Verfahrensgang
OVG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 04.12.2014; Aktenzeichen 4 L 174/13) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 4. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 54 473,68 EUR festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Rechtssache kommt nicht die grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, die ihr von der Beschwerde beigemessen wird.
Rz. 2
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
Rz. 3
1. Die von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehene Frage,
„Verstößt eine Rechtsprechungsänderung jedenfalls dann gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), wenn die für die Begründung der Rechtsprechungsänderung angeführten Erwägungen rechtlich offensichtlich unzutreffend sind?”,
ist bereits bundesgerichtlich geklärt; sie rechtfertigt daher ungeachtet der Frage, ob sich Gemeinden auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen können (ablehnend BVerwG, Urteil vom 27. April 2006 – 3 C 23.05 – BVerwGE 126, 7 Rn. 24 m.w.N.; bejahend VerfG ST, Urteil vom 12. Dezember 1997 – LVG 12/97 – LVerfGE 7, 304 ≪324≫; VerfGH RP, Beschluss vom 5. Juli 2007 – VGH N 18/06 – NVwZ-RR 2008, 435 ≪436≫), nicht die Zulassung der Revision.
Rz. 4
Höchstrichterliche Rechtsprechung ist kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Eine in der Rechtsprechung bislang vertretene Gesetzesauslegung aufzugeben, verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Die über den Einzelfall hinausreichende Geltung fachgerichtlicher Gesetzesauslegung beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann. Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält. Soweit durch eine gefestigte Rechtsprechung ein Vertrauenstatbestand begründet wurde, kann diesem erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit oder durch Billigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung getragen werden (BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 – BVerfGE 122, 248 ≪277 f.≫ und Kammerbeschluss vom 18. Oktober 2012 – 1 BvR 2366/11 – NJW 2013, 523 ≪524≫; BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2015 – 9 B 84.14 – juris Rn. 3 m.w.N.).
Rz. 5
Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung lässt sich die von der Beschwerde aufgeworfene Frage daher ohne weiteres dahin beantworten, dass unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes eine rechtlich offensichtlich unzutreffend begründete Rechtsprechungsänderung Bedenken begegnet. Ob dies vorliegend der Fall ist, insbesondere ob die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des § 6 Abs. 6 Satz 1 KAG LSA in der Fassung des Gesetzes vom 16. April 1999 (GVBl. LSA S. 150; im Folgenden: KAG LSA a.F.) zutreffend ist, entzieht sich einer Nachprüfung im Revisionsverfahren, weil es sich um nicht revisibles Landesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) handelt. Klärungsbedürftig ist auch nicht, ob das Berufungsgericht die Änderung seiner Rechtsprechung auf das in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verankerte rechtsstaatliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit stützen konnte. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verpflichtung des Satzungsgebers, die zur Heilung eines Rechtsmangels erlassene wirksame Satzung rückwirkend auf den Zeitpunkt des vorgesehenen Inkrafttretens der ursprünglich nichtigen Satzung in Kraft zu setzen, sofern der Lauf der Festsetzungsverjährungsfrist damit beginnt, ausdrücklich als eine Möglichkeit benannt, dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit Rechnung zu tragen (BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 Rn. 50). Soweit das Bundesverwaltungsgericht eine dahingehende verfassungskonforme Auslegung eines anderen Kommunalabgabengesetzes ausgeschlossen hat (BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 9 C 19.14 – juris Rn. 13 zu §§ 9, 12 KAG M-V), beruhte dies auf – hier nicht vorliegenden – landesrechtlichen Besonderheiten.
Rz. 6
Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls geklärt, dass eine Rechtsprechungsänderung trotz hinreichender Begründung und Vorhersehbarkeit in Ausnahmefällen rechtswidrig ist, wenn sie zu einer echten Rückwirkung oder zu einer unechten Rückwirkung führt, die sich ausnahmsweise als unzulässig erweist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Februar 2012 – 1 BvR 2378/10 – NZA 2012, 788 ≪789 f.≫). Dass der vorliegende Fall zu einer Klärung weiterer Ausnahmekonstellationen beitragen könnte, ist weder von der Beklagten dargelegt noch sonst ersichtlich.
