Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 14.02.2007; Aktenzeichen 12 LC 37/07) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Februar 2007 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
Gründe
Der Kläger wendet sich gegen den immissionsschutzrechtlichen Änderungsbescheid des Beklagten vom 13. Juli 1999, mit dem der an seinem Wohngebäude zur Nachtzeit zulässige Immissionsrichtwert von 40 dB(A) auf 44 dB(A) heraufgesetzt worden ist. Das in den 1950er Jahren bebaute und vom Kläger 1973 erworbene Grundstück liegt südlich des Geländes eines bereits seit mehr als 100 Jahren bestehenden Holzverarbeitungsbetriebs (der heutigen Papier- und Pappefabrik der Beigeladenen), getrennt von diesem durch die A…. Straße sowie durch eine keilförmig nach Süden sich anschließende Parkanlage. Die Produktion von Pappe erfolgt – mit wenigen Ausnahmen – ganzjährig im Tag- und Nachtbetrieb. Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage blieb in den Vorinstanzen ohne Erfolg. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist angesichts der gegebenen Gemengelage und der Vorbelastung des Grundstücks des Klägers der nunmehrige Zwischenwert von 44 dB(A) für die Nacht geeignet zur Bewältigung der widerstreitenden Interessen und dem Kläger zumutbar. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
1.1 Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich, ob bei Bildung eines Zwischenwertes gemäß Nr. 6.7 TA Lärm mehr als eine Gebietskategorie übersprungen werden darf. Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sie sich ohne weiteres anhand der normativen Bestimmungen der TA Lärm und der hierzu ergangenen Rechtsprechung beantworten lässt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur TA Lärm 1968 vom 16. Juli 1968 (BAnz Nr. 137 vom 26. Juli 1968/TA Lärm 1968) sind Nutzungskonflikte infolge Lärmimmissionen in sog. Gemengelagen, d.h. in Bereichen, in denen Gebiete unterschiedlicher Qualität und Schutzwürdigkeit zusammentreffen, dem Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme entsprechend auszugleichen (Urteil vom 12. Dezember 1975 – BVerwG 4 C 71.73 – BVerwGE 50, 49 ≪54 f.≫). Dabei können situationsbedingte Umstände die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme mindern und zu einer erhöhten Hinnahme von sonst nicht (mehr) zumutbaren Beeinträchtigungen führen. Angesichts der Belastung der Grundstücksnutzung mit einer gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme ist eine Art “Mittelwert” zu bilden, der zwischen den Immissionsrichtwerten liegt, die für benachbarte Gebiete unterschiedlicher Nutzung und damit unterschiedlicher Schutzwürdigkeit – bei jeweils isolierter Betrachtung – vorgegeben sind (Beschluss vom 5. März 1984 – BVerwG 4 B 171.83 – Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 98). Dieser Ausgangspunkt darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Mittelwert der Sache nach das arithmetische Mittel zweier Richtwerte ist (Beschluss vom 29. Oktober 1984 – BVerwG 7 B 149.84 – DVBl 1985, 397). Hiergegen steht bereits, dass die Lärmberechnung nicht auf arithmetischen, sondern auf logarithmischen Vorgaben beruht. Bei einem solchermaßen zu gewinnenden Mittelwert müssen zur Bestimmung der Zumutbarkeit zudem die Ortsüblichkeit und die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, wobei insbesondere auch die Priorität der entgegenstehenden Nutzungen von Bedeutung ist (Urteil vom 7. Februar 1986 – BVerwG 4 C 49.82 – Buchholz 406.12 § 6 BauNVO Nr. 6). In der Literatur zur TA Lärm 1968 (Ritter, NVwZ 1984, 609 ≪613≫; Steinebach, BauR 1983, 393 ≪396≫) wird zusätzlich davon ausgegangen, dass im Rahmen der Mittelwertbildung lediglich ein Zuschlag von maximal 5 dB(A) auf den jeweiligen Richtwert erfolgen könne, da der Betroffene mit keiner höheren Anhebung der Zumutbarkeitsschwelle (als in die nächsthöhere Gebietskategorie) rechnen müsse (ebenso Nr. 2.26 der LAI Musterverwaltungsvorschrift Lärm, abgedr. bei Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, Bd. 4 C 4.7 und Nr. 4.7 des Entwurfs der neuen TA Lärm, Stand: 22. Juli 1996, vgl. hierzu Hansmann, NuR 1997, 53 ≪55 f.≫). Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang aber lediglich ein Vertrauen des Eigentümers eines Wohngrundstücks dahingehend bejaht, dass er im Zusammenhang mit einer anders gearteten Nutzung benachbarter Grundstücke nicht mit einer Lärmbelastung rechnen muss, die über das Maß hinausgeht, das in einem ebenso dem Wohnen dienenden Misch- und Dorfgebiet zulässig ist (Beschluss vom 18. Dezember 1990 – BVerwG 4 N 6.88 – Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 50).
