Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 01.07.2011; Aktenzeichen 12 A 1558/09) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 2011 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Rz. 1
1. Das Prozesskostenhilfeersuchen ist mangels hinreichender Erfolgsaussichten, wie sich aus den nachfolgenden Darlegungen ergibt, abzulehnen (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).
Rz. 2
2. Die auf die Zulassungsgründe des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und der Grundsatzbedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung angeführten Gesichtspunkte rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht.
Rz. 3
a) Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen.
Rz. 4
Einen solchen sieht die Beschwerde darin, dass das Oberverwaltungsgericht in den Urteilsgründen darauf abgestellt habe, zum Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums der Tiermedizin in Jordanien habe bei der Klägerin keine hinreichende Drucksituation wie bei der später drohenden Zwangsverheiratung vorgelegen; die Klägerin habe im Endeffekt eine freie Wahlmöglichkeit gehabt, entweder in Jordanien oder in Deutschland zu studieren. Damit sei ein tatsächlicher Gesichtspunkt zur Entscheidungsgrundlage gemacht worden, der im gesamten bisherigen Rechtsstreit nicht Gegenstand der Betrachtung und Erörterung gewesen sei. Die tatsächliche Situation der Klägerin zum Beginn des Studiums sei weder angesprochen noch aufgeklärt worden, sodass die Klägerin hierzu nicht habe vortragen können. Tatsächlich habe für die Klägerin bei der Aufnahme des Studiums der Tiermedizin in Jordanien wegen der einschüchternden Wirkung ihres omnipräsenten und diktatorischen Vaters de facto nicht einmal der Hauch einer Chance bestanden, ihren Willen, in Deutschland zu studieren, durchzusetzen. Dies hätte durch eine intensive Befragung der Klägerin substantiiert untermauert und durch die Zeugenaussage ihrer Mutter, die im Übrigen wieder in Deutschland wohne, unter Beweis gestellt werden können.
Rz. 5
aa) Soweit die Beschwerde mit diesem Vorbringen das Vorliegen einer den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; § 108 Abs. 2 VwGO) verletzenden Überraschungsentscheidung geltend macht, liegt eine solche nicht vor.
Rz. 6
Der Anspruch auf rechtliches Gehör begründet grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten seine Auffassung jeweils vor dem Ergeben einer Entscheidung zu offenbaren. Ein Gericht muss die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinweisen und offenlegen, wie es seine Entscheidung im Einzelnen zu begründen beabsichtigt. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 29. Januar 2010 – BVerwG 5 B 21.09 – Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 61 Rn. 18 m.w.N.). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbietet aber, dass ein Beteiligter durch die angegriffene Entscheidung im Rechtssinne überrascht wird. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (Beschlüsse vom 7. Januar 2010 – BVerwG 5 B 67.09 – ZOV 2010, 97 und vom 29. Januar 2010 a.a.O. jeweils m.w.N.). Dagegen kann von einer Überraschungsentscheidung nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden (Urteil vom 2. Dezember 2009 – BVerwG 5 C 24.08 – BVerwGE 135, 302 = Buchholz 130 § 11 StAG Nr. 5 jeweils Rn. 34). Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung hier nicht erfüllt.
Rz. 7
Das Oberverwaltungsgericht hat in seinem Zulassungsbeschluss vom 25. November 2010 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass, “sollten auch tatsächliche Hindernisse die freie Wahlmöglichkeit eines Auszubildenden für ein Studium im Inland im Sinne der o.a. Rechtsprechung [des Bundesverwaltungsgerichts] ausschließen, […] ferner der vom Verwaltungsgericht ausdrücklich offen gelassenen Frage nachgegangen werden [müsse], ob diese im Falle der Klägerin vorlegen haben”. Die Klägerin hat ihr Vorbringen auf die Möglichkeit, dass eine einschränkende Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 BAföG auch beim Vorliegen tatsächlicher Hindernisse geboten sein kann, eingerichtet. Sie hat zu ihrer tatsächlichen Situation im Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums der Veterinärmedizin in Jordanien in der Berufungsbegründungsschrift vom 2. Dezember 2010 Ausführungen gemacht und ergänzend auf ihr diesbezügliches Vorbringen im Vorverfahren und Gerichtsverfahren, insbesondere in dem Erörterungstermin vor dem Verwaltungsgericht vom 26. Januar 2009 Bezug genommen. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Ausführungen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Es hat nicht angezweifelt, dass der streng islamgläubige Vater der Klägerin ihren Wunsch, nach dem Abitur in Deutschland zu studieren, kategorisch abgelehnt hat, weil aus seiner Sicht eine unverheiratete Frau nicht ohne Beaufsichtigung und Kontrolle durch ihre Familie im Ausland studieren dürfe. Damit hat es seiner sich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergebenden Pflicht Genüge getan. Dass das Oberverwaltungsgericht daraus andere als die von der Klägerin gewünschten Schlussfolgerungen gezogen hat, ändert daran nichts. Von einer unzulässigen Überraschungsentscheidung des Oberverwaltungsgerichts kann vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein.
