat, hätte hinweisen können.

Ob mit dem Begriff des „Beurteilungsspielraums” die Rechtslage, daß die Exekutive die Verantwortung für die Risikoermittlung und -bewertung nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG hat (vgl. insbesondere Urteile des beschließenden Senats vom 19. Dezember 1985 – BVerwG 7 C 65.82 – BVerwGE 72, 300 ≪315 ff.≫ = Buchholz 451.171 AtG Nr. 15, S. 46 ff., und vom 22. Oktober 1987 – BVerwG 7 C 4.85 – BVerwGE 78, 177 ≪180≫ = Buchholz 451.171 AtG Nr. 20, S. 8), zutreffend gekennzeichnet ist, kann hier offenbleiben. Da das Berufungsgericht diesen Begriff nicht in dem Sinne verwendet, daß die Behörde bei ein und demselben – vollständig ermittelten – Sachverhalt die Wahl zwischen zwei Entscheidungen – Erteilung oder Versagung einer beantragten Genehmigung – hat, weicht es – entgegen der Auffassung der Beschwerde – nicht von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Mai 1982 – BVerwG 6 C 60.79 – (BVerwGE 65, 287 ≪289≫) ab; denn dort hat das Bundesverwaltungsgericht den Beurteilungsspielraum im Sinne vorhandener Entscheidungsalternativen verstanden und ihn deshalb – übrigens nicht entscheidungstragend – im Rahmen des § 46 VwVfG Ermessensentscheidungen gleichgestellt.

In einem Revisionsverfahren zu klären wäre auch nicht die Frage, unter welchen Voraussetzungen Regelwerke von technischen Gremien – hier der Reaktorsicherheitskommission (RSK) und des Kerntechnischen Ausschusses (KTA) – als antizipiertes Sachverständigengutachten angesehen werden können, denen Vermutungswirkung zukommt (Beschwerdeschrift S. 12). Das Berufungsgericht hat geprüft, ob die Genehmigungsbehörde bei der Erteilung der angefochtenen Ersten Teilgenehmigung von einer zureichenden „Datenbasis” ausgegangen ist. Es hat dazu ausgeführt, aus dem Sicherheitsgutachten des TÜV Hannover habe sich ergeben, daß das Konzept der Anlage den RSK-Leitlinien für Druckwasserreaktoren vom 24. Januar 1979 sowie der KTA-Regel 3501 „Reaktorschutzsystem und Überwachung von Sicherheitseinrichtungen” in der Fasssung 3/77 entspreche und daß es keine Anhaltspunkte gebe, die seinerzeit noch verhältnismäßig jungen Regelwerke entsprächen in entscheidungserheblichen Punkten nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik. Die Behörde habe deshalb keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen gehabt. Diese vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen wären auch in einem Revisionsverfahren zugrunde zu legen (§ 137 Abs. 2 VwGO). Ihnen liegt auch keine Rechtsauffassung zugrunde, die der grundsätzlichen Klärung bedürfte. Nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats (Urteile vom 19. Dezember 1985 – BVerwG 7 C 65.82 – BVerwGE 72, 300 ≪316 ff.≫ und vom 22. Oktober 1987 – BVerwG 7 C 4.85 – BVerwGE 78, 177 ≪180 ff.≫; Beschlüsse vom 13. Juli 1989 – BVerwG 7 CB 80.88 – und – BVerwG 7 B 188.88 – Buchholz 451.171 AtG Nr. 30 und 31) hat die atomrechtliche Genehmigungsbehörde bei der ihr obliegenden Risikoermittlung und -bewertung die Wissenschaft zu Rate zu ziehen und darf sich nicht auf eine „herrschende Meinung” beziehen, sondern muß – nach Maßgabe des „Besorgnispotentials” – alle vertretbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse in Erwägung ziehen. Sie ist allerdings nicht gehalten, Regelwerke von Gremien, die den für die Reaktorsicherheit zuständigen Bundesminister beraten und in seinem Auftrag sicherheitstechnische Regeln auf Gebieten der Kerntechnik aufstellen, bei denen sich aufgrund von Erfahrungen eine einheitliche Meinung von Fachleuten abzeichnet, ohne jeden Anhalt für abweichende Auffassungen in Wissenschaft und Technik in Frage zu stellen und die sicherheitstechnischen Ermittlungen ohne diese Grundlage durch Beauftragung von Sachverständigen von vorn zu beginnen. Ergeben sich Zweifel an den den Regelwerken zugrundeliegenden Annahmen, so hat die Genehmigungsbehörde diesen nachzugehen. Solche Zweifel sind aber nicht schon darin begründet, daß den Gremien bei der Erarbeitung der von der Genehmigungsbehörde bei ihren Ermittlungen und Bewertungen zugrundegelegten Regelwerken keine Vertreter von der Kernenergienutzung gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellten gesellschaftlichen Gruppen angehört haben; denn es geht bei der Frage der Verwertbarkeit sicherheitstechnischer Standards für die Prüfung einer Anlage am Maßstab des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG nicht darum, ob solche Standards Ergebnis eines pluralistischen, politischen Meinungsbildungsprozesses sind, sondern um die fachliche Frage, ob sie dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen. Sie können deshalb nur mit fachlichen, auf neuere Erkenntnise und Möglichkeiten in Wissenschaft und Technik bezogenen Einwänden in Zweifel gezogen werden.

