Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 30.10.2001; Aktenzeichen 3 UE 2189/01) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Oktober 2001 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens; außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 000 EUR(früher: 16 000 DM) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Umbau einer Schreinerei zum Wohnhaus. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung führt es aus, der Kläger könne gegen das streitgegenständliche Gebäude und seine Nutzung als Schreinerei nicht mehr erfolgreich vorgehen, weil sein Rechtsvorgänger sich mit der Errichtung und Nutzung des Gebäudes einverstanden erklärt habe. Gegen die Umgestaltung des Werkstattgebäudes zu Einfachwohnungen besitze der Kläger keine nachbarlichen Abwehrrechte, weil sie gegenüber dem Beigeladenen verwirkt seien; er habe sich nämlich erst nach mehr als neun Jahren gegen den Umbau zu Wohnzwecken gewandt; nach einem so langem Zeitraum seien Abwehrrechte allein durch den Zeitablauf verwirkt. Der Kläger habe ferner in einem Vergleich auf Abwehransprüche gegen eine legalisierte Wohnnutzung verzichtet. Im Übrigen verstoße das genehmigte Vorhaben auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber dem Kläger.
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde bleibt erfolglos. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht.
Das Berufungsgericht hat die Klage mit (zumindest) doppelter Begründung abgewiesen: Zum einen seien möglicherweise bestehende nachbarliche Abwehrrechte des Klägers durch Zeitablauf verwirkt, zum andern habe er in dem am 11. Mai 1993 vor dem Berufungsgericht in einem anderen Verfahren geschlossenen Vergleich auf Abwehrrechte verzichtet.
In einem solchen Fall, wenn also eine Entscheidung auf mehrere, jeweils für sich selbständig tragfähige Gründe gestützt worden ist, kann eine Beschwerde nach § 132 Abs. 2 VwGO nur Erfolg haben, wenn gegen jede dieser Begründungen ein durchgreifender Beschwerdegrund geltend gemacht wird. Liegt nämlich nur im Hinblick auf die eine der Begründungen ein Zulassungsgrund vor, so muss die Zulassung der Revision daran scheitern, dass wegen der anderen Begründung die erste Begründung hinweggedacht werden kann, ohne dass sich am Ausgang des Zulassungsverfahrens etwas änderte. Denn daraus folgt, dass die angefochtene Entscheidung auf dem (hinwegdenkbaren) Begründungsteil nicht beruht; wegen des anderen Begründungsteils kann er entfallen, ohne dass sich das Ergebnis ändern würde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Juli 1973 – BVerwG 4 B 92.73 – Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 109, stRspr).
Im vorliegenden Fall greift die Beschwerde zwar beide Begründungsteile an. Aus ihrem Vorbringen zum zweiten Begründungsteil ergibt sich jedoch kein Grund, der die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte:
1. Die Beschwerde macht hinsichtlich des zweiten Begründungsteils geltend, die Annahme eines Verzichts des Klägers auf Abwehrrechte beruhe auf einer verfahrensfehlerhaften Würdigung des Vergleichs vom 11. Mai 1993. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich jedoch kein Verfahrensfehler im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Dass das Berufungsgericht den Sachverhalt nicht ausreichend erforscht habe, indem es nur den Vergleich, nicht aber das gerichtliche Protokoll, dessen Bestandteil der Vergleich ist, zur Kenntnis genommen habe, will die Beschwerde wohl selbst nicht geltend machen. Ein solcher Vortrag wäre jedenfalls unrichtig; aus den Ausführungen im Tatbestand des Urteils auf S. 3 ergibt sich, dass dem Berufungsgericht sehr wohl bekannt war, unter welchen Umständen der Vergleich geschlossen worden ist. Der Sache nach macht die Beschwerde vielmehr geltend, das Berufungsgericht habe den Vergleich falsch ausgelegt; unter Berücksichtigung aller Umstände, die zum Abschluss des Vergleichs geführt haben, hätte es das Einverständnis des Klägers mit der Verpflichtung des Beigeladenen, einen Bauantrag zu stellen, nicht zugleich als Verzicht des Klägers auf Abwehrrechte gegen jede beantragte und erteilte Baugenehmigung verstehen dürfen. Mit einer solchen Rüge ist jedoch ein Verfahrensfehler nicht dargelegt. Denn die Auslegung eines Vergleichs gehört zur Anwendung des materiellen Rechts (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1996 – BVerwG 8 B 98.96 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 270). Selbst eine Verletzung von Denkgesetzen bei der Anwendung des materiellen Rechts stellt regelmäßig keinen Mangel des gerichtlichen Verfahrens dar, sondern einen Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts (BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1988 – BVerwG 4 B 100.88 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 34 = NVwZ-RR 1990, 166). Der von der Rechtsprechung angenommene Ausnahmefall, dass sich ein Verstoß gegen Denkgesetze auf einen Indizienbeweis bezieht und deshalb dem Tatsachenbereich zuzuordnen sein kann (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 – BVerwG 4 C 28.89 – BVerwGE 84, 271), kann bei der Auslegung eines Vergleichs nicht vorliegen. Im vorliegenden Fall fehlt es darüber hinaus auch an einem Verstoß gegen Denkgesetze; denn zumindest theoretisch kann je nach den Umständen des Einzelfalles in dem Einverständnis mit einer Bauantragstellung auch ein Verzicht auf Rechtsmittel gegen die antragsgemäß erteilte Baugenehmigung liegen. Aber selbst wenn man in Übereinstimmung mit der Beschwerde annehmen wollte, der Vergleich vom 11. Mai 1993 enthalte keinen Verzicht auf Rechtsmittel gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung, würde daraus nur folgen, dass das Berufungsurteil in diesem Punkt fehlerhaft wäre. Die Rechtsanwendung im Einzelfall ist jedoch Aufgabe der Tatsachengerichte. Eine fehlerhafte Rechtsanwendung allein stellt keinen Revisionszulassungsgrund dar, insbesondere nicht den geltend gemachten Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Auch die sinngemäß gestellte Frage, ob eine vergleichsweise getroffene Abmachung zwischen Nachbarn, nach der der bauwillige Nachbar verpflichtet wird, einen Bauantrag zur Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Bauvorhabens zu stellen, zugleich einen Verzicht des anderen Nachbarn auf Abwehransprüche gegen dieses Vorhaben enthält, enthält keinen Zulassungsgrund im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Frage hat keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung, weil sie sich nicht allgemeingültig beantworten lässt. In dem Einverständnis des Nachbarn mit der Antragstellung kann ein Rechtsmittelverzicht liegen; notwendig ist dies aber nicht. Die Antwort wird immer von einer Auslegung der Abmachung abhängen.
