Leitsatz (amtlich)
1. § 412 ZPO i.V.m. § 98 VwGO regeln nur die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens, nachdem das Gericht in seinem eigenen gerichtlichen Verfahren selbst ein (erstes) Gutachten nach Maßgabe der §§ 402 ff. ZPO eingeholt hat. Daher kann zur Beurteilung der Frage, ob das Gericht einen Beweisantrag auf Einholung eines ersten, eigenen Sachverständigengutachtens ablehnen darf, nicht § 412 ZPO herangezogen werden.
2. Will das Tatsachengericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) ein in einem anderen gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Verfahren eingeholtes Sachverständigengutachten verwerten, ist ihm zum einen der Weg über eine sog. Verwertungsanordnung gemäß § 411a ZPO i.V.m. § 98 VwGO eröffnet; für diesen Fall ist auch § 412 ZPO anwendbar.
3. Möglich ist zum anderen, das anderweitig eingeholte Sachverständigengutachten im Wege des Freibeweises als Urkundsbeweis in das eigene Verfahren einzuführen und unter Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten zu verwerten, die diese nach den Regeln des Sachverständigenbeweises hätten.
4. In beiden Fällen kann das Gericht den Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf Einholung eines (ersten, eigenen) gerichtlichen Sachverständigengutachtens ablehnen, wenn das Vorbringen des Verfahrensbeteiligten gegen das in dem anderen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten nach den Grundsätzen der richterlichen Überzeugungsbildung und freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 286 ZPO) nicht geeignet ist, den fachlichen Inhalt dieses Sachverständigengutachtens ernsthaft zu erschüttern. Hierfür gelten die allgemeinen Maßstäbe, die auch sonst an Beweisanträge und -anregungen zu stellen sind.
5. Die Beseitigung eines wesentlichen Mangels der Disziplinarklageschrift (§ 54 Abs. 3 LDG NRW) - selbst im Berufungsverfahren - ist auch dann möglich, wenn die (ursprüngliche, mangelhafte) Disziplinarklageschrift aufgrund einer gerichtlichen Fristsetzung für den Abschluss des behördlichen Disziplinarverfahrens eingereicht wurde (§ 62 Abs. 1 LDG NRW).
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 08.05.2019; Aktenzeichen 3d A 288/17.O) |
VG Münster (Urteil vom 16.01.2017; Aktenzeichen 13 K 2564/15.O) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Mai 2019 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
1. Der 1967 geborene Beklagte steht seit 1988 im Dienst der klagenden Stadt und wurde zuletzt im Jahr 2000 zum Stadtoberinspektor (Besoldungsgruppe A 10) befördert. Zuletzt war der Beklagte für die Gewährung von Sozialleistungen zuständig. Das seit Mai 2018 hierfür genutzte Computerprogramm eröffnet dem Bearbeiter die Möglichkeit, fallrelevante Eingaben abzuspeichern, in einem sog. Prüflauf den elektronisch ermittelten Auszahlungsbetrag zu überprüfen, einzelne Zahlungen von der Auszahlung auszuschließen oder die Freigabe zur Auszahlung zu erteilen und den entsprechenden Bewilligungsbescheid auszudrucken.
Rz. 2
Im Jahr 2011 wurden wegen auffällig hoher Ausgaben im Asylbereich zunächst eine stichprobenartige Prüfung durch den Fachbereichsleiter und sodann eine genauere Überprüfung sämtlicher Auszahlungsläufe für den Zeitraum von Januar 2010 bis August 2011 durchgeführt; diese ergab, dass der Beklagte in großem Umfang nicht hinreichend begründete einmalige Beihilfen bewilligt hatte.
Rz. 3
Im August 2011 leitete die Klägerin ein Disziplinarverfahren ein. Als Ergebnis ihrer gleichzeitig eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen warf die Staatsanwaltschaft dem Beklagten in ihrer Anklageschrift vom 16. Januar 2012 vor, dass dieser in der Zeit vom 28. Dezember 2007 bis 5. August 2011 durch Bewilligung von nicht hinreichend begründeten einmaligen Beihilfen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz insgesamt rund 410 000 € veruntreut habe. Das Strafverfahren wurde vom Landgericht im März 2015 gemäß § 153a Abs. 2 StPO eingestellt, nachdem der Beklagte eine Geldauflage in Höhe von 3 000 € gezahlt hatte.
Rz. 4
Mit Beschluss vom 12. Oktober 2015 setzte das Verwaltungsgericht der Klägerin auf Antrag des Beklagten eine Frist zur Entscheidung über den Abschluss des Disziplinarverfahrens bis zum 15. Dezember 2015. Auf der Grundlage der Ergebnisse des Ermittlungsführers vom 1. Oktober 2015 reichte die Klägerin am 15. Dezember 2015 beim Verwaltungsgericht mit einem unter dem Briefkopf der beauftragten Anwaltskanzlei verfassten und von ihrem Prozessbevollmächtigten unterschriebenen Schriftsatz Disziplinarklage ein. Das Verwaltungsgericht hat, nachdem es das Disziplinarverfahren auf drei näher bezeichnete Asylfälle beschränkt und die übrigen Vorwürfe ausgeschieden hat, den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt.
