Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Aktenzeichen 1 Bf 158/02) |
Tenor
Bei der Beurteilung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat das Oberverwaltungsgericht auch solche nach materiellem Recht entscheidungserheblichen und von dem Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragenen Tatsachen zu berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind.
Tatbestand
I.
Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag. Das Verwaltungsgericht hat den Beitragsbescheid aufgehoben, weil mangels endgültiger Herstellung der Erschließungsanlage die Beitragspflicht noch nicht entstanden sei und eine isolierte Abrechnung der bereits hergestellten Teile im Wege der Kostenspaltung mangels eines hierauf gerichteten besonderen Ausspruchs nicht zulässig sei. Die Beklagte hat die Zulassung der Berufung beantragt und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils geltend gemacht. Sie hat hierfür auf einen Kostenspaltungsbeschluss verwiesen, den sie nach Erlass des angefochtenen Urteils gefasst hat. Das Oberverwaltungsgericht möchte diesen Kostenspaltungsbeschluss berücksichtigen und die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zulassen. Mit Blick auf abweichende Rechtsprechung und Literatur hat es sein Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 124b Satz 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung die folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Sind bei der Prüfung, ob der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegt, auch solche nach materiellem Recht entscheidungserheblichen und von dem Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragenen Tatsachen zu berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind.
Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Äußerung.
Entscheidungsgründe
II.
Der Senat beantwortet die Vorlagefrage in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht dahin, dass bei der Entscheidung über den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vom Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragene und nach materiellem Recht entscheidungserhebliche Tatsachen zu berücksichtigen sind, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind.
Der Zweck des Zulassungsverfahrens gebietet es, auch solche Tatsachen zu berücksichtigen. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO öffnet den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels. Der Zulassungsgrund hat ebenso wie der Zulassungsgrund besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) kein Vorbild im Recht der Revisionszulassung. Diese Zulassungsgründe sind auf das Berufungsverfahren zugeschnitten. Sie sollen Richtigkeit im Einzelfall gewährleisten; die maßgebliche Frage geht also dahin, ob die Rechtssache richtig entschieden worden ist. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO will demgemäß den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in den Fällen eröffnen, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist. Das gilt für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ebenso wie für die darauf bezogene Rechtsanwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der Tatsachengrundlage im Zeitpunkt seiner Entscheidung richtig entschieden hat. Zwar macht eine Änderung der Sachlage die Entscheidung des Verwaltungsgerichts bezogen auf dessen Entscheidungszeitpunkt nicht unrichtig. Entscheidend ist jedoch die im Ergebnis richtige Entscheidung über den Streitgegenstand. Im Lichte dieses Zwecks sind im Zulassungsverfahren alle vom Antragsteller dargelegten tatsächlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein könnten (Beschluss vom 14. Juni 2002 – BVerwG 7 AV 1.02 –). Dazu gehören auch solche Umstände, die das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigen konnte, weil sie erst nach seiner Entscheidung eingetreten sind. Die Berufung hat die Aufgabe einer zweiten Tatsacheninstanz. Das Rechtsmittel umfasst eine Überprüfung des angefochtenen Urteils in tatsächlicher Hinsicht. Das Berufungsgericht hat hierfür auch neue Tatsachen zu berücksichtigen, sofern nach materiellem Recht die neue Sachlage im Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblich ist.
Es ist unerheblich, ob der Rechtsmittelführer die neue Tatsache selbst geschaffen hat, um dem angegriffenen Urteil den Boden zu entziehen (anders VGH München Beschluss vom 21. Februar 2000 – 2 ZB 00.316 – juris). Auch insoweit entscheidet sich allein nach materiellem Recht, ob die selbst geschaffene Tatsache im anhängigen Verfahren berücksichtigt werden kann. Ermöglicht das materielle Recht der Behörde, den Mangel eines Verwaltungsakts nachträglich auch nach Klageerhebung zu beheben, ist eine auf Heilung des Mangels gerichtete Handlung als neue Tatsache auch dann zu berücksichtigen, wenn sie der zunächst erfolgreichen Klage den Boden entzieht. Es gibt keinen rechtfertigenden Grund, solche Tatsachen im Zulassungsverfahren unberücksichtigt zu lassen.
Dass eine behauptete nachträgliche Änderung der Sachlage unter Umständen nicht offensichtlich ist, ist entgegen der Ansicht des Klägers kein Grund dafür, solche Umstände entgegen dem Zweck des Zulassungsgrundes von vornherein nicht zu berücksichtigen. Ob es ausreicht, wenn der Rechtsmittelführer den Eintritt einer neuen Tatsache nur behauptet, welche Anforderungen an die Substantiierung der Tatsache und deren Glaubhaftmachung für das Zulassungsverfahren zu stellen sind, betrifft die weitere, hier nicht gestellte Frage, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils ausreichend dargelegt sind. Das Oberverwaltungsgericht ist hier davon ausgegangen, dass das Ergehen eines Kostenspaltungsbeschlusses nicht nur behauptet ist, sondern feststeht.
Es trifft schließlich zwar zu, dass mit der Einführung des Zulassungsverfahrens die Berufungsgerichte entlastet und die Gerichtsverfahren beschleunigt werden sollten. Entgegen der Auffassung des Klägers spricht dies aber nicht dagegen, im Zulassungsverfahren neue Tatsachen zu berücksichtigen. Deren Ausschluss beendete zwar das konkrete Verfahren schnell, schöbe aber die endgültige Herstellung des Rechtsfriedens hinaus und belastete Gerichte und Behörden mit zusätzlichen vermeidbaren Verfahren. Die Klärung der zwischen den Beteiligten eigentlich streitigen Fragen wird so verzögert. Der konkrete Fall zeigt dies deutlich. Der Kläger hat sich gegen seine Heranziehung zu dem streitigen Erschließungsbeitrag mit Gründen gewandt, die mit der Aufhebung des Bescheids wegen eines fehlenden Kostenspaltungsbeschlusses nicht endgültig erledigt sind.
Unterschriften
Gödel, Kley, Herbert, Krauß, Neumann
Fundstellen