Verfahrensgang

OVG der Freien Hansestadt Bremen (Urteil vom 08.06.2022; Aktenzeichen 3 LD 151/21)

VG Bremen (Urteil vom 26.01.2021; Aktenzeichen 8 K 2466/19)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 8. Juni 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 

Gründe

Rz. 1

1. Die Beklagte wendet sich gegen ihre Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.

Rz. 2

Die im Jahr 1971 geborene Beklagte wurde 1991 in den Postdienst eingestellt, 1998 in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit berufen und 2016 zur Posthauptsekretärin (Besoldungsgruppe A 8) befördert.

Rz. 3

Im Jahr 2015 wurde die Beklagte innerhalb der Deutschen Post AG zur Niederlassung Privatkunden/Filialen, Gebietsleitung B. versetzt. Ihre Aufgabe bestand dort darin, Privatfilialen, die mit der Deutschen Post AG zusammenarbeiteten, zu betreuen. Sie nahm diese Aufgabe im Home-Office wahr, wobei sie regelmäßig auswärtige Termine zu erledigen hatte. Ende 2016 verließ ihr Vorgesetzter die Dienststelle. Seine Stelle wurde nicht nachbesetzt; die Fachvorgesetztenfunktion für die Beklagte wurde kommissarisch auf Frau B. delegiert. Ab Januar 2018 kam es zu Differenzen zwischen der Beklagten und Frau B. Die Beklagte war längere Zeit dienstunfähig, ignorierte Anweisungen von Frau B., nahm angeordnete Besprechungstermine nicht wahr und reichte Krankmeldungen verspätet ein. Im Juni 2018 leitete die Klägerin ein Disziplinarverfahren gegen die Beklagte ein, dehnte dieses im Januar 2019 auf weitere Vorwürfe aus, enthob die Beklagte im März 2019 vorläufig des Dienstes und erhob im Oktober 2019 Disziplinarklage. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte in das Amt einer Postobersekretärin (Besoldungsgruppe A 7) versetzt.

Rz. 4

Auf die Berufungen beider Beteiligter hat das Oberverwaltungsgericht die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Die Beklagte habe vorsätzlich durch die sich über mehrere Monate erstreckende Nichtbeachtung dienstlicher Anweisungen in einer hohen Anzahl von Fällen ihre beamtenrechtliche Folgepflicht und durch die mehrmalige verspätete Vorlage der Nachweise der Dienstunfähigkeit ihre Gehorsamspflicht verletzt. Die Klägerin habe die Einleitung des Disziplinarverfahrens nicht pflichtwidrig verzögert. Die Höchstmaßnahme hätte auch durch frühzeitigere niederschwellige Maßnahmen nicht verhindert werden können.

Rz. 5

2. Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete und auf alle Zulassungsgründe gestützte Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.

Rz. 6

a) Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

Rz. 7

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregelungen auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens eindeutig beantwortet werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Januar 2011 - 2 B 2.11 - NVwZ-RR 2011, 329 Rn. 4; vom 9. April 2014 - 2 B 107.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 20 Rn. 9, vom 20. Juni 2017 - 2 B 84.16 - juris Rn. 9 und vom 26. April 2023 - 2 B 41.22 - juris Rn. 5). Die Prüfung des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei auf die mit der Beschwerde dargelegten Rechtsfragen beschränkt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

Rz. 8

Die als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Fragen

"Ist eine Ahndung nicht mehr zeitnah, wenn der in § 62 BDG genannte Zeitrahmen überschritten ist und ist dies dann als Verfahrensmangel mildernd zu berücksichtigen? Ist bei der Betrachtung des Zeitrahmens der Zeitpunkt der Ausdehnungsverfügung maßgeblich?",

rechtfertigen nicht die Zulassung der Revision, denn sie lassen sich - soweit sie einer Beantwortung in verallgemeinerungsfähiger Weise zugänglich sind - unter Heranziehung des Gesetzeswortlauts und auf der Grundlage der Senatsrechtsprechung ohne die Durchführung eines Revisionsverfahrens beantworten.

