Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 24.07.2006; Aktenzeichen 9 B 02.30100) |
Tenor
Das Verfahren betreffend die Beschwerde der Beklagten wird eingestellt.
Auf die Beschwerde des Beteiligten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juli 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte die Hälfte. Die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Tatbestand
1. Die Beklagte hat ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision mit Schriftsatz vom 16. Januar 2007 zurückgenommen. Das Beschwerdeverfahren ist deshalb in entsprechender Anwendung von § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Entscheidungsgründe
2. Hingegen hat die Beschwerde des beteiligten Bundesbeauftragten mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Er rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage der Erreichbarkeit von Berg-Karabach und seiner Eignung als inländische Fluchtalternative nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Bundesbeauftragte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der von ihm im Berufungsverfahren vorgetragenen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (hier: OVG Lüneburg, OVG Schleswig, VGH Kassel und OVG Weimar) auseinandergesetzt hat, dass armenischen Volkszugehörigen im Gebiet von Berg-Karabach eine vom Ausland aus erreichbare Fluchtalternative eröffnet sei (Beschwerdebegründung S. 8 – 10). Der Bundesbeauftragte hat sich in seinem die Berufung begründenden Schriftsatz vom 24. Oktober 2003 ausdrücklich auf im Einzelnen nach Aktenzeichen und Entscheidungsdatum spezifizierte Entscheidungen der genannten Oberverwaltungsgerichte bezogen und auf deren abweichende Einschätzung zur Erreichbarkeit von Berg-Karabach hingewiesen. Zwar erwähnt das Berufungsgericht zwei der zitierten Entscheidungen als Beleg für seine eigene Einschätzung, dass das Gebiet von Berg-Karabach generell als verfolgungsfreie und zumutbare inländische Fluchtalternative in Betracht kommt (UA S. 18), setzt sich aber nicht mit der vom Bundesbeauftragten vorgetragenen Auffassung dieser und zweier weiterer Oberverwaltungsgerichte zur Erreichbarkeit des Zufluchtsgebiets auseinander. Die Tatsache, dass das Berufungsgericht auf das Vorbringen des Bundesbeauftragten in seinem Schriftsatz vom 24. Oktober 2003 in den Urteilsgründen nicht eingegangen ist und sich nicht mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der anderen Oberverwaltungsgerichte zur Erreichbarkeit von Berg-Karabach befasst hat, lässt angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen nicht in Erwägung gezogen hat. Das verletzt den Anspruch des Bundesbeauftragten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; zugleich liegt darin ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 1. März 2006 – BVerwG 1 B 85.05 – juris und BVerwG 1 B 86.05). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter – wie hier – einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom 21. Mai 2003 – BVerwG 1 B 298.02 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).
Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel auch beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit den Ausführungen der anderen Oberverwaltungsgerichte zu einer anderen Entscheidung betreffend die vom Bundesbeauftragten angesprochene Frage der Erreichbarkeit von Berg-Karabach als geeigneter Fluchtalternative gelangt wäre.
Zwar stützt das Berufungsgericht seine Einschätzung, dass Berg-Karabach keine zumutbare Fluchtalternative für die Kläger sei, des weiteren selbständig tragend auf die Einschätzung, dass es den Klägern nicht gelingen würde, sich dort eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen (UA S. 19 f.). Der Bundesbeauftragte rügt insoweit aber der Sache nach zu Recht, dass es für eine derartige Feststellung ebenfalls an einer hinreichenden Begründung fehlt (Beschwerdebegründung S. 10 f.). Das Berufungsurteil führt hierzu zunächst aus, das Auswärtige Amt könne den Wahrheitsgehalt von Medienberichten zur wirtschaftlichen Situation und Gesundheitsversorgung mangels gesicherter eigener Erkenntnisse nicht einschätzen (UA S. 20). Dann beurteilt das Berufungsgericht die Lage aber selbst, indem es von einer “kritischen wirtschaftlichen Lage in dieser Region” und von der “zunehmenden Verarmung weiter Bevölkerungsteile” spricht, ohne offenzulegen, aus welcher Quelle es diese Einschätzung schöpft. Schließlich kommt es zu dem Ergebnis, es lägen “keine Erkenntnisse vor”, dass die in Berg-Karabach familiär und sozial nicht verwurzelten Kläger ihr Leben selbst sichern könnten, ohne eine Aussage zu den dortigen Erwerbschancen zu treffen. Hinsichtlich der Existenzsicherung durch staatliche Unterstützungsleistungen für Flüchtlinge beschränkt sich das Urteil – wie die Beschwerde mit Recht rügt – auf die Feststellung, dass diese “für sich genommen nicht ausreichen dürfte” (UA S. 20), ohne hierzu abschließende Feststellungen zu treffen und offenzulegen, auf welche Tatsachen und Erkenntnisquellen es sich stützt. Mit derartig vagen, nicht durch Erkenntnisquellen belegten Ausführungen wird das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht gerecht.
Auf die vom Bundesbeauftragten erhobenen Grundsatz- und Divergenzrügen kommt es danach nicht mehr an.
Bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen des zurückverwiesenen Verfahrens wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass für die Prüfung einer internen Schutzmöglichkeit für die Kläger jetzt § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 maßgeblich ist.
3. Die Kostenentscheidung zu Lasten der Beklagten folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO, da sie ihre Beschwerde zurückgenommen hat. Im Übrigen folgt die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Unterschriften
Prof. Dr. Dörig, Richter, Beck
Fundstellen