Rz. 7
2. Die von der Beschwerde weiter aufgeworfene Frage,
„Verstößt eine Auslegung des § 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 2 KAG LSA, die in allen Fällen, bei denen ein erster Beitragsbescheid nicht bereits in einem Zeitraum von vier Jahren ab Beendigung der Maßnahme (letzte Unternehmerrechnung) ergangen war, eine wirksame Beitragserhebung bei noch nicht abgeschlossenen Sachverhalten unmöglich macht, obwohl der Gesetzgeber eine Beitragserhebung zum Vorteilsausgleich erst mit Ablauf des zehnten Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, ausschließen wollte (und dabei für Altfälle eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2015 einräumen wollte), gegen die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG?”,
rechtfertigt gleichfalls nicht die Zulassung der Revision.
Rz. 8
Wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Rüge der Nichtbeachtung von Bundesrecht bei der Anwendung und Auslegung von irrevisiblem Landesrecht erhoben, ist darzulegen, inwiefern die bundesrechtliche Vorschrift ihrerseits ungeklärte Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2003 – 4 B 35.03 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 26 S. 20). Daran fehlt es.
Rz. 9
a) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass Eingriffe in den von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Aufgabenbestand den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unterliegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2014 – 2 BvL 2/13 – NVwZ 2015, 728 Rn. 55). Ebenso ist geklärt, dass den Gemeinden im Interesse einer funktionsgerechten Aufgabenwahrnehmung ein unantastbarer Kernbereich der Selbstverwaltung garantiert ist. Diesem unterfällt die kommunale Finanzhoheit, welche den Kommunen eine eigenverantwortliche Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft gewährleistet, indes nur insoweit, als ihnen das eigene Wirtschaften mit Einnahmen und Ausgaben nicht aus der Hand genommen werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2001 – 2 BvK 1/00 – BVerfGE 103, 332 ≪365 f.≫; Kammerbeschluss vom 15. November 1993 – 2 BvR 1199/91 – LKV 1994, 145). Dass der vorliegende Fall zu einer Fortentwicklung dieser Grundsätze beitragen könnte, ist von der Beschwerde nicht dargetan und auch sonst nicht ersichtlich.
Rz. 10
b) Auch sonst kann die Beschwerde nicht mit Erfolg darauf gestützt werden, das Berufungsgericht habe mit seiner Auslegung des § 6 Abs. 6 Satz 1 KAG LSA a.F. das Gesetz zur Änderung kommunalabgabenrechtlicher Vorschriften vom 17. Dezember 2014 (GVBl. LSA S. 522) „konterkariert”, welches bei Erlass des Berufungsurteils zwar noch nicht beschlossen gewesen sei, dessen Verabschiedung aber ersichtlich unmittelbar bevorgestanden habe.
Rz. 11
Unabhängig davon, ob ein etwaiger Widerspruch zwischen der Auslegung des (noch) geltenden Rechts und dem sich im Gesetzgebungsverfahren befindenden (möglichen) künftigen Recht geeignet ist, einen Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 GG zu begründen, bestünde ein solcher Widerspruch nur dann, wenn § 13b Satz 1, § 18 Abs. 2 KAG LSA in der Fassung des vorgenannten Änderungsgesetzes auch in den Fällen Anwendung fänden, in denen vor Inkrafttreten dieser Normen sowohl die sachliche Beitragspflicht entstanden ist als auch die angefochtenen Beitragsbescheide erlassen wurden (vgl. dazu OVG Magdeburg, Urteil vom 4. Juni 2015 – 4 L 24/14 – juris Rn. 43). Ob sich die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich bezeichnete Frage des Bundesrechts in einem Revisionsverfahren stellt, hängt danach von der vorrangigen Klärung einer nicht revisiblen Rechtsfrage ab.