Die Grundsätze dieser “Mittelwert”-Rechtsprechung sind auf der Basis der TA Lärm 1968 entwickelt worden, die in Nr. 2.321 Immissionsrichtwerte für unterschiedliche Gebietskategorien festgesetzt hatte (im Sinne einer normkonkretisierenden Festlegung des Maßstabes für die Schädlichkeit von Geräuschen, Beschluss vom 8. November 1994 – BVerwG 7 B 73.94 – Buchholz 406.25 § 3 BImSchG Nr. 10; Urteil vom 28. Oktober 1998 – BVerwG 8 C 16.96 – BVerwGE 107, 338) und in Nr. 2.212 für besondere Einzelfälle eine Öffnungsklausel enthielt. Die TA Lärm vom 26. August 1998 (GMBl 1998, 503; TA Lärm 1998) übernimmt in Nr. 6.7 (“Gemengelage”) im Wesentlichen die Grundsätze der oben genannten Rechtsprechung. Nicht aufgenommen hat sie aber die Beschränkung einer Mittelwertbildung auf einen Zuschlag von maximal 5 dB(A). Sie enthält in Nr. 6.7 Abs. 1 Satz 2 lediglich eine Kappungsgrenze in der Form, dass zum Wohnen dienende Grundstücke in einer Gemengelage mit keinem 45 dB(A) überschreitenden Immissionsrichtwert belastet werden dürfen. Dies hat zur Folge, dass – von Sonderfällen abgesehen – für ein Grundstück in einem allgemeinen Wohngebiet lediglich ein Zuschlag von 5 dB(A) in Frage kommt, während Grundstücke in einem reinen Wohngebiet bis hin zur Grenze von 45 dB(A) – also mit einem Zuschlag von bis zu 10 dB(A) – belegt werden dürfen. Diese Regelung beruht auf dem vom Normgeber verfolgten Ziel, durch eine regelmäßig verbindliche Obergrenze “dauerhaft gesunde Wohnverhältnisse ohne besonderen passiven Schallschutz” sicherzustellen (BRDrucks 254/98). Ob die Voraussetzungen für einen mehr als 5 dB(A) betragenden Zuschlag vorliegen, ist eine Frage des konkreten Einzelfalls; sie rechtfertigt die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht. Die Beschwerde hat auch nicht dargelegt, dass schon die Eröffnung der Möglichkeit eines solchen Zuschlags klärungsbedürftige Fragen aufwirft.
1.2 Grundsätzliche Bedeutung verleiht der Rechtsache auch nicht die Frage, ob das dem emittierenden Industriegebiet zugute kommende Privileg einer Zwischenwertbildung dem Grunde oder doch zumindest dem Umfang nach davon abhängt, ob der emittierende Betrieb an das dem Wohnen dienende Gebiet herangerückt ist oder ob sich das zum Wohnen dienende Gebiet – umgekehrt – in Richtung auf den emittierenden Betrieb ausgeweitet hat.