Solche Zweifel sind nach den den beschließenden Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts weder vom Kläger vorgetragen worden noch sonst in Erscheinung getreten. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, daß die vom Kläger vorgetragenen Risiken aus menschlichem Fehlverhalten, insbesondere bei Handmaßnahmen des Wartepersonals, bei der Aufstellung der hier einschlägigen Regelwerke eine wesentliche Rolle gespielt haben und in die dort aufgestellten technischen Sicherheitsanforderungen einbezogen worden sind. Zu weiterer Aufklärung bestand kein Anlaß, und zwar auch nicht im Hinblick auf die Aussagen des beschließenden Senats im Urteil vom 22. Oktober 1987 (a.a.O.), von denen das Berufungsgericht – entgegen der Auffassung der Beschwerde – nicht abgewichen ist.

Die Rüge, das Berufungsgericht weiche, was die Ermittlung und Bewertung eines Kernschmelzrisikos betrifft, von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, belegt die Beschwerdeschrift nicht in der gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 gebotenen Weise. Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang als von grundsätzlicher Bedeutung die „Kontrolldichte im Rahmen des § 28 Abs. 3 Satz 4 StrSchV” bezeichnet, fehlt es an der Herausarbeitung einer bestimmten Rechtsfrage, die über das in der bisherigen Rechtsprechung des beschließenden Senats (vgl. insbesondere die oben genannten Entscheidungen vom 19. Dezember 1985 und vom 22. Oktober 1987) bereits Gesagte hinaus zu klären wäre.

Schließlich hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung auch nicht mit der Frage, ob § 7 AtG „wegen mangelnder Erhebung der Entsorgungssicherheit zur Genehmigungsvoraussetzung verfassungswidrig” ist. Der Gesetzgeber hat die Entsorgung in § 9 a AtG, insbesondere in dessen Abs. 3, und in § 9 b AtG geregelt. Er konnte davon ausgehen, daß dieses Problem lösbar ist. Sonst wäre seine Entscheidung für die friedliche Nutzung der Kernenergie von vornherein verfassungswidrig gewesen. Das hat aber das Bundesverfassungsgericht im Beschluß vom 8. August 1978 (BVerfGE 49, 89) verneint, und zwar nicht nur im Blick auf die Entsorgung des Schnellen Brüters, sondern auch der weiteren mit dem Erlaß des Atomgesetzes ermöglichten und im Betrieb befindlichen Reaktoren (a.a.O. S. 130 f.). Seither haben sich keine Entwicklungen ergeben, die die Grundlagen der insoweit vom Gesetzgeber getroffenen Regelung nachhaltig in Frage stellen und seine ursprüngliche Entscheidung für die Kernenergienutzung inzwischen hätten verfassungswidrig werden lassen. Die derzeitige Diskussion um die Entsorgung der deutschen Kernkraftwerke ist vor allem dadurch ausgelöst, daß sich die Arbeiten zur Erkundung und Errichtung von Endlagern für radioaktive Abfälle, die übrigens nicht nur beim Betrieb von Kernkraftwerken anfallen, verzögern.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 14 Abs. 1 Satz 1, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

 

Unterschriften

Dr. Franßen, Dr. Gaentzsch, Kley

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1603326

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