Rz. 5
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin eine von ihrer Bürgermeisterin unterzeichnete inhaltsgleiche Disziplinarklageschrift vorgelegt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Disziplinarklage sei wirksam erhoben. Der Mangel der zuvor von einer hierzu nicht befugten Person unterzeichneten Klageschrift sei durch die nunmehr vorgelegte ordnungsgemäße Disziplinarklageschrift geheilt worden. Der Beklagte habe in den Jahren 2008 bis 2011 in den drei noch streitgegenständlichen Leistungsfällen in insgesamt 232 Einzelfällen einmalige Beihilfen oder Abschlagzahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von mehr als 100 000 € zur Auszahlung gebracht, ohne in jedem einzelnen Vorgang einen Antrag aufzunehmen, die Prüfung der sachlichen Voraussetzungen der Leistungsbewilligung zu dokumentieren und einen Bewilligungsbescheid zu erlassen sowie ohne Leistungen auf Drittkonten zu dokumentieren. Dadurch habe er gegen seine Pflicht zu vollem persönlichen Einsatz im Beruf (§ 57 Satz 1 LBG NRW, § 34 Satz 1 BeamtStG), gegen seine Wohlverhaltenspflicht (§ 34 Satz 3 BeamtStG) und seine Gehorsamspflicht (§ 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG) verstoßen. Der Beklagte habe vorsätzlich und schuldhaft gehandelt; Letzteres sei weder wegen seiner Alkoholabhängigkeit noch wegen der Entwicklung einer depressiven Symptomatik ausgeschlossen. Dies ergebe sich maßgeblich aus dem im Strafverfahren erstatteten Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. B. und gelte auch mit Blick auf mehrere vom Beklagten vorgelegte ärztliche Bescheinigungen des Dr. S. Bei Würdigung aller be- und entlastenden Umstände sei die Höchstmaßnahme die angezeigte und angemessene Disziplinarmaßnahme.
Rz. 6
2. Die auf sämtliche Revisionszulassungsgründe gemäß § 67 Satz 1 LDG NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde ist nicht begründet.
Rz. 7
a) Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
ob die Frist zum gerichtlich angeordneten Abschluss eines Disziplinarverfahrens nach § 62 Abs. 1 LDG NRW bzw. § 62 Abs. 1 BDG auch dann gewahrt ist, wenn der Dienstherr innerhalb der gerichtlich gesetzten Frist nur eine mit Mängeln behaftete Abschlussentscheidung vorlegt und die Mängel dieser Abschlussentscheidung erst nach Ablauf der Frist behoben werden,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 67 Satz 1 LDG NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), weil sie auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens aufgrund der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung - im Sinne des Berufungsgerichts - beantwortet werden kann.
Rz. 8
In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass eine Disziplinarklageschrift an einem wesentlichen Mangel i.S.v. § 54 Abs. 1 LDG NRW leidet, wenn sie von einer unzuständigen Behörde oder von einem Amtswalter erhoben wird, der gemäß § 32 Abs. 5 LDG NRW oder nach der organisationsrechtlichen Vertretungsregelung hierzu nicht befugt ist (BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2013 - 2 C 3.12 - BVerwGE 146, 98 Rn. 58 ff.). Dasselbe gilt, wenn die Disziplinarklageschrift von einem von dem Dienstherrn bevollmächtigten Rechtsanwalt gezeichnet ist (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2017 - 2 C 12.17 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 53 Rn. 29). In diesen Fällen eröffnet § 54 Abs. 3 LDG NRW aber die Möglichkeit, diesen wesentlichen Mangel des Verfahrens durch Vorlage einer von dem zuständigen Amtswalter unterzeichneten Disziplinarklage zu heilen. Dies kann gemäß § 65 Abs. 1 LDG NRW, der u.a. auf § 54 LDG NRW verweist, auch noch im Berufungsverfahren geschehen, sofern schutzwürdige Belange des Beamten hierdurch nicht beeinträchtigt werden (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2017 - 2 C 12.17 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 53 Rn. 30 und Beschluss vom 10. Juli 2014 - 2 B 54.13 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 26 Rn. 7).
