Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattung von Schul- und Internatskosten, die durch Besuch eines privaten Blindengymnasiums entstehen. Sozialstaatsprinzip. Gleichheitssatz

 

Leitsatz (amtlich)

Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes gebietet nicht, daß die Schulausbildung keinerlei Kosten verursachen darf und daß in Fällen, in denen blinde junge Menschen mangels einer für sie geeigneten öffentlichen Sonderschule auf den Besuch eines privaten Gymnasiums angewiesen sind, der Staat den unterhaltspflichtigen Eltern sämtliche ihnen durch den Besuch der Privatschule entstehende Kosten ersetzt.

GG Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1; BSHG § 40 Abs. 1 Nr. 3, 43 Abs. 2; Ba-WüLV Art. 14 Abs. 2; Ba-WüSchVOG §§ 61 bis 63, 70 Abs. 1 und 2

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; BSHG § 40 Abs. 1 Nr. 3, § 43 Abs. 2; Ba-WüLV Art. 14 Abs. 2; Ba-WüSchVOG §§ 61-63, 70 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

VGH Baden-Württemberg (Entscheidung vom 12.11.1975; Aktenzeichen IX 1269/72)

VG Stuttgart (Entscheidung vom 12.09.1972; Aktenzeichen VI 183/71)

 

Tenor

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 12. November 1975 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 12 025 DM festgesetzt.

 

Gründe

Die Kläger begehren von dem beklagten Land Baden-Württemberg die Erstattung von Schul- und Internatskosten, die sie in der Zeit vom 1. April 1966 bis 30. September 1969 aufbringen mußten, um ihrer blinden Tochter den Besuch des staatlich anerkannten privaten Aufbaugymnasiums Carl-Strehl-Schule in M… des einzigen Blindengymnasiums in der Bundesrepublik Deutschland, zu ermöglichen. Der Verwaltungsgerichtshof hat den Klägern einen Anspruch auf Ersatz der Kosten der Heimunterbringung nach Maßgabe des § 70 Abs. 1 und 2 des baden-württembergischen Gesetzes zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens (SchVOG) vom 5. Mai 1964 (GesBl. S. 235) zugesprochen. Den von den Klägern geltend gemachten weitergehenden Zahlungsanspruch, darunter auch einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Schuldgeld und Lernmittel, hat der Verwaltungsgerichtshof nach dem einschlägigen Landesrecht und unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes und des Sozialstaatsprinzips verneint. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Berufungsurteil haben die Kläger Beschwerde eingelegt.

Die Beschwerde ist unbegründet. Der allein geltend gemachte Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist nicht gegeben.

Der Verwaltungsgerichtshof legt dar, daß auch der Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG und das in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG niedergelegte Sozialstaatsprinzip keine Rechtsgrundlage für den von den Klägern geltend gemachten Zahlungsanspruch böten. Wäre die Tochter der Kläger nicht blind, hätte sie zwar ein öffentliches Gymnasium in dem beklagten Lande besuchen können, für das gemäß Art. 14 Abs. 2 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (GesBl. S. 173) – LV – Schulgeld- und Lernmittelfreiheit bestanden hätte. Es verletze aber nicht die genannten Verfassungsgrundsätze, daß der Landesgesetzgeber die Erstattung der Schul- und Lernmittelkosten für den Besuch eines privaten Blindengymnasiums nicht angeordnet habe. Das staatliche Recht brauche nicht jede schicksalhaft bedingte Ungleichheit und soziale Benachteiligung in allen ihren Folgen materiell auszugleichen. Es sei weder willkürlich noch sozialstaatswidrig, wenn körperbehinderte junge Menschen, für deren Unterrichtung auf gymnasialem Niveau das öffentliche Schulwesen mangels öffentlichen Bedürfnisses keine speziellen Einrichtungen geschaffen habe, auf das kostenaufwendigere Privatschulwesen angewiesen blieben. Diese von der Beschwerde angegriffene Rechtsauffassung verletzt nicht Bundesrecht; das ist bereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung als hinreichend geklärt anzusehen, weswegen diese Frage keine grundsätzliche Bedeutung hat.

Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung ist davon auszugehen, daß der einzelne gegen den Staat keinen grundgesetzlichen Anspruch auf Errichtung von Sonderschuleinrichtungen hat, wie der Senat bereits in seinem Beschluß vom 24. März 1958 – BVerwG VII CB 138.57 – (DVBl. 1958, 512) ausgesprochen hat. Das Grundgesetz gewährt Eltern und Schülern keinen Anspruch darauf, daß der Staat eine ihren Wünschen entsprechende Schule zur Verfügung stellt (vgl. BVerwGE 35, 111/112 und 47, 201 [206]; Beschluß vom 17. Dezember 1975 – BVerwG VII B 51.75 – [DVBl. 1976, 635/636]). Die Errichtung öffentlicher Schulen unterliegt der Organisationsgewalt des Staates im Rahmen der staatlichen Schulaufsicht des Art. 7 Abs. 1 GG und richtet sich nach den Bedürfnissen der Allgemeinheit. Allerdings soll der Staat bei der Organisation des Schulwesens ein Schulsystem gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet (BVerfGE 26, 228 [238] und 34, 165 [182]; BVerwGE 47, 201 [204]). Bei der Verwirklichung dieser Zielsetzung steht dem Staat aber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit zu. Im Rahmen dieser Gestaltungsfreiheit durfte das beklagte Land von der Einrichtung eines eigenen öffentlichen Blindengymnasiums absehen, weil hierfür nach den Feststellungen des Berufungsurteils kein öffentliches Bedürfnis besteht, da die Anzahl der für den Besuch einer derartigen öffentlichen Sonderschule aus dem beklagten Land in Betracht kommenden Schüler gering ist und das private Blindengymnasium in Marburg für das gesamte Bundesgebiet dem in Betracht kommenden Personenkreis eine der Begabung entsprechende Ausbildung ermöglicht.

