Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 20.04.2021; Aktenzeichen 22 A 21.40004) |
Tenor
Als zuständiges Gericht für die Entscheidung über die Klage wird das Bayerische Verwaltungsgericht München bestimmt.
Gründe
I
Rz. 1
Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen mit Bescheid vom 24. März 2016 erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Errichtung, den Betrieb und die Änderung einer Windkraftanlage an Land mit einer Gesamthöhe über 50 m. Die gegen den Bescheid erhobene Anfechtungsklage wies das Verwaltungsgericht als unzulässig ab. Auf die Berufung hat der Verwaltungsgerichtshof das Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 18. Februar 2021 hat das Verwaltungsgericht seine Zuständigkeit unter Hinweis auf den mit Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen vom 3. Dezember 2020 geänderten § 48 VwGO verneint und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof verwiesen. Die Beteiligten des Rechtsstreits haben den Beschluss nicht angegriffen. Mit Beschluss vom 20. April 2021 hat sich der Verwaltungsgerichtshof für unzuständig erklärt und dem Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts wegen eines Verstoßes gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters die Bindungswirkung abgesprochen. Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof zur Bestimmung der Zuständigkeit das Bundesverwaltungsgericht angerufen.
Rz. 2
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.
II
Rz. 3
Auf den Antrag, über den der beschließende Senat gemäß § 53 Abs. 3 Satz 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist als zuständiges Gericht das Bayerische Verwaltungsgericht München zu bestimmen.
Rz. 4
1. Das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof berufen. Nach dieser Vorschrift wird, wenn verschiedene Verwaltungsgerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, das zuständige Gericht von dem nächsthöheren Gericht bestimmt. Mit den vorliegenden Beschlüssen haben sich Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof für unzuständig erklärt und der Verwaltungsgerichtshof hat das Bundesverwaltungsgericht angerufen. Einen solchen negativen Kompetenzkonflikt zwischen dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtsgerichtshof desselben Bundeslandes entscheidet das beiden beteiligten Gerichten übergeordnete Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Beschluss vom 4. November 2021 - 6 AV 9.21 - juris Rn. 12).
Rz. 5
2. Für die Entscheidung über die Anfechtungsklage ist das Verwaltungsgericht zuständig. Der Verwaltungsgerichtshof legt ausführlich und zutreffend dar, dass die sachliche Zuständigkeit mit Inkrafttreten der Neuregelung nicht auf ihn übergegangen ist. Insoweit kann auf die Ausführungen in seinem Beschluss (BA Rn. 9 bis 28) verwiesen werden. Ihm ist auch darin beizupflichten, dass dem Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts ausnahmsweise die Bindungswirkung des § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG abzusprechen ist.
Rz. 6
Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses wird nur bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen (BVerwG, Beschlüsse vom 10. März 2016 - 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4 und vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1.21 - NVwZ-RR 2021, 740 Rn. 10). So liegt es, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 6 AV 1.21 - a.a.O. Rn. 10 m.w.N.). Das ist hier der Fall.
Rz. 7
Das Verwaltungsgericht erkennt selbst den Vorrang des in § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG niedergelegten Kontinuitätsgrundsatzes (sog. perpetuatio fori) gegenüber dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, wonach Beteiligte grundsätzlich mit der Änderung des Prozessrechts innerhalb eines anhängigen Verfahrens rechnen müssen (hierzu BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631, 1728/90 - BVerfGE 87, 48 ≪62 ff.≫) an, bejaht allerdings vorliegend eine teleologische Reduktion dieses Grundsatzes als erforderlich. Die hierfür gegebene Begründung ist mit Blick auf die dem Grundsatz des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Anforderungen an die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsvorschriften sowie das Willkürverbot nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. April 2019 - 6 AV 11.19 - Buchholz 310 § 53 VwGO Nr. 41 Rn. 11).
Rz. 8
Zu Recht weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass die Begründung des Verwaltungsgerichts, eine teleologische Reduktion der gesetzlich angeordneten perpetuatio fori sei gerechtfertigt, da nach dem konkreten Verfahrensstand durch eine Verweisung an den Verwaltungsgerichtshof weder eine (weitere) Verzögerung des Rechtsstreits noch der Verlust erlangter Verfahrensergebnisse der Beteiligten zu befürchten seien, den Grundsatz einer im Voraus nach abstrakt-generellen Kriterien bestimmten Zuständigkeit des gesetzlichen Richters zugunsten einer einzelfallbezogenen Prüfung aufgibt. Damit verkennt das Verwaltungsgericht in unverständlicher und offensichtlich unhaltbarer Weise die in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Anforderungen. Das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Verbot, die Auswahl des zur Mitwirkung berufenen Richters von Fall zu Fall vorzunehmen, ist derart fundamental, dass die Auffassung des Verwaltungsgerichts einen extremen Verstoß gegen geltendes Verfassungsrecht darstellt.
Rz. 9
Auch die weitere Begründung des Verwaltungsgerichts, dass der mit dem Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen vom 3. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2694) verfolgte Beschleunigungszweck eine teleologische Reduktion rechtfertige, erweist sich als objektiv willkürlich. Das Verwaltungsgericht weist selbst darauf hin, dass eine im Gesetzgebungsverfahren angeregte klarstellende Regelung, wonach die geplante Änderung der instanziellen Zuständigkeit anhängige Verfahren nicht erfasst, unter Hinweis auf § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG als nicht erforderlich angesehen und unterblieben ist. Dass das Verwaltungsgericht trotz dieses Befundes und damit gegen den erkennbaren Willen des Gesetzgebers unter Berufung auf den allgemeinen Beschleunigungszweck des Gesetzes eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs einer gesetzlichen Zuständigkeitsnorm vornimmt, ist schlechterdings nicht mehr vertretbar. Das gilt gleichermaßen auch für das weitere Argument des Verwaltungsgerichts, es müsse bei der Anwendung des § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 GVG dem Umstand Rechnung getragen werden, dass durch die Änderung des § 63 BImSchG Widerspruch und Klage eines Dritten gegen die Zulassung von Windenergieanlagen von mehr als 50 m Höhe keine aufschiebende Wirkung mehr hätten. Auch insoweit erkennt das Verwaltungsgericht, dass der Gesetzgeber - wie auch im Bereich des Baurechts - keine Übergangsregelung geschaffen hat und es damit von ihm in Kauf genommen wird, dass übergangsweise weiterhin vorläufiger Rechtsschutz zum Verwaltungsgericht möglich ist. Diese Erkenntnis zu ignorieren und ihr zuwider zu entscheiden, stellt einen groben Rechtsverstoß dar und macht die Entscheidung unhaltbar.
Rz. 10
Auch das weitere Argument des Verwaltungsgerichts, dass es je nach Zeitpunkt des Rechtsschutzantrags eines Drittbetroffenen vor oder nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes zur Beschleunigung von Investitionen zur Anrufung sowohl des Verwaltungsgerichts als auch des Verwaltungsgerichtshofs kommen könne, ist nicht mehr vertretbar. Derartige, im Übrigen nur für einen Übergangszeitraum denkbare Konstellationen rechtfertigen ganz offensichtlich keine teleologische Reduktion der dies gerade hinnehmenden gesetzlichen Regelung des § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 GVG. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts ist auch vor dem Hintergrund, dass unterschiedliche Schicksale von Rechtsschutzverfahren angesichts der Systementscheidung der Verwaltungsgerichtsordnung für eine subjektiv-rechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes systemimmanent sind, nicht mehr nachvollziehbar und stellt eine unhaltbare Rechtsanwendung dar.
Fundstellen