Verfahrensgang
OVG des Saarlandes (Urteil vom 12.11.2002; Aktenzeichen 2 R 13/01) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 12. November 2002 wird teils verworfen, teils zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 451,68 EUR festgesetzt.
Gründe
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde ist unzulässig, soweit die Klage gegen die Zwangsgeldandrohung in den Vorinstanzen erfolglos geblieben ist. Insoweit legt der Kläger keine Zulassungsgründe dar. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.
1. Die Besetzungsrüge greift nicht durch. Der geltend gemachte Verstoß gegen § 9 VwGO und gegen § 16 Satz 2 GVG i.V.m. § 173 VwGO liegt nicht vor.
Der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts, gegen dessen Entscheidung vom 12. November 2002 sich der Kläger wendet, hatte im Zeitpunkt des Urteilserlasses keinen Vorsitzenden. Die Entscheidung wurde von den drei Richtern am Oberverwaltungsgericht John, Sauer und Bitz getroffen. Dies entsprach der allgemeinen Vertretungsregelung des Geschäftsverteilungsplans, nachdem der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Friese, der sich dem 2. Senat angeschlossen hatte, mit Ablauf des 31. Oktober 2002 wegen Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand getreten war. Das Gesetz schließt eine solche Vertretung nicht aus. Zwar führen nach § 9 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 21 f Abs. 1 GVG und § 173 VwGO den Vorsitz in den beim Oberverwaltungsgericht gebildeten Senaten der Präsident und die Vorsitzenden Richter. § 21 f Abs. 2 Satz 1 GVG lässt eine Vertretung indes zu, wenn der Vorsitzende verhindert ist. Von einer Verhinderung im Sinne dieser Vorschrift kann zwar an sich nur dann die Rede sein, wenn der ordentliche Vorsitzende für eine vorübergehende Zeit nicht zur Verfügung steht. Dies ist der Fall, wenn er durch Krankheit, Urlaub, anderweitige dienstliche Tätigkeit oder aus ähnlichen Gründen an der Wahrnehmung der Geschäfte als Vorsitzender gehindert ist. Als Verhinderung, die eine entsprechende Anwendung des § 21 f Abs. 2 Satz 1 GVG rechtfertigt, ist indes auch die Vakanz im Vorsitz anzusehen, die durch Eintritt oder Versetzung in den Ruhestand, durch Abordnung oder durch Tod des Stelleninhabers ausgelöst wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 – BVerwG 3 C 4.85 – NJW 1986, 1366; Beschluss vom 11. Juli 2001 – BVerwG 1 DB 20.01 – NJW 2001, 3493; BFH, Beschluss vom 21. Oktober 1999 – VII R 15/99 – BFHE 190, 47). Die Gleichstellung mit der vorübergehenden Verhinderung begegnet keinen durchgreifenden Bedenken, weil sich Vakanzen im Vorsitz in der Praxis schlechthin nicht vermeiden lassen. Insbesondere im Falle des Eintritts eines Vorsitzenden Richters in den Ruhestand bei Erreichen der Altersgrenze ist die Vakanz freilich vorhersehbar. Die Verwaltung kann und muss sich auf die veränderte Situation beizeiten einstellen und die Stelle unverzüglich wieder besetzen. Auch wenn ein nahtloser Übergang nicht stets gelingt, darf die Nachfolge nicht ungebührlich verzögert werden. Der Zustand bis zur Wiederbesetzung der Stelle kann nur für eine kurze Übergangszeit hingenommen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 – BVerwG 3 C 4.85 – a.a.O.; Beschluss vom 11. Juli 2001 – BVerwG 1 DB 20.01 – a.a.O.; BFH, Beschluss vom 21. Oktober 1999 – VII R 15/99 – a.a.O.). Welcher Zeitraum angemessen ist, richtet sich nach den jeweiligen Umständen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 1965 – 2 BvR 341/60 – BVerfGE 18, 423 ≪426≫). Entsprechend anwendbar ist § 21 f Abs. 2 Satz 1 GVG nach dem endgültigen Ausscheiden eines Vorsitzenden aus dem Spruchkörper jedenfalls solange, wie durch die Vakanz im Vorsitz keine wesentlich gewichtigere Beeinträchtigung der bei ordnungsgemäßer Besetzung des Spruchkörpers zu erwartenden Arbeitsweise zu erwarten ist als bei einem längeren Urlaub oder einer längerdauernden Krankheit (vgl. BFH, Beschluss vom 21. Oktober 1999 – VII R 15/99 – a.a.O.). Bei einer Vakanz von knapp drei Monaten im maßgeblichen Zeitpunkt des Vertretungsfalls kann grundsätzlich noch nicht davon ausgegangen werden, dass die Wiederbesetzung in verfassungswidriger Weise hinausgezögert worden ist (vgl. BVerfG ≪Vorprüfungsausschuss≫, Beschluss vom 3. März 1983 – 2 BvR 265/83 – NJW 1983, 1541). Selbst ein noch längerer Zeitraum kann, je nach den konkreten Gegebenheiten, im Einzelfall vertretbar sein (vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 8. August 1985 – Vf.24 – VII/84 – NJW 1986, 1326).