Rz. 9

Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BDG hat die dienstvorgesetzte Stelle ein Disziplinarverfahren einzuleiten, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen. Diese Pflicht besteht nicht, solange es noch etwaiger Verwaltungsermittlungen bedarf, um einen bloß vagen Verdacht aufzuklären, der personell oder sachlich noch nicht hinreichend konkretisiert worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. März 2012 - 2 A 11.10 - Schütz, BeamtR, ES/B II 1.1 Nr. 26 Rn. 21 zum BDG). Den Dienstvorgesetzten trifft aber eine Einleitungspflicht, sobald er erstmals Kenntnis von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten erlangt, die den Verdacht eines Dienstvergehens begründen. Er darf, wenn die Voraussetzungen zur Einleitung vorliegen, nicht abwarten und weiteres Belastungsmaterial sammeln (BVerwG, Urteile vom 15. November 2018 - 2 C 60.17 - BVerwGE 163, 356 Rn. 21 und vom 28. März 2023 - 2 C 20.21 - NVwZ 2023, 1586 Rn. 28).

Rz. 10

Die frühzeitige Einleitungspflicht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BDG besteht für den Dienstvorgesetzten auch in der Konstellation einer Vielzahl gleichartiger, zeitlich aufeinanderfolgender Dienstpflichtverletzungen. Dass im Zeitpunkt der Einleitung des Disziplinarverfahrens bereits weitere gleichartige Pflichtverletzungen hinzugetreten oder künftig zu erwarten sind, hindert die gesonderte Ahndung der bisherigen Verstöße nicht. Der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens (§ 77 Abs. 1 Satz 1 BBG) steht einer gesonderten Verfolgung von Dienstpflichtverletzungen nicht entgegen. Seit dem Inkrafttreten des Bundesdisziplinargesetzes am 1. Januar 2002 lässt sich daraus ein verfahrensrechtliches Gebot der gleichzeitigen Entscheidung über mehrere Pflichtverstöße nicht mehr herleiten. Gemäß § 19 Abs. 1 BDG kann der Dienstherr ein eingeleitetes Disziplinarverfahren auf danach neu hinzutretende Pflichtverletzungen ausdehnen. Nach Erhebung der Disziplinarklage können neue Handlungen durch Erhebung einer Nachtragsdisziplinarklage gemäß § 53 Abs. 1 BDG in das Disziplinarverfahren einbezogen werden. Aus den Ermächtigungen in § 19 Abs. 1 BDG und § 53 BDG folgt, dass dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens materiell-rechtlich Rechnung zu tragen ist. Der Beamte darf im Ergebnis materiell-rechtlich nicht schlechter gestellt werden als er im Falle einer gleichzeitigen und einheitlichen Ahndung des Dienstvergehens stünde. Dem Grundsatz der materiell-rechtlichen einheitlichen Bewertung ist in dem zuletzt zur Entscheidung anstehenden Disziplinarverfahren (nachträglich) Geltung zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2007 - 1 D 12.05 - BVerwGE 128, 125 Rn. 22 ff. ≪25≫). Unbenommen bleibt dem Dienstherrn daher auch, im jeweiligen Verfahrensstadium ein weiteres neues Disziplinarverfahren einzuleiten (BVerwG, Urteil vom 28. März 2023 - 2 C 20.21 - NVwZ 2023, 1586 Rn. 29).