Rz. 9
Diese Heilungsmöglichkeit gilt auch in der hier gegebenen Fallkonstellation, dass der zuständigen Behörde gemäß § 62 Abs. 1 LDG NRW vom Verwaltungsgericht eine Frist zum Abschluss des behördlichen Disziplinarverfahrens gesetzt wurde. Indem sie die angemahnte Abschlussentscheidung getroffen und fristgerecht Disziplinarklage erhoben hat, ist die Klägerin der Fristsetzung nachgekommen. Die ansonsten drohende Einstellung des Verfahrens durch das Verwaltungsgericht (§ 62 Abs. 3 LDG NRW) war damit abgewendet. Mehr hatte das Verwaltungsgericht auch nicht zu prüfen (vgl. Weiß, in: GKÖD, Bd. II, Stand 4/2018, M § 62 Rn. 50). Die gesetzlichen Regelungen geben keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass für eine nach Fristsetzung gemäß § 62 Abs. 1 LDG NRW eingereichte Disziplinarklageschrift andere, strengere Voraussetzungen gelten sollten als für den Normalfall einer ohne eine solche Fristsetzung eingereichten Klage. Wie bei Letzterer bleibt es auch im Fall eines (erst) nach gerichtlicher Fristsetzung abgeschlossenen behördlichen Disziplinarverfahrens dabei, dass wesentliche Mängel des behördlichen Disziplinarverfahrens im gerichtlichen Verfahren geheilt werden können, auch noch in der Berufungsinstanz, sofern schutzwürdige Belange des Beamten hierdurch nicht beeinträchtigt werden. Letzteres hat das Berufungsgericht zutreffend verneint, weil die im Berufungsverfahren vorgelegte Klageschrift mit der ursprünglichen Klageschrift inhaltsgleich ist, mithin keine neuen belastenden Tatsachen und Beweismittel enthält.
Rz. 10
Der Hinweis der Beschwerde, dass das Landesdisziplinargesetz - anders als § 45 VwVfG NRW - nicht von "Heilung", sondern lediglich von der Behebbarkeit der Mängel spreche (richtig: von ihrer "Beseitigung", vgl. § 54 Abs. 3 Satz 1 und 3 LDG NRW), ist unbehelflich. Auch die "Heilung" von Verfahrensmängeln gemäß § 45 Abs. 1 VwVfG NRW - sie werden dort für "unbeachtlich" erklärt - ist nichts anderes als deren Beseitigung, nämlich durch eine nachträgliche Antragstellung, eine nachträgliche Begründung, eine Nachholung einer Anhörung oder von Mitwirkungsakten (vgl. Nr. 1 bis 5 der Vorschrift). Entgegen der Ansicht der Beschwerde sind auch die Rechtsfolgen der Beseitigung des behördlichen Verfahrensmangels oder der Klageschrift geregelt: Wird der Mangel innerhalb der Frist nicht beseitigt, ist das Verfahren durch gerichtlichen Beschluss einzustellen (§ 54 Abs. 3 Satz 3 LDG NRW); wird er dagegen beseitigt, liegt kein Verfahrensmangel (mehr) vor und es ergeht eine Sachentscheidung.
Rz. 11
b) Die von der Beschwerde behauptete Divergenz (§ 67 Satz 1 LDG NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegt ebenfalls nicht vor.
Rz. 12
Die Beschwerde rügt, das Oberverwaltungsgericht habe den von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 15. November 2018 - 2 C 60.17 - BVerwGE 163, 356) abweichenden Rechtssatz aufgestellt, der Dienstherr brauche sich die Kenntnis eines dienstvorgesetzten Beamten von dem pflichtwidrigen Verhalten des angeschuldigten Beamten nicht zurechnen zu lassen; auf die Notwendigkeit zu einem abgestuften disziplinarrechtlichen Vorgehen könne sich ein nachgeordneter Beamter nicht berufen, wenn dem Dienstherrn das dienstwidrige Verhalten unbekannt geblieben sei.
Rz. 13
Die Rüge greift aus einem doppelten Grunde nicht durch. Zum einen geht sie von einem Sachverhalt aus, den das Berufungsgericht nicht festgestellt hat. Ihr liegt die Annahme zugrunde, der (unmittelbare) dienstvorgesetzte Beamte des Beklagten - der Leiter des Fachbereichs Soziales - habe (positive) Kenntnis von den Dienstpflichtverletzungen des Beklagten gehabt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die von der Beschwerde nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen sind, bestehen aber gerade keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Vorgesetzten die Arbeitsweise des Beklagten bekannt gewesen ist (UA S. 33 oben). Daran wäre der Senat in dem angestrebten Revisionsverfahren gebunden. Zum anderen wäre die behauptete Divergenz nicht entscheidungserheblich. Denn die von der Beschwerde angeführte Aussage stammt aus einer Passage der Entscheidungsgründe (UA S. 34), in der das Berufungsgericht nur hilfsweise hypothetische Erwägung anführt (UA S. 33 unten: "Aber auch wenn der Vorgesetzte... Kenntnis gehabt haben sollte...").
Rz. 14
c) Schließlich liegen auch die von der Beschwerde gerügten Verfahrensmängel nicht vor (§ 67 Satz 1 LDG NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Rz. 15
aa) Zu den nachfolgenden Rügen eines Verstoßes gegen die gerichtliche Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 57 LDG NRW i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO) ist - vorab für alle Rügen einheitlich - festzuhalten, dass der Beklagte zu keinem der nachfolgenden Punkte vor dem Oberverwaltungsgericht einen Beweisantrag gestellt hat. Zur ordnungsgemäßen Rüge einer mangelnden Sachaufklärung gehört aber (u.a.) die Darlegung, dass und in welcher Weise der Beteiligte selbst bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt hat oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von Amts wegen hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1969 - 6 C 52.65 - BVerwGE 31, 212 ≪217 f.≫; Beschlüsse vom 6. März 1995 - 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 S. 8, vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14 f. = NJW 1997, 3328 und vom 18. Juni 1998 - 8 B 56.98 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 154 S. 475).
Rz. 16
Eine derartige substanziierte Darlegung enthält die Beschwerdebegründung nicht. Insbesondere ist zu allen nachfolgenden Einzelpunkten nicht dargetan und auch sonst nicht ersichtlich, dass sich dem Berufungsgericht die Notwendigkeit einer solchen Aufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen.
Rz. 17
bb) Zu den einzelnen Verfahrensrügen ist darüber hinaus noch anzuführen:
Rz. 18
(1) Das Berufungsgericht hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 57 LDG NRW i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO) nicht dadurch verletzt, dass es die fachpsychiatrische Stellungnahme des Dr. S. vom 24. Februar 2017 nicht zum Anlass für eine (eigene, weitere) Beweiserhebung genommen hat (Beschwerdebegründung unter III. 1. a).
Rz. 19
Das Berufungsgericht hat die angeführte Stellungnahme von Dr. S. dahingehend gewürdigt (UA S. 23 f.), dass in dieser lediglich eine "Vermutung" - so heißt es dort in der Tat - geäußert werde (nämlich dass der Beklagte aufgrund seiner Suchtproblematik und depressiven Symptomatik kaum in der Lage sei, Tätigkeiten korrekt auszuführen und richtige Entscheidungen zu treffen); es hat weiter ausgeführt, dass Letzteres gerade keine Schuldunfähigkeit belege und dass diese Bescheinigung deshalb nicht geeignet sei, die Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. in dessen im vorangegangenen strafgerichtlichen Verfahren erstatteten Gutachten zu erschüttern. In dem Gutachten hatte Dr. B. bereits frühere Bescheinigungen desselben Arztes aus dem Jahr 2012 als die Schuld des Beklagten nicht ausschließend bewertet. Das Berufungsgericht hat die wesentlichen Aussagen des Gutachtens von Dr. B. nochmals zusammenfassend dargestellt, gewürdigt, sich ihm angeschlossen und mit der obigen Begründung in der Stellungnahme von Dr. S. keinen Anlass für eine eigene Beweiserhebung gesehen.
Rz. 20
Dies ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 21
(aa) Allerdings ist das Berufungsgericht nicht den seit dem Inkrafttreten des 1. Justizmodernisierungsgesetzes vom 24. August 2004 (BGBl I S. 2198) durch die Einfügung des § 411a ZPO i.V.m. § 98 VwGO eröffneten Weg gegangen, die Einholung eines eigenen schriftlichen Sachverständigengutachtens durch die Verwertung des in einem anderen gerichtlichen Verfahren (hier: im strafgerichtlichen Verfahren) eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Dr. B. zu ersetzen (vgl. zu § 411a ZPO: Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. II, Stand: 36. Erg.Lfg. Februar 2019, § 98 Rn. 173a; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 98 Rn. 34.). Hierfür ist eine sog. Verwertungsanordnung erforderlich, die - schon aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit - zweckmäßigerweise als förmlicher Beweisbeschluss ergehen sollte, doch billigt die zivilgerichtliche Rechtsprechung offenbar auch konkludent getroffene Anordnungen (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 14. November 2017 - VIII ZR 101/17 - NJW 2018, 1171 Rn. 19, vom 27. April 2016 - XII ZB 611/15 - NJW-RR 2016, 833 Rn. 15; Huber, in: Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 411a Rn. 13; Greger, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 411a ZPO Rn. 4; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 411a ZPO Rn. 3). In jedem Fall ist den Beteiligten vor der Anordnung (oder der Verwertung) rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 2011 - XII ZB 6/11 - FamRZ 2012, 293 Rn. 24 m.w.N.). Entscheidend ist, dass die Beteiligten die Verfahrensrechte wahrnehmen können, die ihnen bei Einholung eines neuen Gutachtens zustehen würden, also den Gutachter gemäß § 406 ZPO abzulehnen oder seine Anhörung zur mündlichen Erläuterung gemäß § 411 Abs. 4 ZPO zu beantragen. Bei einem Vorgehen gemäß § 411a ZPO richtet sich die Entscheidung über die Einholung eines neuen Gutachtens nach § 412 ZPO.