Gemessen an diesen Grundsätzen lässt es sich rechtlich nicht beanstanden, dass die angefochtene Entscheidung in Anwendung der nach dem Geschäftsverteilungsplan maßgeblichen Vertretungsregeln von den Richtern John, Sauer und Bitz auf der Grundlage einer mündlichen Verhandlung getroffen wurde, die knapp zwei Wochen nach dem Ausscheiden des Senatsvorsitzenden stattfand. Dahinstehen kann, ob eine andere Beurteilung angebracht wäre, wenn sich im Zeitpunkt des Urteilserlasses – durch die nachfolgende Entwicklung bestätigt – eine langdauernde Vakanz abgezeichnet hätte. Dafür ist indes nichts ersichtlich. Der weitere Gang der Ereignisse belegt vielmehr, dass das Oberverwaltungsgericht von den Abhilfemöglichkeiten, die das Gerichtsverfassungsgesetz bereitstellt, um den Anforderungen des gesetzlichen Richters zu genügen, zeitnahen Gebrauch gemacht hat. Gestützt auf § 21 e Abs. 3 Satz 1 GVG übertrug das Präsidium dem Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Böhmer am 18. Dezember 2002 mit Wirkung ab 1. Januar 2003 zusätzlich den Vorsitz des 2. Senats (vgl. die dem Nichtabhilfebeschluss des Oberverwaltungsgerichts beigefügte dienstliche Äußerung vom 7. Februar 2003). In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass es keinen grundsätzlichen rechtlichen Bedenken begegnet, einen Vorsitzenden Richter mit dem Vorsitz in mehreren Spruchkörpern zu betrauen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 1965 – 2 BvR 341/60 – a.a.O. ≪426≫; BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 – BVerwG 3 C 4.85 – a.a.O.).
2. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Kläger beilegt.
Die Frage, „welche Anforderungen das Willkürverbot bzw. Art. 3 Abs. 1 GG an den Zeitpunkt einer Konzeption und dessen Anwendung auf den Einzelfall stellt”, rechtfertigt ebenso wenig wie die Frage, „was ‚ergänzen’ i.S.v. § 114 Satz 2 VwGO im Hinblick auf die bei der Ermessensausübung verlangte Einschreitenskonzeption ist”, die Zulassung der Revision auf der Grundlage des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ob die Beseitigungsanordnung, gegen die sich der Kläger zur Wehr setzt, eine Stütze im Gesetz findet, richtet sich nach § 88 Abs. 1 LBO. Ob die in dieser Bestimmung genannten Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Bauaufsichtsbehörde von dem ihr eingeräumten Ermessen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, ist eine Frage der Auslegung und der Anwendung irrevisiblen Landesrechts, das einer revisionsgerichtlichen Prüfung entzogen ist. Der Kläger schlägt zwar mit seinem Hinweis auf Art. 3 Abs. 1 GG und auf § 114 Satz 2 VwGO eine Brücke zum Bundesrecht, er zeigt aber nicht auf, inwiefern in Bezug auf die Auslegung und die Anwendung dieser Vorschriften ein Klärungsbedarf besteht, der die Durchführung des von ihm erstrebten Revisionsverfahrens rechtfertigt.