Rz. 11

Aus § 62 BDG ergeben sich keine über die dargestellten Grundsätze hinausgehenden Erkenntnisse. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 BDG kann der Beamte bei dem Gericht die gerichtliche Bestimmung einer Frist zum Abschluss des Disziplinarverfahrens beantragen, wenn ein behördliches Disziplinarverfahren nicht innerhalb von sechs Monaten seit der Einleitung durch Einstellung, durch Erlass einer Disziplinarverfügung oder durch Erhebung der Disziplinarklage abgeschlossen worden ist; nach § 62 Abs. 2 Satz 1 BDG bestimmt das Gericht eine Frist, in der das Disziplinarverfahren abzuschließen ist, wenn ein zureichender Grund für den fehlenden Abschluss des behördlichen Disziplinarverfahrens innerhalb von sechs Monaten nicht vorliegt. § 62 BDG betrifft somit schon nicht einen etwaigen Zeitraum für die Einleitung des Disziplinarverfahrens, sondern für dessen Abschluss. Im Übrigen ist es stets eine Frage der konkreten Umstände des Einzelfalls, innerhalb welchen Zeitraums ein Disziplinarverfahren einzuleiten und abzuschließen ist, die sich einer Beantwortung in verallgemeinerungsfähiger Form - etwa unter Heranziehung der Sechsmonatsfrist des § 62 Abs. 1 Satz 1 BDG - entzieht.

Rz. 12

b) Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen.

Rz. 13

Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann i. S. d. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Zwischen den Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes bestehen. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt nicht den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 15. Januar 2020 - 2 B 38.19 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 99 Rn. 14).

Rz. 14

Diesen Anforderungen genügt die Divergenzrüge im vorliegenden Fall nicht. Die Beschwerde bezeichnet keinen Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts, der im Widerspruch zu der von ihr referierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht, wonach das Sammeln einzelner Dienstpflichtverletzungen über einen längeren Zeitraum, um sodann im Wege einer Gesamtschau die Höchstmaßnahme zu verhängen, unzulässig ist. Sie führt lediglich eine Reihe einzelfallbezogener tatsächlicher Aspekte an, denen sie entnimmt, dass das Berufungsgericht unzutreffend zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Klägerin im Streitfall ein solcher Vorwurf nicht zu machen ist. Damit rügt sie aber keine rechtssatzmäßige Divergenz.

Rz. 15

c) Schließlich ist die Revision auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

Rz. 16

aa) Die Rüge, das Berufungsgericht habe verfahrensfehlerhaft nicht die Befassung des Präsidenten der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost im Rahmen der Beteiligung nach § 1 Abs. 5 Postpersonalrechtsgesetz - PostPersRG - für erforderlich gehalten, greift nicht durch.

Rz. 17

Nach § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 PostPersRG hat der Vorstand des Postnachfolgeunternehmens oder ein ihm nachgeordneter Stelleninhaber mit den Befugnissen eines Dienstvorgesetzten vor der Erhebung der Disziplinarklage diese unter Vorlage der Akten von der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost auf Rechtmäßigkeit und sachgerechte Ausübung des Ermessens prüfen zu lassen. Zur Prüfung verpflichtet ist mithin die Bundesanstalt als Behörde. Das Gesetz enthält keinen Hinweis darauf, dass allein der Präsident der Bundesanstalt hierfür zuständig ist und er diese Aufgabe nicht behördenintern anderweitig zuordnen kann. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, wäre eine entsprechende ausdrückliche Regelung umso mehr zu erwarten gewesen, als dieselbe Norm hinsichtlich der Ausübung der Disziplinarbefugnis eine entsprechende Eingrenzung ("Vorstand des Postnachfolgeunternehmens oder ein ihm nachgeordneter Stelleninhaber mit den Befugnissen eines Dienstvorgesetzten") enthält. Dementsprechend hat der Senat in seinem Urteil vom 22. Juni 2006 - 2 C 11.05 - (Buchholz 235.1 § 34 BDG Nr. 2 = juris Rn. 21 f.) nur auf die Bundesanstalt, nicht aber auf deren Präsidenten rekurriert.

Rz. 18

bb) Auch die Sachaufklärungsrügen greifen nicht durch.

