Verfahrensgang
OVG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 29.11.2011; Aktenzeichen 3 L 200/06) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 29. November 2011 wird verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde der Beklagten bleibt ohne Erfolg, da sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspricht.
Rz. 2
1. Wird die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache begehrt, setzt die hinreichende Darlegung dieses Zulassungsgrundes gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch nicht geklärten und sowohl für das Berufungsgericht als auch die angefochtene Revisionsentscheidung entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts voraus und verlangt außerdem die Angabe, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr, vgl. Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Beschwerde nicht.
Rz. 3
Die Beschwerde hat mit Schriftsatz vom 6. Februar 2012 die Frage aufgeworfen,
“ob die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG bei einer Gruppenverfolgungslage sich generell auch auf bei Rückkehr drohende Eingriffe erstreckt, die dem Typus der Individualverfolgung zuzuordnen sind, oder derlei nur bei atypischen – und dann besonders zu begründenden – Konstellationen angenommen werden kann.”
Rz. 4
Mit diesem und dem weiteren innerhalb der zweimonatigen Frist zur Begründung der Beschwerde (§ 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO) eingegangenen Vorbringen zeigt die Beschwerde keine klärungsbedürftige Frage auf. Sie setzt sich insbesondere nicht damit auseinander, dass die Richtlinie 2004/83/EG nicht danach differenziert, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht.
Rz. 5
Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) geklärt, dass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG im Asylerstverfahren zu beachten ist, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 – Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. – Slg. 2010, I-1493 Rn. 93). In Anwendung dieser Grundsätze ist das Berufungsgericht – ungeachtet seiner missverständlichen Formulierung, dass es an einem “grundlegenden Wandel der für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus maßgeblichen tatsächlichen Umstände” fehle (UA S. 13) – der Sache nach davon ausgegangen, dass sich die den Klägern zu 1 und 2 im Falle einer Rückkehr drohende Gefahr trotz zwischenzeitlichen Wechsels des Verfolgungsakteurs und Änderung der Intensität der Verfolgungsbedrohung als Fortsetzung der Gefahren darstellen würde, die sie zur Ausreise gezwungen hätten (UA S. 11), und keine stichhaltigen Gründe zu erkennen seien, dass sie bei einer Rückkehr nicht von Verfolgung bedroht wären (UA S. 13). Begründet hat es dies damit, dass die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise unmittelbar von einer an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgung bedroht gewesen seien, da seinerzeit die russischen Sicherheitskräfte Tschetschenen generell als feindselig betrachtet hätten, sofern sie nicht auf ihrer Seite tätig gewesen seien (UA S. 9 f.). Damit knüpfte die vom Berufungsgericht angenommene Vorverfolgung nicht nur an die tschetschenische Volkszugehörigkeit der Kläger, sondern auch an die dieser Volksgruppe von den verfolgenden russischen Sicherheitskräften generell zugeschriebene Gegnerschaft und damit an ihre vermeintliche politische Überzeugung an (vgl. Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG). Gleiches gilt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts für die den Klägern zu 1 und 2 im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien nunmehr von den tschetschenischen Sicherheitskräften drohende Gefahr.
Rz. 6
2. Die Beschwerde genügt auch bezüglich der gerügten Verfahrensfehler nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Bei einer Verfahrensrüge ist den Darlegungspflichten nur genügt, wenn der geltend gemachte Verfahrensmangel sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, vgl. Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – a.a.O.). Dabei hat der Senat im Rahmen der Verfahrensrügen der Beklagten nicht zu beurteilen, ob die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts im Ergebnis sachlich zutreffend sowie in der Begründung durchweg überzeugend ist oder ob verfahrensfehlerfrei auch eine andere Bewertung des Erkenntnismaterials möglich gewesen wäre.
Rz. 7
a) Die Beschwerde bemängelt zunächst, das Berufungsgericht habe sich bei Anwendung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zwar mit der Frage des inneren Zusammenhangs zwischen der bei der Ausreise und der bei heutiger Rückkehr drohenden Gefahrenlage befasst. Die Bejahung des nötigen Zusammenhangs zeige sich aber nicht als hinreichend tragfähig und damit als verfahrensfehlerhaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei bei der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG jeweils im Einzelfall zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung erstrecke. Diesbezüglich habe das Berufungsgericht keine erkennbaren Feststellungen getroffen.
Rz. 8
Mit diesem und dem weiteren Vorbringen macht die Beschwerde lediglich geltend, dass ihrer Auffassung nach die tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts für eine Prüfung auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht genügten. Dies vermag schon im Ansatz keinen eine Zulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler zu begründen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass sich die Ausführungen in den von der Beschwerde zitierten Urteilen des Senats vom 27. April 2010 – BVerwG 10 C 4.09 – (BVerwGE 136, 360 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 38) und – BVerwG 10 C 5.09 – (BVerwGE 136, 377 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 39) lediglich zu der Frage verhalten, wann die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG beim subsidiären Schutz eingreift.
Rz. 9
b) Die Beschwerde greift weiter bei der Rückkehrprognose die vom Berufungsgericht zur Lage in Tschetschenien getroffene Annahme an, letztlich alle Personen, die vom Alter her als potentielle Rebellen in Betracht kämen und nach einem längeren Auslandsaufenthalt zurückkehrten, würden das erhöhte Interesse der tschetschenischen Sicherheitskräfte erregen, weil sie dem Verdacht unterlägen, etwas mit dem tschetschenischen Widerstand zu tun zu haben. Diese Feststellung beruhe mangels substantieller Untermauerung in den vom Berufungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen auf einer bloßen Tatsachenbehauptung und widerspreche der berufungsgerichtlichen Spruchpraxis anderer Gerichtsbezirke, etwa der Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in seinem Urteil vom 24. November 2009 – 11 B 06.30899 –. Mit diesem Vorbringen wendet sich die Beschwerde primär gegen die den Tatsachengerichten vorbehaltene – und hier vom Berufungsgericht unter Auswertung neuerer Erkenntnismittel getroffene – Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass es auch insoweit an der schlüssigen Darlegung eines Verfahrensfehlers fehlt.
