Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 10.05.2006; Aktenzeichen 11 A 11702/05) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. Mai 2006 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Die Beschwerde der Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO i.V.m. § 69 BDG an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsurteil auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG beruht.
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidungsfindung in Erwägung zu ziehen. Demnach muss das Gericht einem Beweisangebot nachgehen, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung nach seinem Rechtsstandpunkt erheblich ist und die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots im Prozessrecht keine Stütze findet (Beschluss vom 14. Juni 2005 – BVerwG 2 B 108.04 – Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1, unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
Nach diesen Maßstäben hat das Oberverwaltungsgericht das Beweisangebot der Beklagten, ihren Sohn als Zeugen zum Vorliegen der behaupteten Konfliktsituation (Drohanrufe eines Drogendealers) und deren Mitursächlichkeit für die Unterschlagung der Handys zu vernehmen, nicht übergehen dürfen.
Die Beklagte hat in ihrer Berufungsbegründung u.a. geltend gemacht, ihr mittelloser Sohn, der im Juni 2002 nach Abbruch einer Drogenentziehungskur bei ihr ausgezogen sei, habe ab Juli 2002 über mehrere Monate hinweg in unregelmäßigen Abständen Drohanrufe von Dealern erhalten, denen er Geld geschuldet habe. Der Sohn sei aufgefordert worden, seine Schulden zu bezahlen. Falls er bei der Polizei aussage, würde ihm etwas passieren. Die Beklagte habe ihrem Sohn helfen wollen, weil sie um dessen Leben und Gesundheit gefürchtet habe. Allerdings sei ihre wirtschaftliche Lage sehr angespannt gewesen. Sie habe das Geld aus dem Verkauf der unterschlagenen Handys ihrem Sohn gegeben, der es an den Dealer weitergereicht habe. Als Beweis für die Richtigkeit dieses Vorbringens hat die Beklagte schriftsätzlich die Vernehmung ihres Sohnes als Zeugen beantragt.
Diesem Beweisangebot kommt auf der Grundlage des Rechtsstandpunktes des Oberverwaltungsgerichts entscheidungserhebliche Bedeutung zu.
Das Berufungsgericht nimmt an, dass bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme bei einem sogenannten Zugriffsdelikt über das Nichtvorliegen “anerkannter Milderungsgründe” hinaus im Rahmen der Würdigung des Persönlichkeitsbildes der Beklagten berücksichtigt werden kann, ob diese sich aufgrund familiärer Probleme mit ihrem Sohn in einer vergleichbar außergewöhnlichen Ausnahmesituation befunden hat. Im Ergebnis hat das Oberverwaltungsgericht dies aber verneint, weil es die darauf bezogenen Angaben der Beklagten nicht als glaubhaft angesehen hat. Zur Begründung hat es darauf abgestellt, die Beklagte habe ihr Vorbringen seit ihrer ersten Befragung nach der Entdeckung der Unterschlagungen erheblich gesteigert. Auf den schriftsätzlich gestellten Beweisantrag ist das Oberverwaltungsgericht nicht eingegangen.
Diese Vorgehensweise findet im Prozessrecht keine Stütze, weil sie eine vorweggenommene Beweiswürdigung darstellt:
Gemäß § 58 Abs. 1 BDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Demnach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind (vgl. auch BTDrucks 14/4659, S. 49, zu § 58 BDG). Entsprechend § 86 Abs. 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen der Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge aufdrängen. Dies gilt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für die Berufungsinstanz. Diese Aufklärungspflicht wird durch § 58 Abs. 2, § 65 Abs. 3 BDG begrenzt, die die Ablehnung verspätet gestellter Beweisanträge ermöglichen.
Danach darf das Gericht Beweisangebote zu Tatsachen, die nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblich sind und nicht gemäß § 58 Abs. 2, § 65 Abs. 3 BDG abgelehnt werden dürfen, nur unberücksichtigt lassen, wenn sich ausschließen lässt, dass die Beweiserhebung zu neuen Erkenntnissen führen kann, die geeignet sind, die bisherige Überzeugung des Gerichts zu erschüttern. Dies ist der Fall, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt “ins Blaue hinein” aufgestellt oder das Beweismittel offensichtlich untauglich ist. Das Gericht darf ein Beweisangebot nicht schon deshalb übergehen, weil es die Wahrscheinlichkeit als gering einschätzt, dass durch die Beweiserhebung neue Erkenntnisse gewonnen werden (Beschluss vom 14. Juni 2005 a.a.O. m.w.N.) oder weil es das unter Beweis gestellte Vorbringen für wenig plausibel hält.
Das Oberverwaltungsgericht hat das Beweisangebot der Beklagten nicht gemäß § 65 Abs. 3 BDG abgelehnt. Daher kann dahingestellt bleiben, ob eine Ablehnung nach dieser Vorschrift in Betracht kommt, wenn der Beamte ohne die Beweiserhebung aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen ist.