Rz. 22
Das Berufungsgericht ist - wie in der Praxis der Verwaltungsgerichte auch nach Einführung von § 411a ZPO offenbar nach wie vor überwiegend üblich - diesen Weg im Streitfall nicht gegangen. Dass § 411a ZPO in der Praxis der Tatsachengerichte bislang offenbar geringe Bedeutung gewonnen hat, mag u.a. darauf beruhen, dass im vom Amtsermittlungsgrundsatz gesteuerten Verwaltungsprozess sich Sachverständigengutachten oftmals bereits in den von den Verwaltungsgerichten regelmäßig beigezogenen Behördenakten befinden oder - so auch hier - von behördlicher Seite vorgelegt werden.
Rz. 23
Für die Beurteilung der Frage, ob das Berufungsgericht ein neues Gutachten (durch denselben oder einen anderen Sachverständigen) hätte einholen müssen, kann daher nicht § 412 ZPO i.V.m. § 98 VwGO herangezogen werden. Denn § 412 ZPO regelt nur die Einholung eines weiteren Gutachtens, nachdem das Gericht in seinem eigenen gerichtlichen Verfahren selbst ein (erstes) Gutachten nach Maßgabe der §§ 402 ff. ZPO eingeholt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. Januar 1990 - 2 BvR 760/88 - InfAuslR 1990, 161 ≪164 f.≫ und vom 30. November 1993 - 2 BvR 594/93 - BayVBl 1994, 143 ≪144≫); daneben ist § 412 ZPO nunmehr auch bei einem Vorgehen nach § 411a ZPO anwendbar. An der vom Bundesverwaltungsgericht - so auch vom beschließenden Senat bis in jüngste Zeit - in ständiger Rechtsprechung auch für die vorliegende Fallkonstellation verwandten Begründung, es stehe gemäß § 98 VwGO i.V.m. § 404 Abs. 1 und § 412 ZPO im Ermessen des Tatsachengerichts, ob es ein weiteres (zur Verdeutlichung: erstes eigenes) Sachverständigengutachten einholt, kann daher, soweit dafür § 412 ZPO angeführt wurde, nicht mehr festgehalten werden; insoweit bedarf es einer Modifizierung.
Rz. 24
(bb) Der beschließende Senat hat - allerdings ohne Verweis auf § 411a ZPO - bereits ausgesprochen, dass das Tatsachengericht sich auch auf ein nicht von ihm selbst in Auftrag gegebenes, sondern aus einem anderen Verfahren übernommenes Sachverständigengutachten stützen kann. Ein derartiges Gutachten kann in gleicher Weise wie ein vom Gericht selbst eingeholtes Gutachten verwertet werden, wenn es nach den Regeln des Sachverständigenbeweises unter Wahrung der prozessualen Rechte der Beteiligten in das Verfahren eingeführt wird. Hierfür ist zumindest die rechtzeitige Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten erforderlich, dass es die in Rede stehende Tatsachenfrage (Beweisfrage) aufgrund des anderweitig erstellten Gutachtens beantworten will (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Mai 2009 - 2 B 3.09 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 5 Rn. 8 und vom 1. April 2011 - 2 B 84.10 - juris Rn. 5, jeweils m.w.N.).
Rz. 25
Der Sache nach entspricht dies der oben dargestellten Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 411a ZPO, weil auch hier entscheidend auf die Wahrung der prozessualen Rechte der Verfahrensbeteiligten abgestellt wird. Zu ergänzen ist, dass es einer ausdrücklichen Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten gleichsteht und sich eine solche daher erübrigen kann, wenn es nach dem bisherigen Gang des Verfahrens offensichtlich ist oder ernsthaft in Betracht kommt, dass das Gericht das anderweitig eingeholte Gutachten verwerten wird, z.B. weil es bereits von der Vorinstanz herangezogen wurde, sodass offenkundig Anlass für die Annahme besteht, dass es auch im weiteren Instanzenweg Bedeutung erlangen kann.
Rz. 26
(cc) Im Übrigen gelten in beiden Fällen - bei einer Verwertungsanordnung gemäß § 411a ZPO wie bei einem Vorgehen nach (bb) - für die Befugnis des Gerichts, den Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf Einholung eines (ersten, eigenen) gerichtlichen Sachverständigengutachtens abzulehnen, die allgemeinen Grundsätze des Beweisrechts.