Der Senat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Willkürverbot bei jeder Ermessensausübung zu beachten ist. Auch beim Erlass einer bauordnungsrechtlichen Beseitigungsverfügung darf die Behörde nicht ohne einleuchtenden Grund unterschiedlich, systemwidrig oder planlos vorgehen. Sieht sie sich mit einer Mehrzahl von baulichen Anlagen konfrontiert, die im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet wurden, so handelt sie den Vorgaben des Gleichheitssatzes indes nicht schon dann zuwider, wenn sie nicht auf einen Schlag tätig wird, sondern Schritt für Schritt vorgeht (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. März 1973 – BVerwG 4 C 40.71 – BVerwGE 42, 30 = Buchholz 406.11 § 9 BBauG Nr. 11; Beschluss vom 22. April 1995 – BVerwG 4 B 55.95 – BRS 57 Nr. 248). Sie darf Einzelfälle, deren Regelung ihr besonders dringlich erscheint, herausgreifen und ihr Vorgehen gegen weitere Störer vom Fortgang dieser Musterfälle abhängig machen. Eine allgemein gültige zeitliche Grenze für ein unterschiedliches Einschreiten gegen baurechtswidrige Zustände gibt es nicht (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. April 1996 – BVerwG 4 B 38.96 – und vom 23. November 1998 – BVerwG 4 B 99.98 – Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 55 und 68). Erlangt die Baurechtsbehörde erst nachträglich Kenntnis von Vergleichsfällen, so genügt es, wenn sie diesen neuen Erkenntnissen Rechnung trägt und ihr Vorgehenskonzept entsprechend anpasst. Dies kann gegebenenfalls ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG noch im Verwaltungsstreitverfahren geschehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 1976 – BVerwG 4 B 22.76 – Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 5).
Der Kläger legt nicht dar, in welcher Richtung diese Rechtsprechung konkretisierungs- oder fortentwicklungsbedürftig sein soll. Das Beschwerdevorbringen reicht nicht über die im Rahmen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO unbehelfliche Kritik hinaus, das Berufungsgericht habe die vom Senat entwickelten Rechtsgrundsätze unrichtig angewandt. Mit Angriffen gegen die berufungsgerichtliche Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall kann die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache jedoch nicht dargetan werden.
Auch unter dem Blickwinkel des § 114 Satz 2 VwGO bietet das Beschwerdevorbringen keine Anhaltspunkte für einen Problemgehalt, der in dem erstrebten Revisionsverfahren Erkenntnisse erwarten lässt, zu denen nicht schon die bisherige Rechtsprechung gelangt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 5. Mai 1998 – BVerwG 1 C 17.97 – (BVerwGE 106, 351) Folgendes klargestellt: Ob Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzt werden dürfen, bestimmt sich zunächst nach dem einschlägigen materiellen Recht sowie dem Verwaltungsverfahrensrecht. Die Bedeutung des § 114 Satz 2 VwGO erschöpft sich darin, dass einem danach zulässigen Nachholen von Ermessenserwägungen prozessuale Hindernisse nicht entgegenstehen.
Nach der Einschätzung des zur Auslegung und Anwendung des saarländischen Bauordnungs- und Verwaltungsverfahrensrechts berufenen Oberverwaltungsgerichts lässt sich die Vorgehensweise des Beklagten auch unter Berücksichtigung des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse rechtlich nicht beanstanden. Das Beschwerdevorbringen gibt, wie dargelegt, nichts für die Annahme her, dass diese Würdigung bundesrechtlichen Vorgaben zuwiderläuft. Bei dieser rechtlichen Ausgangssituation hätte der Senat vor dem Hintergrund der Entscheidung des 1. Senats vom 5. Mai 1998 keinen Anlass, in dem erstrebten Revisionsverfahren zur Reichweite des § 114 Satz 2 VwGO Stellung zu nehmen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 3 sowie § 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Paetow, Halama, Rojahn
Fundstellen