Die Erwägungen, auf die das Oberverwaltungsgericht seine Beweiswürdigung zu den Beweggründen der Beklagten für die Unterschlagung der Handys gestützt hat, sind nicht geeignet, das Beweisangebot unberücksichtigt zu lassen:
Das dargestellte tatsächliche Vorbringen der Beklagten kann sich entscheidungserheblich auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme auswirken. Bei der prognostischen Frage, ob bei einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust i.S.d. § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Bemessungsgesichtspunkte, bei einem sogenannten Zugriffsdelikt im Rahmen entlastender Umstände also nicht nur die bislang von der Rechtsprechung “anerkannten Milderungsgründe”. Dies gebieten sowohl das gesetzliche Bemessungskriterium “angemessene Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten” als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gesamte Prognosegrundlage muss in der Entscheidung des Gerichts dargelegt werden; ob sie dann den Schluss auf einen noch verbliebenen Rest an Vertrauen in die Person des Beamten zulässt, ist eine Frage der Gesamtabwägung im Einzelfall (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – BVerwGE 124, 252 ≪262 f.≫).
Nach diesen Grundsätzen ist die von der Beklagten geschilderte Konfliktsituation bereits dann als mildernder Umstand in die gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG gebotene Gesamtabwägung einzustellen, wenn ihr Vorliegen und ihre Mitursächlichkeit für die Unterschlagung der Handys nicht ohne vernünftige Zweifel ausgeschlossen werden können (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. ≪264≫ m.w.N.). Dem Umstand, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung keinen ihrem Beweisangebot entsprechenden Beweisantrag gestellt hat, kommt nach den konkreten Umständen kein Beweiswert zu. Jedenfalls in Anbetracht des drohenden Ausspruchs der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis hätte es gemäß § 86 Abs. 3 VwGO, § 3 BDG eines Hinweises bedurft, dass das Oberverwaltungsgericht dem schriftlichen Beweisangebot keine Bedeutung beizumessen gedachte.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Im vorliegenden Fall ist aufgrund der Schwere des Dienstvergehens die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Ausgangspunkt der Überlegungen zur Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme. Die von der Schwere des Dienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfällt, wenn gewichtige Milderungsgründe zugunsten des Beamten zu berücksichtigen sind – nicht nur bei Vorliegen “anerkannter Milderungsgründe”, sondern auch bei anderen Entlastungsgründen vergleichbaren Gewichts. Dabei reicht es aus, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Milderungsgründe sprechen. Sollte nicht ohne vernünftige Zweifel ausgeschlossen sein, dass die Beklagte in den fünf Zugriffsfällen in zeitlichem Zusammenhang mit Drohanrufen von Dealern die Handys an sich genommen und veräußert hat, um die Anrufer zufrieden zu stellen und damit ihrem Sohn zu helfen, muss weiter festgestellt werden, ob hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass wiederholt jeweils schockartig eine psychische Ausnahmesituation (vgl. zum entsprechenden Milderungsgrund z.B. Urteil des 1. Disziplinarsenats vom 9. Mai 2001 – BVerwG 1 D 22.00 – BVerwGE 114, 240 ff. m.w.N.) ausgelöst worden war oder eine Drucksituation entstanden war, unter der ein an normalen Maßstäben ausgerichtetes besonnenes Verhalten von der Beklagten nicht als selbstverständlich erwartet werden konnte. Hierzu gibt es Beispiele aus der Rechtsprechung des 1. Disziplinarsenats (z.B. Urteil vom 28. März 1984 – BVerwG 1 D 63.83 – BVerwGE 76, 145 ff.: Wiederholte Selbstmorddrohungen seitens eines persönlich nahestehenden Dritten – psychische Ausnahmesituation – führen zum Zugriff auf insgesamt 46 000 DM; Urteil vom 9. März 1988 – BVerwG 1 D 86.87 – juris: Drucksituation wegen Erreichens des Überziehungslimits und Besorgnis der Fälligstellung eines Ratenkredits mit seinem Gesamtbetrag bei Nichteinhaltung der Ratenzahlung führt zum Zugriff auf 500 DM; Urteil vom 9. Oktober 1990 – BVerwG 1 D 5.90 – BVerwGE 86, 336 ff.: Verzweiflung über die Auflösung des Verlöbnisses und den Auszug der Verlobten aus der gemeinsamen Wohnung als Auslöser für die Zugriffshandlung; Urteil vom 8. August 1995 – BVerwG 1 D 41.93 – juris: Drucksituation aufgrund wiederholter Gewaltandrohungen für die Beamtin und ihren Sohn zwecks Geldbeschaffung führt zur Briefberaubung).
Unterschriften
Albers, Dr. Müller, Dr. Heitz
Fundstellen