Rz. 27
Das aus dem anderen gerichtlichen Verfahren stammende Sachverständigengutachten ist - wenn der Weg über § 411a ZPO (aa) nicht gegangen wird - der Sache nach ein im Wege des Freibeweises in das eigene gerichtliche Verfahren eingeführter Urkundsbeweis (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. Januar 1990 - 2 BvR 760/88 - InfAuslR 1990, 161 ≪164≫ und vom 30. November 1993 - 2 BvR 594/93 - BayVBl 1994, 143 ≪144≫). Dem Gericht liegt lediglich ein von dem Sachverständigen als Privatperson erstelltes und unterzeichnetes Schriftstück - sei es im Original, sei es als Ablichtung - vor, mithin eine Privaturkunde i.S.v. § 416 ZPO. Dieser kommt nur eine beschränkte (formelle) Beweiskraft zu, nämlich dass der Sachverständige in dem anderen gerichtlichen Verfahren diese schriftliche fachliche Aussage zu dem Beweisthema abgegeben hat. Die materielle Beweiskraft dieser Urkunde, ihre inhaltliche Aussage, unterliegt dagegen den Grundsätzen der richterlichen Überzeugungsbildung und der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 286 ZPO). Deshalb kann auch in diesem Fall ein auf die Einholung eines (ersten, eigenen) gerichtlichen Sachverständigengutachtens gerichteter Beweisantrag abgelehnt werden und braucht einer dahingehenden Beweisanregung nicht gefolgt zu werden, wenn das Vorbringen des Verfahrensbeteiligten nicht geeignet ist, den fachlichen Inhalt des urkundlich vorliegenden Gutachtens ernsthaft zu erschüttern. Hierfür gelten die allgemeinen Maßstäbe, die auch sonst an Beweisanträge und -anregungen zu stellen sind.
Rz. 28
Inhalt eines Sachverständigengutachtens sind regelmäßig die Ausführungen des Sachverständigen zu den sich in dem Streitfall stellenden und in dem Beweisthema formulierten Fragen des Gerichts, die nur aufgrund eines besonderen Fachwissens (z.B. medizinischer oder naturwissenschaftlicher Art) zu beantworten sind und über das das Gericht selbst nicht verfügt (zur erforderlichen Einholung medizinischen Sachverstands vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2014 - 2 C 22.13 - BVerwGE 150, 1 Rn. 18; Beschlüsse vom 24. Juli 2014 - 2 B 85.13 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 382 Rn. 5 und vom 28. Februar 2017 - 2 B 85.16 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 49 Rn. 8, jeweils m.w.N.). Will ein Verfahrensbeteiligter die inhaltliche Aussage eines solchen Gutachtens angreifen, bedarf es - wie bei jedem Beweisantritt oder jeder Beweisanregung - eines substanziierten Vortrags, der geeignet ist, die inhaltliche Aussage derart in Zweifel zu ziehen, dass diese ernsthaft erschüttert wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 1992 - 4 B 1.92 u.a. - Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 89 S. 97) und das Tatsachengericht dem deshalb im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht nachkommen muss. Dies setzt - wiederum wie auch sonst im Beweisrecht - voraus, dass der Vortrag des Verfahrensbeteiligten eine hinreichend konkrete Beweisbehauptung enthält, d.h. greifbare Anhaltspunkte (sog. Anknüpfungstatsachen) bezeichnet, an denen eine Beweiserhebung ansetzen kann (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 6. Januar 2011 - 4 B 51.10 - BRS 78 Nr. 190 Rn. 14 und vom 25. Januar 2016 - 2 B 34.14 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 75 Rn. 39 m.w.N.). Fehlt es hieran, etwa weil das Vorbringen im Bereich der Vermutung und spekulativ bleibt oder weil eine Behauptung "ins Blaue hinein" aufgestellt oder ohne Auseinandersetzung mit plausibler oder (wie hier) sachverständiger Gegenargumentation aufrechterhalten wird (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 23. Dezember 2015 - 2 B 40.14 - Buchholz 449 § 3 SG Nr. 82 Rn. 49 m.w.N.), kann dem Tatsachengericht schon deswegen kein Verfahrensfehler in Gestalt eines Verstoßes gegen seine Aufklärungspflicht vorgeworfen werden.