Rz. 12
Davon abgesehen ist weder dargelegt noch erkennbar, dass die von der Beschwerde aufgeworfene, an die Auslegung außer Kraft getretenen Rechts anknüpfende Frage nicht allein vergangenheitsbezogen ist, sondern sich künftig in gleicher Weise stellen oder ihre Beantwortung für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung sein wird (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 22. Oktober 2012 – 8 B 40.12 – juris Rn. 5 m.w.N.). Daran würde es ersichtlich fehlen, wenn sich die Frage, ob und wie das Berufungsgericht der sich abzeichnenden Rechtsänderung hätte Rechnung tragen müssen, auf die zwischen dem Einbringen des Gesetzentwurfs im September 2014 und dem Inkrafttreten des Gesetzes am 24. Dezember 2014 entschiedenen Verfahren beschränkte. Inwieweit sie darüber hinaus für künftige Fälle Bedeutung gewinnen kann, hängt davon ab, ob das Berufungsgericht unter der neuen Rechtslage sowie in Ansehung seiner neuesten Rechtsprechung zur Anwendbarkeit der §§ 13b, 18 Abs. 2 KAG LSA auf Altfälle (s. dessen Urteil vom 4. Juni 2015 – 4 L 24/14 – juris Rn. 43) an seiner Rechtsauffassung zur verfassungskonformen Auslegung von § 6 Abs. 6 Satz 1 KAG LSA a.F. nach erneuter Überprüfung festhalten wird; dies entzieht sich einer verlässlichen Prognose.
Rz. 13
c) Die Frage, ob Bundesverfassungsrecht der Auslegung einer kommunalabgabenrechtlichen Norm entgegensteht, derzufolge die Festsetzungsfrist vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres endet, in dem die beitragsauslösende Maßnahme abgeschlossen wurde, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – auch in Ansehung des durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützten öffentlichen Interesses am Vorteilsausgleich – dahin geklärt, dass dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit mit der Verpflichtung des Satzungsgebers zum rückwirkenden Erlass einer Heilungssatzung sowie dem damit einhergehenden rückwirkenden Beginn der Festsetzungsfrist Rechnung getragen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 Rn. 50).
Rz. 14
Ob die Schaffung eines angemessenen Ausgleichs zwischen dem Interesse der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit ausschließlich dem Gesetzgeber obliegt oder ob hiervon unabhängig auch die Gerichte hierzu berufen sind, ist vorliegend gleichfalls nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Höchstrichterlich geklärt ist, dass es Aufgabe vorrangig des Gesetzgebers ist, in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen einerseits der Allgemeinheit an der Beitragserhebung und andererseits der Beitragspflichtigen an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme zu schaffen (BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 Rn. 42, 46 f.; BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 9 C 19.14 – juris Rn. 13). Ebenso ist im Grundsatz geklärt und aus Anlass des vorliegenden Falles nicht weiter klärungsbedürftig, dass die Verwaltungsgerichte – auch während einer Übergangszeit bis zum Inkrafttreten einer verfassungsrechtliche Zweifel ausschließenden gesetzlichen Neuregelung – zu einer verfassungskonformen Gesetzesauslegung berechtigt und verpflichtet sind. Das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Eine Norm ist nur dann verfassungswidrig, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige, den normativen Gehalt der Regelung wahrende und dabei mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20. März 2014 – 4 C 11.13 – BVerwG 149, 211 ≪216 f.≫ m.w.N.).
Rz. 15
d) Schließlich ist nicht klärungsbedürftig, dass – wie nunmehr in § 6 Abs. 6 Satz 1 KAG LSA in der Fassung des Gesetzes vom 17. Dezember 2014 geregelt – die Entstehung einer Beitragspflicht ohne Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 GG vom Vorliegen einer wirksamen Beitragssatzung spätestens im Zeitpunkt des Beschlusses über die abzurechnende Maßnahme abhängig gemacht werden kann; dies entsprach auch der früheren Auffassung des Berufungsgerichts zum alten Recht (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 28. Februar 2005 – 4 M 525/04 – juris Rn. 5), die es erst mit seinem Beschluss vom 3. Juli 2006 (4 M 246/06 – juris Rn. 11) aufgegeben hat. Die weitere Frage, ob ein Gericht das von ihm zuvor anders angewendete Recht erst nachträglich dahingehend auslegen und seine Rechtsprechung mit der Folge ändern kann, dass rückwirkend eine Beitragserhebung ausgeschlossen wird, ist – wie vorstehend dargelegt – höchstrichterlich zu Art. 20 Abs. 3 GG geklärt. Auch wenn sich Gemeinden nicht auf einen Vertrauensschutz nach Art. 20 Abs. 3 GG berufen können, gelten im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 GG keine strengeren Anforderungen an eine Rechtsprechungsänderung.
Rz. 16
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
Unterschriften
Dr. Bier, Prof. Dr. Korbmacher, Steinkühler
Fundstellen