Rz. 8
bb) Sollte die Beschwerde dahin zu verstehen sein, dass sie auch eine Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) hinsichtlich der unterbliebenen Vernehmung der Mutter der Klägerin als Zeugin und einer vermissten “intensiven Befragung” der Klägerin erhebt, wird der Verfahrensmangel ungenügender Sachaufklärung nicht in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gebotenen Weise dargelegt.
Rz. 9
Hierfür muss ausgeführt werden, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiellrechtlichen Auffassung des Oberverwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich oder geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiellrechtlichen Auffassung des Tatsachengerichts zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung hätten führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren (Urteil vom 22. Januar 1969 – BVerwG 6 C 52.65 – BVerwGE 31, 212 ≪217 f.≫ = Buchholz 237.5 § 106 HessBG 62 Nr. 1 S. 5 ff.; Beschluss vom 21. September 2011 – BVerwG 5 B 11.11 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Rz. 10
Diesen Anforderungen genügt der Hinweis der Beschwerde, es wäre möglich gewesen, die Mutter der Klägerin als Zeugin zu der innerfamiliären Drucksituation zu vernehmen, nicht. Die Beschwerde stellt insoweit keine konkreten Tatsachen in das Wissen der Zeugin, die geeignet wären, die Annahme des Oberverwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen, dass sich aus dem Verhalten der Klägerin im Zusammenhang mit der drohenden Zwangsverheiratung ergebe, dass sie ungeachtet der familiären Drucksituation in der Lage gewesen sei, Jordanien zu verlassen. Die Klägerin zeigt auch nicht auf, welche konkreten Tatsachen von ihrer Mutter bezeugt worden wären, die geeignet gewesen wären, die weitere Annahme des Oberverwaltungsgerichts zu widerlegen, dass nichts dafür ersichtlich sei, dass die innerfamiliäre Drucksituation im Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums der Veterinärmedizin der zu einem späteren Zeitpunkt mit Blick auf die Zwangsverheiratung gegebenen Drucksituation entsprochen habe. Entsprechendes gilt, soweit die Klägerin ihre eigene “intensive Befragung” vermisst.
Rz. 11
Darüber hinaus legt die Beschwerde nicht dar, dass bzw. warum sich dem Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage seiner Rechtsansicht und des ihm zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Tatsachenmaterials die unterbliebene Zeugenvernehmung hätte aufdrängen müssen, nachdem der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung keinen diesbezüglichen Beweisantrag gestellt hatte. Auch eine “intensive Befragung” der Klägerin musste sich der Vorinstanz nicht aufdrängen.
Rz. 12
cc) Der Sache nach erschöpft sich das Vorbringen der Beschwerde in einer Kritik der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung durch das Oberverwaltungsgericht im Einzelfall. Dies kann einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen. Eine Ausnahme hiervon kommt bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht (vgl. Urteil vom 19. Januar 1990 – BVerwG 4 C 28.89 – BVerwGE 84, 271 ≪272≫; Beschlüsse vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266, vom 14. Juni 2010 – BVerwG 1 B 4.10 – juris Rn. 10 und vom 21. September 2011 a.a.O. Rn. 9). Derartige Verstöße zeigt die Beschwerde nicht auf.
Rz. 13
b) Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Rz. 14
Die Beschwerde hält im Zusammenhang mit § 7 Abs. 1 Satz 2 BAföG die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig,
“ob auch tatsächliche Hinderungsgründe von stark ausgeprägtem Gewicht eine freie und offene Wahlmöglichkeit ausschließen können oder nicht, so dass BAföG, genau wie bei Spätaussiedlern oder Asylanten, für die dann später in Deutschland aufgenommene Ausbildung als erste Ausbildung anzuerkennen ist mit der Folge der Förderung zur Hälfte als Zuschuss und nur der anderen Hälfte als Darlehen mit der nur dann auch auf die Rückzahlung von maximal 10 000 € beschränkten Rückzahlungsverpflichtung.”
Rz. 15
Diese Frage würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, gegen die – wie dargelegt – durchgreifende Verfahrensrügen nicht erhoben wurden, nicht stellen. Das Oberverwaltungsgericht hat mit bindender Wirkung für den Senat festgestellt (§ 137 Abs. 2 VwGO), dass der Umstand, dass der streng islamgläubige Vater der Klägerin ihren Wunsch, nach dem Abitur in Deutschland zu studieren, kategorisch abgelehnt hat, nicht geeignet war, die der Klägerin aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit zustehende Handlungsalternative eines Studiums in Deutschland auszuschließen und konkrete Anhaltspunkte für eine Drucksituation wie im Fall der Zwangsverheiratung weder vorgetragen noch ersichtlich sind. Danach wäre auch in dem angestrebten Revisionsverfahren in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass keine die freie Wahlmöglichkeit ausschließenden tatsächlichen Hindernisse vorliegen.
Rz. 16
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
Rz. 17
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Unterschriften
Vormeier, Stengelhofen, Dr. Störmer
Fundstellen