Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitnehmerfreizügigkeit. Aufenthaltserlaubnis-EG. Ausweisung. deklaratorische Bedeutung. Freizügigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ein Unionsbürger, der eine gültige Aufenthaltserlaubnis-EG besitzt, kann grundsätzlich nur nach Maßgabe des § 12 AufenthG/EWG ausgewiesen werden.
Normenkette
Richtlinie 68/360/EWG Art. 4; AufenthG/EWG § 1 Abs. 4, § 3 Abs. 3-4, § 12
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Entscheidung vom 01.08.2000; Aktenzeichen 10 B 00.695) |
VG Augsburg (Entscheidung vom 17.01.2000; Aktenzeichen Au 1 K 99.633) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1. August 2000 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Beklagte beruft sich zunächst auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Beschwerde macht nicht ersichtlich, dass diese Voraussetzungen vorliegen.
Die Beschwerde hält die Frage für klärungsbedürftig, „ab welcher Zeitdauer die Arbeitnehmereigenschaft eines Arbeitnehmers im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG endet und damit der aus der Vorrangregelung des § 2 Abs. 2 AuslG und dem Aufenthaltsgesetz/EWG abgeleitete besondere gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz entfällt, weil er wegen der Verbüßung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe nicht mehr vermittelbar ist.” Zur Begründung verweist sie darauf, dass eine gesetzliche Grundlage oder ein aus einer höchstrichterlichen Entscheidung ableitbarer Grundsatz, wonach die Arbeitnehmereigenschaft eines EU-Angehörigen – wie vom Berufungsgericht angenommen – erst bei einer mehr als zwei Jahre andauernden Arbeitslosigkeit entfallen solle, nicht ersichtlich sei.
Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass die aufgeworfene Frage in einem Revisionsverfahren erheblich wäre. Sie berücksichtigt insbesondere nicht, dass der von der Beklagten mit dem angefochtenen Bescheid ausgewiesene Kläger – ein nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe arbeitslos gewordener italienischer Staatsangehöriger – nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine Aufenthaltserlaubnis-EG besitzt. Über diese am 10. Dezember 1997 ausgestellte Aufenthaltserlaubnis verfügte er bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids am 21. April 1999. Die auf Grund von Art. 4 der Richtlinie 68/360/EWG gemäß § 1 Abs. 4 AufenthG/EWG erteilte Aufenthaltserlaubnis-EG soll den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats in die Lage versetzen, seine Rechtsstellung im Hinblick auf die Anwendung des EG-Vertrags und der zu seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen nachzuweisen (vgl. EuGH, Slg. 1977, 1495, 1503 – Sagulo –; vgl. ferner amtl. Begr. zu § 1 Abs. 4 AufenthaltsG/EWG, BT-Drucks 11/6321, S. 86). Durch Erteilung der Aufenthaltserlaubnis-EG wird festgestellt, dass der betroffene Unionsbürger die zur Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit notwendigen Voraussetzungen erfüllt (vgl. EuGH, Slg. I-1993, 2925, 2956 = NVwZ 1993, 765 – Tsiotras –; Fischer, ZAR, 1991, 3, 4). Einem Unionsbürger, der eine gültige Aufenthaltserlaubnis-EG besitzt, kann damit regelmäßig nicht entgegengehalten werden, er erfülle nicht die Voraussetzungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (vgl. aber zur Möglichkeit einer nachträglichen Befristung der Aufenthaltserlaubnis-EG § 3 Abs. 4 AufenthG/EWG). Einschränkungen der Freizügigkeit eines solchen Unionsbürgers in Gestalt etwa einer Ausweisung sind grundsätzlich nur nach Maßgabe des § 12 AufenthG/EWG zulässig. So liegt es hier. Auf die von der Beschwerde aufgeworfene – auch vom Berufungsgericht unter Heranziehung des § 3 Abs. 3 Satz 3 AufenthG/EWG erörterte – Frage kommt es nach allem nicht an.
Aus der lediglich deklaratorischen Bedeutung der Aufenthaltserlaubnis-EG ergibt sich nichts Abweichendes. Diese Erlaubnis hat insofern keine rechtsbegründende Wirkung, als das Aufenthaltsrecht für freizügigkeitsberechtigte Gemeinschaftsangehörige bereits aufgrund des primären, dem nationalen Recht vorgehenden Gemeinschaftsrechts besteht und deshalb nicht von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abhängt (vgl. EuGH, Slg. 1976, 497, 512 – Royer – und 1980, 2171, 2185 f.- Pieck –; Hailbronner, Ausländerrecht § 1 AufenthG/EWG Rn. 57). Das Berufungsgericht missversteht indes diese Rechtsprechung, wenn es dem Besitz der Aufenthaltserlaubnis-EG in Ausweisungsfällen eine rechtliche Bedeutung abspricht. Im Gegenteil wird infolge der feststellenden Wirkung dieser Erlaubnis gerade nach außen dokumentiert, dass der Ausländer die Rechtsstellung eines freizügigkeitsberechtigten Gemeinschaftsangehörigen innehat. Aus der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Fall Roux (Slg. I-1991, 273 = InfAuslR 1991, 350) folgt nichts anderes. Allerdings hat die fehlerhafte Erwägung des Berufungsgerichts keine Auswirkungen auf das von ihm erzielte Ergebnis, da es annimmt, dass der Kläger Arbeitnehmer i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG ist und aus diesem Grund den Schutz des Gemeinschaftsrechts genießt.
