Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Aktenzeichen 8 A 12062/99) |
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. September 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
II. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Klägerin ist Eigentümerin eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks. Der Beigeladene ist ihr Grundstücksnachbar. Die Klägerin begehrt von dem beklagten Landkreis ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Beigeladenen. Sie sieht sich in ihren Rechten unter anderem dadurch beeinträchtigt, dass eine Außenwand des Hauses des Beigeladenen zu ihrer Grundstücksseite hin Öffnungen enthält und einen nach ihrer Auffassung gebotenen Mindestabstand nicht beachtet. Die Beteiligten streiten ferner über Inhalt und Beachtung erteilter Baugenehmigungen.
Der Beklagte lehnte ein Einschreiten mit dem Hinweis ab, die von der Klägerin beanstandete Bauausführung stehe mit dem Bauordnungsrecht in Einklang. Das Verwaltungsgericht wies die erhobene Untätigkeitsklage als unbegründet ab. Die dagegen gerichtete Berufung hatte keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf den Gesichtspunkt gestützt, dass die Klägerin ihr Recht verwirkt habe.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin, mit der sie die Zulassung der Revision begehrt. Das angegriffene Urteil werfe Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf und weiche von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts ab. Es sei auch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das Berufungsurteil stelle eine Überraschungsentscheidung dar. Der Gesichtspunkt der Verwirkung sei in der mündlichen Verhandlung nicht behandelt worden. Dies werde anwaltlich versichert. Auch im bisherigen Prozessverfahren habe der Gesichtspunkt der Verwirkung keine Bedeutung gespielt.
Der Beklagte ist der Beschwerde in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht entgegengetreten. Der Beigeladene hat sich – anwaltlich nicht vertreten – der Auffassung des Beklagten angeschlossen.
Das Beschwerdegericht hat die an der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht beteiligten Berufsrichter um eine dienstliche Äußerung darüber gebeten, ob in der mündlichen Verhandlung der Gesichtspunkt der Verwirkung erörtert worden sei. Hierzu wurden Erklärungen abgegeben. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich dazu zu äußern.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet.
Das Urteil des Berufungsgerichts leidet unter einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung macht der beschließende Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch.
1. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil stellt in der Art und Weise seiner Begründung für die Klägerin eine „Überraschungsentscheidung” dar. Die Beschwerde hat dies schlüssig dargelegt (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
a) Eine gerichtliche Entscheidung stellt sich dann als unzulässiges „Überraschungsurteil” dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher insbesondere der unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 1980 – BVerwG 4 C 87.77 – Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 30; Urteil vom 31. Mai 1983 – BVerwG 4 C 20.83 – Buchholz 310 § 108 Nr. 135; Urteil vom 10. April 1991 – BVerwG 8 C 106.89 – Buchholz 310 § 108 Nr. 235; Beschluss vom 23. Dezember 1991 – BVerwG 5 B 80.91 – Buchholz 310 § 108 Nr. 241). Ein Überraschungsurteil liegt danach unter anderem vor, wenn die das angefochtene Urteil tragende Erwägung weder im gerichtlichen Verfahren noch im früheren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren erkennbar thematisiert worden war. Um dies auszuschließen, sind in der mündlichen Verhandlung gemäß §§ 104 Abs. 1, 86 Abs. 3 VwGO und gemäß §§ 173 VwGO, 278 Abs. 3 ZPO die maßgebenden Rechtsfragen zu erörtern. Das erfordert allerdings nicht, dass das Gericht den Beteiligten bereits die möglichen Entscheidungsgrundlagen darlegt. Ist ein Beteiligter – wie hier gemäß § 67 Abs. 1 VwGO – anwaltlich vertreten, darf ein Berufungsgericht grundsätzlich davon ausgehen, dass sich sein Prozessbevollmächtigter mit der maßgeblichen Sach- und Rechtslage hinreichend vertraut gemacht hat.
b) Das Berufungsurteil ist tragend auf den Gesichtspunkt der Verwirkung gestützt. Die Entscheidungsgründe führen aus, dass die Klägerin „unabhängig von der Frage, ob der Klägerin in materieller Hinsicht ein solcher Anspruch überhaupt zuerkannt werden kann”, ihr Klagerecht bereits prozessual wegen Untätigkeit verwirkt habe. Das Berufungsgericht betont ferner, dass die Klägerin zu dem das Urteil tragenden Gesichtspunkt der Verwirkung der nachbarlichen Befugnisse in einem ihr nachgelassenen Schriftsatz nichts vorgetragen habe, was eine andere Entscheidung rechtfertigen könnte, sodass die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht zu beschließen gewesen sei. Auch der Begründungsaufbau der Entscheidung bestätigt, dass es dem Berufungsgericht tragend auf den Gesichtspunkt der Verwirkung ankam. Lediglich ergänzend führt das Berufungsgericht aus, dass die von der Klägerin vorgetragenen brandschutzrechtlichen Bedenken nicht gegeben seien. Eine – an sich mögliche – Mehrfachbegründung der Entscheidung liegt danach nicht vor.