Das Sozialstaatsprinzip gebietet nicht, daß die Schulausbildung keinerlei Kosten verursachen darf und daß in Fällen der vorliegenden Art, in denen körperbehinderte (blinde) junge Menschen mangels einer für sie geeigneten öffentlichen Sonderschule auf den Besuch eines privaten Gymnasiums angewiesen sind, der Staat den unterhaltspflichtigen Eltern sämtliche ihnen durch den Besuch der Privatschule entstehende Kosten ersetzt. Zwar verpflichtet das Sozialstaatsprinzip den Staat, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 22, 180 [204]). Zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates gehört die Fürsorge für Hilfsbedürftige (BVerfGE 40, 121 [133]). Das Sozialstaatsprinzip begründet aber für sich betrachtet grundsätzlich noch keine unmittelbaren subjektiven Ansprüche (BVerfGE 27, 253 [283]). Die nähere Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips obliegt im wesentlichen dem Gesetzgeber (BVerfGE 1, 97 [105]; 8, 274 [329]; 36, 73 [84]). Nur dann, wenn der Gesetzgeber seine verfassungsrechtliche Pflicht zu sozialer Aktivität willkürlich verletzte, könnte möglicherweise dem einzelnen hieraus ein verfolgbarer Anspruch erwachsen (BVerfGE 1, 97 [105]). Der Verfassungsgrundsatz des Sozialrechtsstaats darf andererseits nicht dahin ausgelegt werden, daß mit seiner Hilfe jede Einzelregelung, deren Anwendung in bestimmten Fällen zu Härten oder Unbilligkeiten führt, modifiziert werden könnte (BVerfGE 26, 44 [61 f.]; 34, 118 [136]; 36, 73 [84]).

Bei Anwendung der vorgenannten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Gesichtspunkte verstößt die gesetzliche Regelung des beklagten Landes über die Schuldgeld- und Lernmittelfreiheit und Erziehungshilfen (Art. 14 Abs. 2 LV, §§ 61 bis 63 SchVOG) sowie über die Beteiligung des Staats an den Kosten der Unterbringung in Heimsonderschulen (§ 70 Abs. 1 und 2 SchVOG) nicht gegen das Sozialstaatsprinzip, soweit die landesgesetzliche Regelung Sonderfällen wie dem der Tochter der Kläger nicht Rechnung trägt. Die Beschränkung der Schulgeld- und Lernmittelfreiheit auf die öffentlichen Schulen des Landes, die Leistung von Erziehungsbeihilfen nur innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen und die Begrenzung des Kostenbeitrags des beklagten Landes bei Heimunterbringung auf ein Drittel des im Staatshaushalt festgesetzten Unterhaltsbeitrags waren nicht sozialstaatswidrig. Das Sozialstaatsprinzip verlangt nicht, daß der junge Mensch eine seiner Begabung entspechende Ausbildung auf Kosten des Landes erhält, ohne daß die Unterhaltspflichtigen in einer nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zumutbaren Weise belastet werden. Zu einer weitergehenden Leistung im Falle der Tochter der Kläger war das beklagte Land aufgrund des Sozialstaatsprinzips auch deswegen nicht verpflichtet, weil nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 (BGBl. I S. 815) – BSHG – die Eingliederungshilfe für Körperbehinderte die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung umfaßt, diese Hilfe also der Regelungszuständigkeit des Bundesgesetzgebers unterliegt. Diese Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz wurde der Tochter der Kläger für den Besuch des privaten Blindengymnasiums während des hier in Frage stehenden Zeitraums auch teilweise gewährt unter Berücksichtigung der den unterhaltspflichtigen Klägern nach ihren Einkommensverhältnissen zugemuteten Aufbringung eigener Mittel. Aus § 43 Abs. 2 BSHG in der ab 1. Oktober 1969 geltenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 14. August 1969 (BGBl. I S. 1153), wonach die Kläger zu den Kosten der Schulausbildung ihrer Tochter nur noch in Höhe der häuslichen Ersparnis von monatlich 70 DM herangezogen wurden, läßt sich für eine Sozialstaatswidrigkeit der landesgesetzlichen Regelung des beklagten Landes nichts herleiten.

Die von der Beschwerde angegriffene landesgesetzliche Regelung verletzt auch nicht den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Daß das beklagte Land vergleichbare Fälle wie den der Kläger und ihrer Tochter ungleich behandelt, wird von den Klägern nicht geltend gemacht. Die landesgesetzliche Regelung ist nicht deswegen sachwidrig oder willkürlich, weil die Kläger hinsichtlich der Kosten der Schulausbildung ihrer Tochter gegenüber den Eltern gesunder Kinder benachteiligt wurden. Diese schicksalhaft bedingte Ungleichheit braucht der Landesgesetzgeber mit allen ihren Folgen nicht auszugleichen, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 13 Abs. 2 GKG.

 

Unterschriften

Prof. Dr. Sendler, Dr. Zehner, Willberg

 

Fundstellen

Haufe-Index 2262833

Buchholz 421, Kultur- und Schulwesen Nr 54

DÖV 1978, 615-616

JZ 1978, 145

JZ 1978, 145-146

DVBl. 1979, 529

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge