Verfahrensgang
OVG der Freien Hansestadt Bremen (Urteil vom 04.06.2019; Aktenzeichen 1 D 30/18) |
Tenor
Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 2019 ergangene Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Der Antragsteller zu 1 wendet sich gegen einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan, mit dem ein Nachbargrundstück überplant wird. Auf diesem Grundstück soll ein Gebäude mit Service-Wohnungen und angegliederter Pflegeeinrichtung für ältere Bewohner sowie mit gewerblich genutzten Flächen im Erdgeschoss errichtet werden. Der vorhabenbezogene Bebauungsplan ändert den vorhandenen Bebauungsplan, der auch das Grundstück des Antragstellers zu 1 umfasst. Das Oberverwaltungsgericht hat den Normenkontrollantrag wegen fehlender Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zurückgewiesen.
Rz. 2
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat mit dem Ergebnis der Zurückverweisung nach § 133 Abs. 6 VwGO Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat die Anforderungen an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO überspannt.
Rz. 3
Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann einen Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die angegriffene Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden.
Rz. 4
Erforderlich, aber auch ausreichend für die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die Festsetzungen des Bebauungsplans in einem subjektiven Recht verletzt wird (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2004 - 4 CN 1.03 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 165 S. 137).
Rz. 5
Da das Grundstück des Antragstellers zu 1 nicht im Geltungsbereich des angegriffenen Bebauungsplans liegt, hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht auf eine mögliche Verletzung des in § 1 Abs. 7 BauGB normierten Abwägungsgebots abgestellt. Dem bauplanungsrechtlichen Abwägungsgebot kommt in Bezug auf private Belange, die für die Abwägung erheblich sind, Schutznormcharakter zu (BVerwG, Urteil vom 24. September 1998 - 4 CN 2.98 - BVerwGE 107, 215 ≪220 f.≫). Es verleiht Privaten nämlich ein subjektives Recht darauf, dass ihre Belange in der Abwägung ihrem Gewicht entsprechend abgearbeitet werden. Der Antragsteller in einem Normenkontrollverfahren kann sich deshalb im Rahmen des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO auch darauf berufen, dass seine abwägungsrelevanten Belange möglicherweise fehlerhaft abgewogen wurden (BVerwG, Urteile vom 16. Juni 2011 - 4 CN 1.10 - BVerwGE 140, 41 Rn. 15 und vom 29. Juni 2015 - 4 CN 5.14 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 200 Rn. 14).
Rz. 6
Macht der Antragsteller in einem Normenkontrollverfahren eine Verletzung des Abwägungsgebots geltend, so muss er einen Belang als verletzt bezeichnen, der für die Abwägung beachtlich war. Das sind nur solche privaten Belange, die in der konkreten Planungssituation einen städtebaulich relevanten Bezug haben. Nicht abwägungserheblich sind dabei geringwertige oder mit einem Makel behaftete Interessen sowie solche, auf deren Fortbestand kein schutzwürdiges Vertrauen besteht, oder solche, die für die Gemeinde bei der Entscheidung über den Plan nicht erkennbar waren (BVerwG, Urteil vom 30. April 2004 - 4 CN 1.03 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 165 S. 138; Beschlüsse vom 12. Januar 2016 - 4 BN 11.15 - ZfBR 2016, 263 Rn. 4 und vom 9. Januar 2018 - 4 BN 33.17 - juris Rn. 4 f.).
Rz. 7
Führt die Änderung eines Bebauungsplans dazu, dass Nachbargrundstücke in anderer Weise als bisher genutzt werden dürfen, so gehören die Interessen der Nachbarn an der Beibehaltung der geltenden Festsetzungen grundsätzlich zum notwendigen Abwägungsmaterial. Zwar gewährt das Baugesetzbuch keinen Anspruch auf Fortbestand eines Bebauungsplans und schließt auch Änderungen des Plans nicht aus. Die ortsrechtlichen Festsetzungen begründen aber regelmäßig ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass Veränderungen, die sich für die Nachbarn nachteilig auswirken können, nur unter Berücksichtigung ihrer Interessen vorgenommen werden. Ein solches Interesse ist nicht nur dann gegeben, wenn der Bebauungsplan in seiner ursprünglichen Fassung ein subjektives öffentliches Recht begründet hat. Abwägungsrelevant ist vielmehr jedes mehr als geringfügige private Interesse am Fortbestehen des Bebauungsplans in seiner früheren Fassung, auch wenn es auf einer einen Nachbarn nur tatsächlich begünstigenden Festsetzung beruht. Ob diese Interessen Gegenstand der Abwägung waren und dabei hinreichend berücksichtigt worden sind, kann der Betroffene im Wege der Normenkontrolle überprüfen lassen (BVerwG, Beschlüsse vom 20. August 1992 - 4 NB 3.92 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69 = juris Rn. 15 sowie vom 28. Mai 2019 - 4 BN 44.18 - ZfBR 2019, 689 Rn. 8). Abweichendes ergibt sich bei nur geringfügigen Änderungen als auch bei solchen Änderungen, die sich nur unwesentlich auf das Nachbargrundstück auswirken können (BVerwG, Beschlüsse vom 20. August 1992 - 4 NB 3.92 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69 = juris Rn. 16 sowie vom 28. Mai 2019 - 4 BN 44.18 - ZfBR 2019, 689 Rn. 8).
Rz. 8
Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass der vorhabenbezogene Bebauungsplan parallel zur Grundstücksgrenze des Antragstellers zu 1 eine intensivere Nutzung des Grundstücks erlaubt als dies nach dem geänderten Bebauungsplan zulässig war. Der Antragsteller zu 1 habe jedoch nicht dargelegt, dass dies zu einer mehr als geringfügigen Beeinträchtigung führe. Damit hat das Normenkontrollgericht die Anforderungen an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung überspannt. Führen Änderungen des Bebauungsplans dazu, dass ein Grundstück baulich intensiver genutzt werden kann, besteht regelmäßig ein schutzwürdiges Interesse des Nachbarn an der Beibehaltung der ursprünglichen Festsetzungen. Etwas anderes mag gelten, wenn die ursprünglichen Festsetzungen nur geringfügig geändert worden sind oder die Änderung sich aus sonstigen Gründen des Einzelfalls nur unerheblich auf das Nachbargrundstück auswirkt. Hierfür bestehen vorliegend indes keine Anhaltspunkte. Der angegriffene Bebauungsplan ermöglicht eine grundlegend andere Bebauung des Vorhabengrundstücks. Die veränderte Festsetzung des Baufensters wirkt sich zudem besonders in dem Bereich an der Grenze zu dem Grundstück des Antragstellers zu 1 aus. In einer solchen Situation bedarf es keiner weiteren Darlegungen eines Nachbarn zur Erheblichkeit der Beeinträchtigung, um die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu begründen.
Rz. 9
Ist dem Antragsteller zu 1 die Antragsbefugnis zuzusprechen, kommt es nicht auf die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen an, ob die Festsetzungen des geänderten Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung im vorliegenden Fall nachbarschützend waren und ob einem Antragsteller bei dem Entzug nachbarschützender Rechte die Unerheblichkeit der Änderung entgegengehalten werden kann.
Rz. 10
Der Senat macht von seiner Befugnis nach § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 11
Die Veräußerung des Vorhabengrundstücks während des anhängigen Gerichtsverfahrens hat entsprechend § 173 VwGO i.V.m. § 265 Abs. 2 Satz 1 ZPO keinen Einfluss auf den Prozess (BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2011 - 6 C 11.10 - Buchholz 442.066 § 37 TKG Nr. 3). Der Senat ist der Anregung, in Bezug auf den Beigeladenen das Rubrum zu berichtigen, daher nicht gefolgt.
Rz. 12
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13949368 |