2. Die Beschwerde rügt ferner eine Abweichung von der Rechtsprechung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Divergenz im Sinne der vorgenannten Vorschrift liegt nur vor, wenn das Berufungsgericht mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgerückt ist; dabei müssen sich die Rechtssätze grundsätzlich auf dasselbe Gesetz beziehen.
Die Beschwerde legt dar, das Berufungsgericht sei insbesondere von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Januar 1996 (InfAuslR 1996, 137 = Buchholz 402.240 § 45 AuslG Nr. 5) und vom 7. Dezember 1999 (InfAuslR 2000, 176) abgewichen. Aus diesen Entscheidungen folge, dass die Ausländerbehörde bei ihrer Prognoseentscheidung im Rahmen der Prüfung spezialpräventiver Gründe nach § 47 AuslG einen anderen, strengeren Maßstab als andere Stellen anlegen könne. Dies habe das Berufungsgericht nicht berücksichtigt. Damit und mit dem weiteren Beschwerdevorbringen, das noch auf andere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts hinweist, ist bereits nicht substantiiert dargetan, von welchem Rechtssatz sich das Berufungsgericht habe leiten lassen und inwiefern dieser der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts widerspreche. Eine Rechtsprechungsdivergenz ist damit nicht ordnungsgemäß bezeichnet. Im Übrigen berücksichtigt die Beschwerde nicht, dass das Berufungsgericht (vgl. UA S. 10) ausdrücklich eine Bindung der Ausländerbehörde an die tatsächlichen Feststellungen und an die Beurteilung des Strafrichters – hier des Urteils des LG Kempten vom 18. August 1988 – verneint hat (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 1997 – BVerwG 1 B 132.97 –). Aus dem Fehlen einer derartigen Bindung kann aber – entgegen der von der Beschwerde offenbar vertretenen Auffassung – nicht geschlossen werden, dass der Ausländerbehörde bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr ein die Prüfungsbefugnis der Tatsachengerichte einschränkender Beurteilungsspielraum zusteht. In der Rechtsprechung des Senats ist vielmehr geklärt, dass die Tatsachengerichte berechtigt und verpflichtet sind zu prüfen, ob sich die von der Ausländerbehörde – bezogen auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung – getroffene Einschätzung des Sachverhalts, insbesondere bezüglich einer für die Ausweisung maßgebenden Gefahr neuer Verfehlungen, als richtig erweist oder nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Oktober 1989 – BVerwG 1 B 106.89 – InfAuslR 1990, 4, 5 m.w.N.).
Die Beschwerde macht darüber hinaus geltend, das Berufungsgericht sei von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids abgewichen, indem es bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr die rund drei Wochen nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellte Stellungnahme des den Kläger behandelnden Therapiezentrums einbezogen habe.
Dieses Vorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht, da die Beschwerde auch insoweit nicht darlegt, von welchem Rechtssatz sich das Berufungsgericht habe leiten lassen. Abgesehen davon ist das Berufungsgericht nicht von der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts, dass für die rechtliche Beurteilung der Ausweisungsverfügung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung maßgebend ist, abgewichen, sondern hat sie gerade seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Es hat nämlich unter Bezugnahme auf den erwähnten Beschluss vom 16. Oktober 1989 dargelegt, da der Zeitraum mit drei Wochen nur unwesentlich sei, könne davon ausgegangen werden, dass die in der Stellungnahme angestellte Prognose sich im Wesentlichen auf die Sachlage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids bezöge. In dem genannten Beschluss hat der Senat dargelegt, die Tatsachengerichte dürften und müssten auch Erkenntnismittel heranziehen und auswerten, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids entstanden oder zugänglich geworden sind, wenn diesen Erkenntnismitteln Anhaltspunkte für die Richtigkeit der im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids getroffenen Einschätzung entnommen werden könnten.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Unterschriften
Dr. Paetow, Dr. Mallmann, Richter
Fundstellen
Haufe-Index 604689 |
DÖV 2001, 912 |
InfAuslR 2001, 312 |
AuAS 2001, 173 |
AuAS 2001, 232 |
BayVBl. 2001, 667 |
DVBl. 2001, 1530 |