Die unmittelbare Beantwortung dieser Frage folgt bereits aus Nr. 6.7 Abs. 2 Satz 2 letzter Halbsatz TA Luft 1998. Danach ist wesentliches Kriterium für die Höhe des Zwischenwertes und damit für die konkrete Schutzbedürftigkeit eines zum Wohnen dienenden Grundstücks, welche der unverträglichen Nutzungen zuerst verwirklicht worden ist. Ob und in welchem Umfang auf dem Grundstück der Beigeladenen die dort schon deutlich länger vorhandene Fabrikation sich nach Bebauung des Grundstückes des Klägers nach Süden bzw. Südosten ausgedehnt hat und damit ihrerseits an die Wohnbebauung mit höherem Schutzanspruch herangerückt ist, beurteilt sich nach tatsächlichen, von der Würdigung konkreter Gegebenheiten des Einzelfalls abhängender Faktoren und hebt somit nicht auf eine klärungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ab.
1.3 Die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage, ob Nr. 6.7 TA Lärm 1998 ein unmittelbares Aneinandergrenzen des emittierenden Grundstücks und des Gebiets, in dem der Immissionsort gelegen ist, voraussetzt, oder ob von einem “Aneinandergrenzen” auch dann noch die Rede sein kann, wenn zwischen den Gebieten eine relativ große räumliche Distanz (ca. 80 m) und ein “fremdes Gebiet” (Kurpark) liegt, rechtfertigt die Zulassung der Revision schon deswegen nicht, weil Nr. 6.7 Abs. 1 Satz 1 TA Lärm 1998 von Gebieten spricht und nicht auf das einzelne Grundstück abstellt. Dieses “Aneinandergrenzen” im Sinne von Nr. 6.7 Abs. 1 Satz 1 TA Lärm 1998 wird durch den räumlichen Umfang des Rücksichtnahmegebots geprägt. Es wird nicht schematisch räumlich im Sinne von Mindestabständen von der Immissionsquelle bestimmt, sondern nach der jeweiligen Schallausbreitung und der damit einhergehenden Betroffenheit von Grundstücken mit höheren Schutzansprüchen (vgl. Kötter/Kühner, Immissionsschutz 2.00, 54 ≪60≫; Tegeder/Sachs, Lärmbekämpfung 2006, S. 20 ff.). Die Reichweite des Gebots der Rücksichtnahme bestimmt sich danach, in welchem Umfang die Nutzung des einen Gebiets noch prägend auf das andere Gebiet einwirkt (Hansmann, in: Landmann-Rohmer, Umweltrecht Bd. II, TA Lärm Rn. 25). Wie weit diese prägende Einwirkung reicht, ist eine Frage der konkreten Umstände des Einzelfalls, die einer grundsätzlichen Klärung entzogen ist.
1.4 Die weitere Frage, ob eine wesentliche Änderung im Sinne von § 16 Abs. 1 Satz 1 BImSchG auch dann zu bejahen ist, wenn sich an der Lage, der Beschaffenheit und/oder dem Betrieb einer genehmigungsbedürftigen Anlage tatsächlich nichts ändert, sondern allein die Heraufsetzung von Immissionsrichtwerten zu beurteilen ist, rechtfertigt ebenso nicht die Zulassung der Revision. Die Frage würde in einem Revisionsverfahren nicht zu entscheiden sein. Soweit sie darauf abzielt, ob eine Erhöhung des Immissionsrichtwertes für die Nacht über 40 dB(A) hinaus durch eine entsprechende Zusicherung des Geschäftsführers der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen ausgeschlossen war, hat das Oberverwaltungsgericht eine solche Zusicherung aus Gründen verneint, die nicht mit einer zulässigen und begründeten Rüge angegriffen worden sind. Ob das Oberverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 16 BImSchG ausgegangen ist, ist nicht entscheidungserheblich. Die Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung liegen ersichtlich nicht vor. Zu der Frage, ob die Erhöhung des Immissionsrichtwertes auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden konnte, hat sich die Beschwerde nicht geäußert.