Rz. 19

(1) Eine Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zum einen die substanziierte Darlegung, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände aus der materiell-rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese bei Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Tatsachengerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können. Zum anderen muss dargelegt werden, dass bereits im Berufungsverfahren, insbesondere in der mündlichen Berufungsverhandlung, auf die Sachverhaltsaufklärung, deren Unterlassen nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätte aufdrängen müssen. Die Aufklärungsrüge ist kein Mittel, um Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Beteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn er es - wie hier - unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1969 - 6 C 52.65 - BVerwGE 31, 212 ≪217 f.≫ und Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n. F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14, vom 29. März 2017 - 2 B 26.16 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 13 Rn. 7 f., vom 10. Dezember 2020 - 2 B 6.20 - NVwZ-RR 2021, 469 Rn. 7 f. und vom 30. März 2022 - 2 B 46.21 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 55 Rn. 21).

Rz. 20

(2) Diesen Anforderungen genügen die Sachaufklärungsrügen im vorliegenden Fall nicht.

Rz. 21

Dies gilt zunächst für die Rüge, das Berufungsgericht habe den dienstpostenbezogenen Konflikt zwischen der Beklagten und Frau B. nicht genügend aufgeklärt und dabei insbesondere nicht ermittelt, warum "eine Veränderung der Beziehungen" insbesondere mittels eines Mediationsverfahrens nicht forciert wurde. Die Beschwerde bezeichnet nicht, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen für die vermisste Sachaufklärung in Betracht gekommen wären. Außerdem legt sie nicht dar, dass bereits im Berufungsverfahren, insbesondere in der mündlichen Berufungsverhandlung - in der keinerlei Beweisanträge gestellt worden sind -, auf die Sachverhaltsaufklärung, deren Unterlassen nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätte aufdrängen müssen. Abgesehen davon ist für eine solche freiwillige und eigenverantwortliche konsensuale Konfliktbeilegung ab dem Zeitpunkt kein Raum mehr, in dem zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen; ab diesem Zeitpunkt muss die dienstvorgesetzte Stelle zum Disziplinarverfahren übergehen, einerseits um den Beamten vor möglichen disziplinaren Rechtsverlusten zu schützen und andererseits die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns durch Wahrung der beamtenrechtlichen Dienstpflichten durchzusetzen (BVerwG, Urteil vom 15. November 2018 - 2 C 60.17 - BVerwGE 163, 356 Rn. 25).

Rz. 22

Es gilt außerdem für die Rügen, das Berufungsgericht habe die Konzernstruktur und die sich aus den Veränderungen ergebenden Zuständigkeiten und das Bestehen von Weisungsbefugnissen der disziplinarisch handelnden Personen nicht ausreichend aufgeklärt. Auch insoweit bezeichnet die Beschwerde weder, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen für die vermisste Sachaufklärung in Betracht gekommen wären, noch legt sie dar, dass bereits im Berufungsverfahren, insbesondere in der mündlichen Berufungsverhandlung auf die Sachverhaltsaufklärung, deren Unterlassen nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätte aufdrängen müssen.

Rz. 23

cc) Schließlich greift auch die Rüge nicht durch, das Berufungsgericht habe durch einen Verstoß gegen das Gebot umfassender Sachaufklärung und durch eine defizitäre Gesamtwürdigung den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verletzt.

Rz. 24

(1) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Einhaltung der sich daraus ergebenden verfahrensmäßigen Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Denn damit wird ein (vermeintlicher) Fehler in der Beweiswürdigung angesprochen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb grundsätzlich nicht begründen.