Rz. 29
(dd) Ausgehend von diesen Maßstäben ist das Vorgehen des Berufungsgerichts verfahrensrechtlich im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Rz. 30
Das Berufungsgericht hat das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. im Wege des Freibeweises als Urkundsbeweis gemäß § 98 VwGO i.V.m. §§ 416 ff. ZPO verwertet. Dies ist - wie dargelegt - verfahrensrechtlich unbedenklich, weil das Gutachten ordnungsgemäß in das disziplinargerichtliche Verfahren eingeführt worden ist und die Verfahrensbeteiligten in der Lage waren, ihre prozessualen Rechte und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör wahrzunehmen. Zwar fehlt es an einer ausdrücklichen vorherigen Mitteilung des Berufungsgerichts an die Verfahrensbeteiligten, es sei gewillt, das in Rede stehende Gutachten zu Beweiszwecken heranzuziehen. Dies war im Streitfall aber entbehrlich. Das Gutachten von Dr. B. war bereits in der ursprünglichen Disziplinarklageschrift vom 15. Dezember 2015 (ebenso in der späteren inhaltsgleichen neuen Disziplinarklageschrift) in Bezug genommen (dort S. 122) und ihr als Anlage beigefügt. Es war bereits vom Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Urteil verwertet worden. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht gehörte es zu den Unterlagen, die Grundlage der dortigen mündlichen Verhandlung waren. Hiernach war offensichtlich, dass das Berufungsgericht für die Beurteilung der Frage einer verminderten Schuldfähigkeit des Beklagten (auch) dieses Gutachten heranziehen werde.
Rz. 31
Auch die Begründung des Berufungsgerichts, weshalb die vorgelegte weitere Stellungnahme des Dr. S. keinen tragfähigen Ansatzpunkt für eine weitere Sachaufklärung gebe (UA S. 23 f.), ist nicht zu beanstanden. Denn in dieser wird lediglich eine "Vermutung" geäußert (nämlich dass der Beklagte aufgrund seiner Suchtproblematik und depressiven Symptomatik kaum in der Lage sei, Tätigkeiten korrekt auszuführen und richtige Entscheidungen zu treffen); eine derart spekulative Äußerung musste das Berufungsgericht nicht zu weiteren Ermittlungen veranlassen. Auch die weitere Begründung, dass das vermutete Defizit gerade keine Schuldunfähigkeit belege und dass diese Bescheinigung deshalb nicht geeignet sei, die Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. in dessen im vorangegangenen strafgerichtlichen Verfahren erstatteten Gutachten zu erschüttern, trägt das Absehen von weiteren Ermittlungen in dieser Richtung. Dies gilt umso mehr angesichts des bereits erwähnten Umstandes, dass der Prozessbevollmächtigte des Beklagten - im erst- wie im zweitinstanzlichen Verfahren - keinen (förmlichen) Beweisantrag gestellt hat, mit dem er auf die nunmehr gerügte unterbliebene (weitere) Beweiserhebung hätte hinwirken können.
Rz. 32
(2) Ein weiterer Verstoß gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) sowie zur fehlerfreien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegt nicht im Unterlassen der Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens zu der Behauptung, dass der Beklagte zu einer ordnungsgemäßen Aktenführung gesundheitlich nicht mehr in der Lage gewesen sei. Die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht habe, indem es sowohl hinsichtlich der Frage der Schuld als auch der des Vorsatzes auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. verweise, verkannt, dass das Strafverfahren, in dem es eingeholt worden sei, nicht den Vorwurf der unzureichenden Aktenführung, sondern den der Veruntreuung zum Gegenstand gehabt habe (Beschwerdebegründung III.1 b).
Rz. 33
Diese Kritik geht fehl. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. ist zwar in einem Strafverfahren mit dem strafrechtlichen Vorwurf der Untreue (§ 266 StGB) erstellt worden. Gegenstand war indes ein und derselbe Lebenssachverhalt, der nunmehr Gegenstand des gerichtlichen Disziplinarverfahrens ist (wenngleich dort nur noch in beschränktem Umfang). Zu diesem Lebenssachverhalt gehören untrennbar sowohl die (mangels ordnungsgemäßer Aktenführung nicht nachvollziehbaren) Auszahlungen des Beklagten, die zu der Anklage wegen Untreue führten, als auch eben diese (disziplinarrechtlich zu ahnende) gravierend mangelhafte Aktenführung. Dies verkennt die Beschwerde. Der Sachverständige Dr. B. hat sich mit diesem einheitlichen Lebenssachverhalt befasst. Sein Gutachten vom 15. Oktober 2014 äußert sich aus fachmedizinischer Sicht dazu, ob beim Beklagten Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit und Einsichtsfähigkeit in die Rechtswidrigkeit seines Tuns vorliegen. Einen Rechtsverstoß in diesem Sinne stellt aber auch der Verstoß des Beklagten gegen seine Dienstpflichten dar (§ 57 Satz 1 LBG NRW, § 34 Satz 1 und 3, § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG). Die Ausführungen des Gutachters lassen auch nicht ansatzweise erkennen, dass aus medizinischer Sicht Unterschiede in der straf- und disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des Klägers bestehen könnten.
Rz. 34
(3) Ein Verstoß erneut gegen die Pflicht zur fehlerfreien richterlichen Überzeugungsbildung liegt nicht darin (Beschwerdebegründung III.1.c), dass das Oberverwaltungsgericht zur Frage des Vorliegens einer erheblichen verminderten Schuldfähigkeit i.S.v. § 21 StGB "auf die diesbezüglichen zutreffenden Ausführungen" des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen hat (UA S. 29).