2. Die Verfahrensrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) greifen ebenfalls nicht durch. Das Berufungsgericht hat seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht verletzt.
2.1 Das Berufungsgericht musste das Motiv der Beigeladenen für die Beantragung höherer Immissionsrichtwerte nicht erforschen. Unabhängig davon liegt es auf der Hand: Der Beklagte hat die Beigeladene deshalb “mit einem zusätzlichen Lärmprivileg” ausgestattet, weil der bisher festgesetzte Immissionsrichtwert von 40 dB(A) für die Nacht vom Betrieb der Beigeladenen – auch unter Berücksichtigung des Messabschlags gemäß Nr. 6.9 TA Lärm 1998 und trotz durchgeführter Lärmminderungsmaßnahmen – nicht eingehalten werden konnte. Die Behörde sah in der Kappungsgrenze der neuen TA Lärm die Rechtsgrundlage für einen höheren Immissionsrichtwert gegeben, den sie bisher gründend auf der Annahme, dass die Grenze der nächsthöheren Gebietskategorie im Rahmen einer Mittelwertbildung nicht überschritten werden darf, verweigert hatte. Hiermit verbindet sich nicht die Notwendigkeit einer weiteren Sachverhaltsaufklärung.
2.2 Möglichkeiten einer Verlegung oder Abschirmung einzelner Emissionsquellen auf dem Betriebsgrundstück der Beigeladenen musste das Berufungsgericht ebenso wenig aufklären, wie es auch Fragen nach der Einhaltung des Standes der Technik zur Lärmminderung über die behördlichen Feststellungen hinaus nicht weiter nachgehen musste. Der insoweit erhobenen Aufklärungsrüge fehlt bereits die hinreichende Darlegung im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Wird eine Beschwerde auf die Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung gestützt, gehört es zur ordnungsgemäßen Bezeichnung dieses Verfahrensmangels, dass dargelegt wird, welche Beweise angetreten worden sind oder welche Ermittlungen sich dem Tatsachengericht hätten aufdrängen müssen, welches mutmaßliche Ergebnis eine Beweisaufnahme gehabt hätte und inwiefern dieses Ergebnis zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung hätte führen können. Das Berufungsgericht ging von einer seit langem bestehenden, erheblichen Vorbelastung des klägerischen Wohngrundstücks aus, die unabhängig von den in den 1990er Jahren erfolgten Kapazitäts- und Anlagenausweitungen – auch in Richtung des Grundstücks des Klägers – fortgewirkt hat. Fragen nach einer anderen Anordnung der Betriebsanlage im Sinne von Nr. 6.7 Abs. 2 Satz 3 TA Luft 1998 waren vom Kläger nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden und mussten sich dem Berufungsgericht auch nicht aufdrängen. Dass die Anlage der Beigeladenen den Stand der Lärmminderungstechnik einhält, ist Gegenstand gutachtlicher Stellungnahmen gewesen, die das Berufungsgericht zur Kenntnis genommen und ausgewertet hat. Sache des Klägers wäre es ggf. gewesen, durch Stellung von Beweisanträgen diesbezüglich weitere Ermittlungen auf den Weg zu bringen. Ausweislich der Sitzungsniederschrift sind derartige Anträge in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt worden.
Ob die neuen “Geräuschimmissionsmessungen” aus den Jahren 2002 und 2007 mit den Ergebnissen einer leichten Überschreitung des festgesetzten Immissionsrichtwertes den jeweiligen Messverfahren entsprechend zutreffend erstellt worden sind und inwieweit Messabschläge diese Ergebnisse relativieren, ist für die Rechtmäßigkeit des festgesetzten Zwischenwertes ohne Bedeutung und bezeichnet ggf. lediglich behördlichen Handlungsbedarf .
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladene hat sich durch Antragstellung am Verfahren beteiligt und damit ein Kostenrisiko übernommen. Es entspricht daher der Billigkeit, deren Kosten der unterliegenden Partei aufzuerlegen. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Sailer, Herbert, Guttenberger
Fundstellen