Rz. 25

Eine Ausnahme kommt nur bei Mängeln in Betracht, die allein die Tatsachenfeststellung und nicht auch die Subsumtion unter die materiell-rechtliche Norm betreffen. Derartiges liegt bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung vor, etwa bei denkfehlerhaften, aus Gründen der Logik schlechterdings unmöglichen oder sonst willkürlichen Schlussfolgerungen von Indizien auf Haupttatsachen (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 ≪273 f.≫; Beschlüsse vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 u. a. - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 Rn. 8 und vom 22. Mai 2008 - 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65 Rn. 22). Ein Denkfehler in diesem Sinne liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die tatrichterliche Würdigung auch anders hätte ausfallen können. Denkgesetze werden durch Schlussfolgerungen nur dann verletzt, wenn nach dem gegebenen Sachverhalt nur eine einzige Folgerung gezogen werden kann, jede andere Folgerung aus Gründen der Logik schlechterdings unmöglich ist und das Gericht die allein mögliche Folgerung nicht gezogen hat (BVerwG, Beschlüsse vom 18. Februar 1972 - 8 B 3.72 u. a. - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 62 S. 28, vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 Rn. 8 und vom 11. Juli 2022 - 2 B 31.21 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 111 Rn. 24).

Rz. 26

Überprüft werden kann auch, ob das Tatsachengericht allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt hat, etwa ob es gegen das Verbot selektiver Verwertung des Prozessstoffs (BVerwG, Urteil vom 20. März 1990 - 9 C 91.89 - BVerwGE 85, 92 ≪95≫ und Beschluss vom 20. August 2003 - 1 B 463.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 275 S. 100), ob es gegen das Gebot rationaler, um Objektivität bemühter Beurteilung verstoßen (BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 20) oder ob es den ihm gezogenen Beurteilungsrahmen überschritten hat, sei es dadurch, dass es von einem zweifelsfrei unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, insbesondere ob es in das Verfahren eingeführte Umstände übergangen hat, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt (BVerwG, Urteile vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 ≪339 f.≫ und vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 ≪208 f.≫), sei es, dass es gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze, unumstrittene Geschichtstatsachen oder gar die Denkgesetze missachtet hat (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 20 und vom 11. Juli 2022 - 2 B 31.21 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 111 Rn. 25).

Rz. 27

(2) Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Die sich aus § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ergebenden Bemessungskriterien müssen mit dem ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht ermittelt und in die Entscheidung eingestellt werden. Dieses Erfordernis beruht auf dem im Disziplinarverfahren geltenden Schuldprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gegen den Beamten ausgesprochene Disziplinarmaßnahme muss unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen.

Rz. 28

Nach § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG ist die Schwere des Dienstvergehens maßgebendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Dies bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der im Katalog des § 5 BDG aufgeführten Disziplinarmaßnahme zuzuordnen ist. Davon ausgehend kommt es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild des Beamten und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung nach § 13 Abs. 1 Satz 3 und 4 BDG im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere indizierte Maßnahme geboten ist. Je schwerwiegender das Dienstvergehen oder die mit ihm einhergehende Vertrauensbeeinträchtigung ist, umso gewichtiger müssen die sich aus dem Persönlichkeitsbild ergebenden mildernden Umstände sein, um gleichwohl eine andere Maßnahme zu rechtfertigen. Umgekehrt können Gesichtspunkte des Persönlichkeitsbilds oder eine besondere Vertrauensbeeinträchtigung die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis rechtfertigen, obwohl diese Maßnahme nach der Schwere des Dienstvergehens für sich genommen nicht indiziert ist (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20. April 2023 - 2 A 18.21 - ZBR 2023, 420 Rn. 26 ff. m. w. N.).

Rz. 29

(3) Danach ist ein Verfahrensfehler durch einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht dargetan. Dass von einem Verstoß gegen das Sachaufklärungsgebot nicht ausgegangen werden kann, wurde bereits ausgeführt. Ebenso ist eine einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz darstellende defizitäre Gesamtwürdigung i. S. d. § 13 BDG nicht dargetan. Das Berufungsgericht hat in einer revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Weise angenommen, dass bezüglich der Beklagten ein endgültiger Vertrauensverlust eingetreten ist. Die von der Beschwerde angeführten Milderungsgründe können deshalb der Verhängung der Höchstmaßnahme nicht entgegenstehen.

Rz. 30

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil sich die Gerichtsgebühr aus dem Gebührenverzeichnis ergibt (Anlage zu § 78 BDG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16191232

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