Von den auf S. 12 f. der Beschwerdebegründung genannten Entscheidungen weicht das Berufungsurteil schon deshalb nicht (im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ab, weil diese Entscheidungen zu einer anderen Rechtsfrage ergangen sind. Während es in ihnen um die Verwirkung von Rechten geht, nimmt das Berufungsgericht für den vorliegenden Fall an, dass sich der Kläger in dem von den Beteiligten geschlossenen Vergleich mit der Wohnnutzung des Beigeladenen, sollte sie genehmigt werden, einverstanden erklärt und auf Abwehrrechte verzichtet habe.
2. Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob die Beschwerde einen Zulassungsgrund im Hinblick auf den vom Berufungsgericht angenommenen Verlust von Abwehrrechten durch Verwirkung enthält. Gleichwohl sieht der Senat Veranlassung zu dem Hinweis, dass die Annahme des Berufungsgerichts, öffentlich-rechtliche Abwehrrechte eines Nachbarn könnten allein durch Zeitablauf verwirkt werden, der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der mit ihr weitgehend übereinstimmenden Lehre sowie der überwiegenden Rechtsprechung der übrigen Gerichte widerspricht.
Jede Verwirkung setzt – erstens – das Verstreichen eines längeren Zeitraums seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts und – zweitens – besondere Umstände voraus, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 4.89 – Buchholz 406.19 Nr. 102 ≪S. 60, 66 f.≫ = NVwZ 1991, 1182; Beschluss vom 31. August 1999 – BVerwG 3 B 57.99 – DVBl 2000, 560). Zu Unrecht beruft sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, auf dessen Beschluss vom 28. März 1990 – 20 B 89.3055 – (BRS 50 Nr. 197) sich das Berufungsgericht stützt, für seine gegenteilige Rechtsauffassung auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 1988 – BVerwG 4 B 50.88 – (BRS 48 Nr. 179 = NVwZ 1988, 730). Zwar war in dem diesem Rechtsstreit zugrunde liegenden Fall der Nachbar lange Zeit passiv geblieben. Gleichwohl hat der erkennende Senat nicht angenommen, dass seine Abwehrrechte allein durch bloßen Zeitablauf verwirkt werden könnten, sondern hat auch in dieser Entscheidung zusätzlich auf das Vorliegen besonderer Umstände abgestellt. „Besondere Umstände” werden sich regelmäßig aus einem aktiven Tun des Nachbarn ergeben, beispielsweise aus Erklärungen, die der Bauherr als Einverständnis werten kann. Sie können aber auch in einem „Nichtstun” des Nachbarn liegen, nämlich dann, wenn der Nachbar zu positivem Tun verpflichtet war. In seinem Beschluss vom 18. März 1988 (a.a.O.) ist der Senat davon ausgegangen, dass Nachbarn regelmäßig in einem besonderen „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis” zueinander stehen und deshalb nach Treu und Glauben verpflichtet sind, durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst gering zu halten. Die „besonderen Umstände” hat der Senat darin gesehen, dass der Nachbar diese Pflicht zum Handeln verletzt habe, indem er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch die Baumaßnahme nicht ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend gemacht und seine Rechte erst wahrgenommen habe, als der Bauherr die – kostenaufwendigen – Bauarbeiten bereits beendet hatte. Einen vergleichbaren Sachverhalt hat das Berufungsgericht für den vorliegenden Fall nicht festgestellt. Zwar liegt es auf der Hand, dass auch hier Kläger und Beigeladener als unmittelbare Nachbarn in diesem besonderen nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis zueinander standen und stehen. Offen ist jedoch, ob sich aus diesem Verhältnis eine Verpflichtung zu konkretem Handeln ergeben hat und ob deshalb durch die Passivität des Klägers überhaupt ein schutzwürdiges Vertrauen des Beigeladenen begründet werden konnte. So erscheint es beispielsweise als möglich, dass der Beigeladene die Umnutzung der ehemaligen Schreinerei ohne nennenswerte Investitionen vorgenommen hat. In einem solchen Fall hätte u.U. kein Anlass für den Kläger bestanden, sofort gegen die Nutzungsänderung zu protestieren.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Den Wert des Streitgegenstandes setzt der Senat gemäß § 14 Abs. 1 und 3, § 13 Abs. 1 Satz 1, § 73 Abs. 1 GKG fest.
Unterschriften
Paetow, Lemmel, Jannasch
Fundstellen