c) Der Gesichtspunkt der Verwirkung hatte im erstinstanzlichen Verfahren keine Bedeutung. Das Verwaltungsgericht hat seine klageabweisende Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt nicht gestützt. Demgemäß hatte die Berufungsbegründung der Klägerin keinen hinreichenden Anlass, auf diese Frage von sich aus einzugehen.
Auch schriftsätzlich ist der Gesichtspunkt der Verwirkung zwischen den Beteiligten nicht näher erörtert worden. Das ergibt eine Durchsicht der Gerichtsakten. Allerdings befindet sich in den Verwaltungsvorgängen des Beklagten (Bl. 68 f. der vorgelegten Bauakte 96/5/00795/Max/B) ein an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin gerichtetes Schreiben vom 19. November 1998 mit Ausführungen zur Frage der Verwirkung. Der Beklagte hat sich ausdrücklich auf diese Stelle der Verwaltungsvorgänge in seinem erstinstanzlichen Klageabweisungsantrag bezogen, ohne dabei allerdings das Schreiben inhaltlich wiederzugeben. Es wäre indes eine Überspannung anzunehmen, dass damit die Frage der Verwirkung erkennbar zu einem Streitpunkt des erstinstanzlichen Verfahrens geworden wäre. Man muss diese Verwaltungsvorgänge erst lesen, um überhaupt zu wissen, was mit dem verweisenden Vorbringen des Beklagten gemeint war. Die erstinstanzliche Erwiderung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin behandelt zwar die Frage, ob die Klägerin gegen die erteilte Baugenehmigung hätte vorgehen können. Die Zielsetzung der Klage ist aber eine andere. Mit ihr soll geltend gemacht werden, der Beigeladene habe die Auflagen der ihm erteilten Baugenehmigung nicht eingehalten.
Das schriftsätzliche Vorbringen der Beteiligten im Berufungsverfahren im Zeitpunkt vor der mündlichen Verhandlung behandelt die Frage der Verwirkung ebenfalls nicht. Die Berufungserwiderung des Beklagten enthält zwar den Hinweis, die Klägerin hätte seinerzeit Widerspruch einlegen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen müssen. Das deutet auf ein als erheblich angesehenes Fristversäumnis hin. Es wird aber eingeräumt, dass das erstinstanzliche Gericht diese Frage nicht näher gewürdigt habe. Die Zielrichtung des Berufungsgerichts – durch den Vorsitzenden als Berichterstatter – war auch im Sinne einer inhaltlichen Streiterledigung zunächst eine durchaus andere. Die Auflagenverfügung bezog sich auf Fragen des Brandschutzes. Ersichtlich und verständlicherweise wollte der berichterstattende Richter damit die Möglichkeit einer inhaltlichen Beurteilung des Streitfalles fördern.
2. Bei dieser Sachlage müsste das Berufungsgericht auf den Gesichtspunkt einer möglichen Verwirkung der klägerischen Rechte in der mündlichen Verhandlung hinweisen, wenn es näher in Betracht zog, seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt zu stützen. Das Beschwerdegericht hat nicht feststellen können, dass dieser Hinweis erfolgt ist oder sich der Gesichtspunkt der Verwirkung – mochte das Wort auch nicht geäußert werden – aus dem Gesamtablauf jedenfalls einem Rechtskundigen aufdrängen musste. Aus diesem Grunde legt das Beschwerdegericht seiner Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht die anwaltlich versicherte Darstellung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugrunde.
a) Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 23. August 2000 enthält keinen Hinweis darauf, dass in ihr die Frage der Verwirkung erörtert wurde. Allerdings sind derartige Hinweise nicht zwingend vorgeschrieben (vgl. § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 3 ZPO), mag dies im Einzelfall auch ratsam sein.