Rz. 35
Zwar ist richtig, dass auch das Berufungsgericht als zweite Tatsacheninstanz wegen der ihm übertragenen vollumfänglichen Disziplinarbefugnis verpflichtet ist, sich selbst eine eigene Überzeugung vom Nachweis des Dienstvergehens und der bemessungsrelevanten Umstände zu bilden. Ein Verweis auf die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts genügt nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2013 - 2 C 3.12 - BVerwGE 146, 98 Rn. 24). Bezugnahmen von begrenztem Umfang auf Tatsachenfeststellungen oder rechtliche Ausführungen der Vorinstanz, erst Recht auf bindende strafgerichtliche Feststellungen, sind dabei allerdings unschädlich. Revisionsrechtlich zu beanstanden ist dagegen, wenn sich das Berufungsgericht darauf beschränkt, Vorbringen im Tatbestand des Berufungsurteils kursorisch zu erwähnen und in den Entscheidungsgründen auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils zu verweisen, obwohl gerade dessen Erwägungen angegriffen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Oktober 2011 - 2 B 86.11 - juris Rn. 9 f.).
Rz. 36
Diesen Grundsätzen wird das Urteil des Berufungsgerichts gerecht. Die von der Beschwerde kritisierte teilweise (begrenzte) Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts belegt nicht, dass das Berufungsgericht es im vorstehenden Sinne versäumt hätte, sich eine eigene richterliche Überzeugung zu bilden. Mit der beanstandeten Bezugnahme macht sich das Oberverwaltungsgericht Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils im Umfang von zwei Seiten (dort UA S. 38 Mitte bis S. 40) zu eigen; es handelt sich also um eine lediglich punktuelle Bezugnahme. Diese ist auch deshalb unschädlich, weil auch die eigenen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zum Vorsatz und zur Schuldfähigkeit des Beklagten mit in den Blick zu nehmen sind, einschließlich der dortigen Würdigung des Sachverständigengutachtens von Dr. B. und der Stellungnahmen von Dr. S. (UA S. 22 unten bis 24 oben). Angesichts dessen - und der sorgsamen Würdigung aller be- und entlastenden Aspekte der Maßnahmebemessung - kann dem Oberverwaltungsgericht nicht abgesprochen werden, dass es mit seinem 39 Seiten umfassenden Urteil der Pflicht zur eigenen richterlichen Überzeugungsbildung nachgekommen ist.
Rz. 37
(4) Schließlich liegt ein Verfahrensmangel, wiederum in Gestalt eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung und zur fehlerfreien richterlichen Überzeugungsbildung, nicht darin, dass das Berufungsgericht die Aussage in der Stellungnahme des Dr. S. vom 24. Februar 2017 nicht gewürdigt habe, wonach sich die Symptomatik des Beklagten "unter der Behandlung deutlich gebessert" habe (so Beschwerdebegründung III.2.).
Rz. 38
Richtig ist, dass es zu den nach § 13 LDG NRW bemessungsrelevanten - und für den Beamten sprechenden - Umständen gehört, wenn dieser sich im Hinblick auf sein Dienstvergehen einer Therapie unterzogen hat; insbesondere kann eine nachträgliche erfolgreiche Therapiemaßnahme maßnahmemildernd zu berücksichtigen sein, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine günstige Zukunftsprognose gestellt werden kann (BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2017 - 2 B 5.17 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 43 Rn. 33 m.w.N.). Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht jedoch gerecht geworden. Es hat die erwähnte Stellungnahme - wie bereits erwähnt - in anderem Zusammenhang (Vermutung der alkoholbedingten Unfähigkeit zu korrekter Dienstausübung) erwähnt und gewürdigt; daher verbietet sich die Annahme, dass es die darin ebenfalls bescheinigte behandlungsbedingte Besserung nicht zur Kenntnis genommen habe. Vielmehr ist auch dies vom Berufungsgericht gewürdigt worden, indem es die Behauptung des Beklagten, er habe seine Probleme zwischenzeitlich überwunden (UA S. 30), für nicht ausreichend angesehen hat, um unter dem Gesichtspunkt einer negativen Lebensphase zu einer Milderung der Disziplinarmaßnahme zu gelangen. Dies hält sich im den Disziplinartatsachengerichten bei der Maßnahmebemessung zukommenden Wertungsrahmen.
Rz. 39
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Werts des Streitgegenstands bedarf es nicht, weil für das Beschwerdeverfahren Festgebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 LDG NRW erhoben werden.
Fundstellen
Haufe-Index 13935368 |
DÖV 2020, 946 |
JZ 2020, 632 |
JZ 2020, 639 |
IÖD 2020, 192 |