Rz. 10
c) Das Vorbringen der Beschwerde genügt schließlich auch hinsichtlich der Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht den Anforderungen an die Darlegung eines Verfahrensmangels. In diesem Zusammenhang wendet sich die Beschwerde gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, von den Klägern könne vernünftigerweise ein Aufenthalt auf dem sonstigen Territorium der russischen Föderation nicht erwartet werden. Dort könnten sie die für einen zumutbaren dauerhaften Aufenthalt erforderliche Registrierung nach den vorliegenden Auskünften mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich nicht erreichen. Damit wären sie zu einem Leben gezwungen, in dem die Gefahr der Festnahme wegen illegalen Aufenthalts und des zwangsweisen Verbringens nach Tschetschenien bestehe. Ein solches Leben könne vernünftigerweise nicht erwartet werden. Denn die Kläger wären auch bei einem Untertauchen in die tschetschenische Diaspora nicht in der Lage, auf Dauer dort zu überleben. Dafür seien nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand Januar 2011) finanzielle Mittel, eine Ausbildung und Familienanschluss erforderlich; darüber verfügten die Kläger nicht. Allein die russischen Sprachkenntnisse des Klägers zu 1 genügten nicht, um ihnen das Existenzminimum zu sichern (UA S. 18 f.).
Rz. 11
Soweit die Beschwerde hier einen Verstoß gegen die richterliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) rügt, weil die vom Berufungsgericht verwerteten Erkenntnismittel eine tragfähige Schlussfolgerung auf die landesweite Situation nicht zuließen, genügt ihr Vorbringen nicht den Anforderungen an die Darlegung dieses Verfahrensfehlers. Denn bei einem Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz muss nicht nur substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlicher Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, sondern auch, welche für geeignet und für geboten erachteten Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – a.a.O.). Stattdessen führt die Beschwerde lediglich aus, dass und warum das Berufungsgericht ihrer Auffassung nach aus den in den Entscheidungsgründen inhaltlich wiedergegebenen Erkenntnisquellen falsche Schlussfolgerungen gezogen habe. Dieses Vorbringen vermag einen Verstoß gegen die richterliche Aufklärungspflicht nicht zu begründen. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde auch insoweit gegen die den Tatsachengerichten vorbehaltene Sachverhalts- und Beweiswürdigung.
Rz. 12
Das Vorbringen der Beschwerde genügt schließlich auch mit Blick auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht den Anforderungen an die Darlegung eines Verfahrensmangels. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Grundsätze der Beweiswürdigung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Ein Verfahrensfehler kann ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet. Ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt aber nur dann vor, wenn sich der gerügte Fehler hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts, abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat (vgl. Beschluss vom 8. März 2012 – BVerwG 10 B 2.12 – juris m.w.N.). Einen solchen qualifizierten Mangel der Beweiswürdigung zeigt die Beschwerde nicht auf.
Rz. 13
Der Sache nach kritisiert sie auch hier lediglich die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts zum Nichtbestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative, die sie auf der Grundlage der dem Berufungsgericht vorliegenden Erkenntnismittel als nicht ausreichend belegt bzw. tragfähig begründet erachtet. Damit lässt sich ein Verfahrensfehler bei der Beweiswürdigung nicht begründen. Soweit sie in diesem Zusammenhang bemängelt, dass bezüglich der Möglichkeit einer Registrierung den vom Berufungsgericht verwerteten Quellen keine landesweit geltenden Aussagen zu entnehmen seien, übergeht sie im Übrigen die gegenteilige Einschätzung des im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zitierten Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation (UA S. 16). Soweit sie weiter behauptet, hinsichtlich der Gefahr einer zwangsweisen Verbringung nach Tschetschenien fehle es an einer tragfähigen Herleitung, setzt sie sich nicht damit auseinander, dass nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes aus den Nordkaukasusrepubliken stammende Personen weiterhin dem Zugriff der Behörden ihrer Heimatregionen unterworfen sind und es in diesem Zusammenhang nach glaubhaften Berichten von Menschenrechtsorganisationen regelmäßig zu Rückführungen in die Heimatregion kommt (UA S. 16). Auch legt sie nicht dar, inwiefern dieser Umstand für das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung tragend war. Hinsichtlich der Möglichkeit der Kläger, außerhalb Tschetscheniens ohne Registrierung in der tschetschenischen Diaspora auf Dauer zu überleben, hält sie der Würdigung des Berufungsgerichts, dass die nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes für ein Überleben erforderlichen Voraussetzungen hier nicht vorlägen, lediglich ihre Auffassung entgegen, dass es sich hierbei um zusammenwirkende Risikoumstände handele, die materiell einer wertenden Gesamtbetrachtung bedürften. Da der Lagebericht in diesem Punkt nur bedingt aussagekräftig und interpretationsbedürftig ist, ist keine der beiden Schlussfolgerungen zwingend.
Rz. 14
Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
Rz. 15
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Unterschriften
Prof. Dr. Berlit, Fricke, Dr. Maidowski
Fundstellen