Der in der Niederschrift festgehaltene Gang der mündlichen Verhandlung legt auch eher nahe, dass sich das Berufungsgericht nur der Frage des Brandschutzes näher widmete. Das konnte – zumindest subjektiv – bei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin den Eindruck erwecken, dass es für den Erfolg der Berufung gerade hierauf ankommen konnte. Immerhin macht dies den Antrag verständlich, sich zu dieser Frage in einem nachgelassenen Schriftsatz zu äußern. Der nachgelassene Schriftsatz vom 15. September 2000 geht auch nur auf diesen Problembereich ein.
b) Zum Inhalt der mündlichen Verhandlung tragen der Prozessbevollmächtigte der Klägerin und der Vertreter des Beklagten gegensätzliche Darstellungen vor. Der in der mündlichen Verhandlung anwesende Vertreter des Beigeladenen hat sich gegenüber dem Beschwerdegericht nicht zur Sache geäußert.
Dass die jeweilige Wahrnehmung und Erinnerung unterschiedlich ist, ist nach der Interessenlage verständlich und lässt gesicherte Feststellungen in der einen oder anderen Richtung nicht zu. Für den Vertreter des Beklagten lag es nahe, in Kenntnis der Verwaltungsvorgänge und der teilweise von ihm selbst gezeichneten Schreiben die in der mündlichen Verhandlung vom Berufungsgericht vorgenommene Prüfung der ordnungsgemäßen Bekanntgabe der Baugenehmigung dahin zu verstehen, dass die Frage der Verwirkung inmitten stand. Für den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mochte dagegen maßgebend sein, dass das Berufungsgericht zum einen zu Gunsten der Klägerin die gerade von ihm geltend gemachte fehlerhafte Bekanntgabe der Baugenehmigung prüfte und sich zum anderen durch Befragung des beigezogenen Bediensteten der Frage des Brandschutzes und damit der Sache selbst widmete.
c) Erlauben die jeweils gegebenen Darstellungen der rechtskundigen Vertreter der Prozessbeteiligten kein klares Bild, kommt im Ergebnis der im Verfahren des Freibeweises vorgenommenen Beweiserhebung die entscheidende Bedeutung zu. Nach dem Inhalt ihrer dienstlichen Äußerungen können die Berufsrichter – entsprechend ihrer jetzigen Erinnerung der Vorgänge – nicht ausschließen, dass der Gesichtspunkt der Verwirkung nicht so hinreichend deutlich behandelt wurde, dass für einen Rechtskundigen die streitentscheidende Bedeutung einer Verwirkung ohne weiteres erkennbar hätte sein müssen. Das Beschwerdegericht folgt dieser einleuchtenden Darstellung der Berufsrichter. Zumindest dem äußeren Anschein nach stand die Frage der Verwirkung nicht im Zentrum der mündlichen Verhandlung. Genauere Feststellungen über den tatsächlichen Ablauf der mündlichen Verhandlung sind dem Beschwerdegericht nicht möglich. Damit muss es sein Bewenden haben. Dem Beschwerdegericht ist bei seiner tatsächlichen Würdigung bewusst, dass – wie der Beklagte in seiner Beschwerdeerwiderung zutreffend hervorhebt – zwischen der behandelten Frage der wirksamen Bekanntgabe der Baugenehmigung und der Frage der Verwirkung durchaus ein Zusammenhang besteht.
3. Das Berufungsurteil beruht auch auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler. Die Beschwerde legt näher dar, was die Klägerin im Falle eines richterlichen Hinweises vorgetragen hätte.
Ob diesem Vorbringen vor dem Berufungsgericht letztlich Erfolg beschieden gewesen wäre, hat das Beschwerdegericht nicht zu entscheiden. Es sieht auch von der Prüfung ab, ob die Klage im Hinblick auf das materielle Bauordnungsrecht eine Klageabweisung rechtfertigen würde (vgl. §§ 173 VwGO, 565 Abs. 4 ZPO).
4. Auf weitere geltend gemachte Zulassungsgründe kommt es für den Erfolg der Beschwerde nicht an. Das Beschwerdegericht bemerkt insoweit ergänzend, dass mit den Zulassungsgründen nach § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO nur Fragen des revisiblen Rechts geltend gemacht werden können (vgl. §§ 137, 173 VwGO, 562 ZPO). Dazu zählt das Bauordnungsrecht nicht. Das gilt auch, soweit ungeschriebenes Recht der Ergänzung des irrevisiblen Landesrechts dient.
5. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 14 Abs. 1 und 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG. Dem Berufungsgericht bleibt eine abschließende Kostenentscheidung vorbehalten.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Jannasch
Fundstellen