Entscheidungsstichwort (Thema)
Erschließungsbeitrag. Erschlossensein. Erschließungsvorteil. Tiefenbegrenzung. unbeplanter Innenbereich. bauliche oder gewerbliche Ausnutzbarkeit. übergroßes Grundstück. durchlaufendes Grundstück. übergreifende Nutzung. Spiegelbild-Kriterium
Leitsatz (amtlich)
Die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Begrenzung der Erschließungswirkung bei durchlaufenden Grundstücken (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Juni 1985 – BVerwG 8 C 30.84 – BVerwGE 71, 363 und vom 22. April 1994 – BVerwG 8 C 18.92 – Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 91) können auch im Falle einer satzungsrechtlichen Tiefenbegrenzung Anwendung finden. Das gilt namentlich bei einer Satzungsregelung, nach der bei einer übergreifenden Grundstücksnutzung auch die weitere – jenseits der regelmäßigen Tiefengrenze gelegene – Grundstücksfläche bis zur hinteren Grenze dieser Nutzung bei der Beitragsbemessung zu berücksichtigen ist (zugleich Bekräftigung des Urteils des Senats vom 1. September 2004 – BVerwG 9 C 15.03 – BVerwGE 121, 365 zur satzungsrechtlichen Tiefenbegrenzung im unbeplanten Innenbereich).
Normenkette
BauGB § 131 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. September 2005 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beklagte.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 6 021,68 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Nacherhebung eines Erschließungsbeitrags für ein im unbeplanten Innenbereich gelegenes sog. durchlaufendes (zwischen zwei Anbaustraßen gelegenes) Grundstück mit einer Tiefe von rund 125 Metern, das in seinem an der abzurechnenden Erschließungsanlage gelegenen (vorderen) Teil unbebaut ist und als Wiesenfläche genutzt wird, während es im hinteren, einer anderen Anbaustraße zugewandten Teil mit einem Wohnhaus (nebst Zier- und Nutzgarten) bebaut ist. Der hintere Teil umfasst etwa ein Drittel der Gesamtfläche und ist vom vorderen Teil durch eine zwei Meter hohe Lebensbaumhecke und einen Zaun getrennt. Die zugrunde liegende Erschließungsbeitragssatzung (EBS) sieht in § 6 A (2) b Satz 1 eine Tiefenbegrenzung von 35 Metern vor; nach Satz 2 der Regelung ist, wenn die bauliche oder gewerbliche Nutzung darüber hinausreicht, die Grundstückstiefe maßgebend, die durch die hintere Grenze der Nutzung bestimmt wird. Der Beklagte hatte den Kläger zunächst zu einem Erschließungsbeitrag nur im Umfang einer Tiefenbegrenzung bis 35 Metern herangezogen. Den Nacherhebungsbescheid, mit dem zusätzlich die weitere Grundstücksfläche bis zur (von der Erschließungsanlage aus gesehen) hinteren Grenze des Wohnhauses erfasst wurde, hat das Berufungsgericht (KStZ 2006, 36 = NWVBl 2006, 94) aufgehoben.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Rechtssache kommt nicht die von ihr geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Beschwerde hält es für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob im Falle einer satzungsmäßig angeordneten Tiefenbegrenzung bei einer übergreifenden Nutzung des Grundstücks durch die nicht an der abgerechneten Straße liegenden Gebäude die Grundstücksfläche nur bis zur Tiefengrenze oder auch darüber hinaus zu berücksichtigen ist, wenn sich die von der Anbaustraße ausgehende Erschließungswirkung erkennbar eindeutig nur auf eine Teilfläche des Grundstücks beschränkt.
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sie aufgrund vorhandener Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantwortet werden kann.
1. Es ist durch das Urteil des Senats vom 1. September 2004 – BVerwG 9 C 15.03 – (BVerwGE 121, 365 = Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 116 = DVBl 2005, 55 = KStZ 2005, 14 = ZMR 2005, 158 ≪dort mit nicht kenntlich gemachten Auslassungen S. 159 r.Sp.≫) geklärt, dass eine satzungsrechtliche Tiefenbegrenzung, die die typischen örtlichen Verhältnisse tatsächlich widerspiegelt, auch auf “zentrale” Grundstücke des unbeplanten Innenbereichs anwendbar ist.
Daran ist auch in Ansehung der in der Literatur an dieser Entscheidung geübten Kritik festzuhalten (vgl. Driehaus, DVBl 2005, 58 ff.; ders., ZMR 2005, 81 und NordÖR 2005, 281; Waibl, BayVBl 2005, 250 f.; Sauthoff, NVwZ 2005, 743 (mit eigenem Lösungsvorschlag); andererseits – dem Urteil zustimmend – Thielmann, KStZ 2005, 11; Aussprung, DVBl 2005, 740 ≪745≫; Richarz, KStZ 2006, 1 ≪1, 8 f.≫; vgl. ferner – der Kritik entgegnend – Storost, DVBl 2005, 1004 ≪1006 ff.≫). Das Instrument der satzungsrechtlichen Tiefenbegrenzung dient – in Anknüpfung an das Merkmal “erschlossen” in § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB – der näheren Bestimmung der Erschließungswirkung, d.h. des Erschließungsvorteils, den das Grundstück von der Erschließungsanlage erfährt. Dieser Erschließungsvorteil besteht in dem, was die Erschließung für die bauliche oder gewerbliche – oder eine erschließungsbeitragsrechtlich vergleichbare (Beispiel: Friedhöfe) – Nutzung (Ausnutzbarkeit) des Grundstücks hergibt (vgl. BVerwG, Urteile vom 1. September 2004, BVerwGE 121, 365 ≪366≫, vom 10. Juni 1981 – BVerwG 8 C 15.81 – BVerwGE 62, 300 ≪302≫ und vom selben Tage – BVerwG 8 C 20.81 – BVerwGE 62, 308 ≪314≫). Demgegenüber sieht die Gegenansicht den Vorteilsbegriff bereits mit der Möglichkeit der Inanspruchnahme der Erschließungsanlage, d.h. mit der bloßen Zugänglichkeit des Grundstücks von dieser Anbaustraße aus, als erfüllt an. Die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Erschließungsanlage ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des Erschließungsvorteils und seiner Bemessung (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 29. April 1977 – BVerwG 4 C 1.75 – BVerwGE 52, 364 ≪368≫; Urteil des Senats vom 1. September 2004, a.a.O. S. 368; Richarz, a.a.O. S. 2 f. ≪3≫). Dass der Begriff des Erschließungsvorteils vom Bundesverwaltungsgericht jemals grundlegend anders gedeutet worden wäre, ist dem Gang der Rechtsprechung nicht zu entnehmen. Vielmehr wird auch in Entscheidungen jüngeren Datums (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. April 1986 – BVerwG 8 C 51.85 und 52.85 – BVerwGE 74, 149 ≪155≫ und vom 23. Januar 1998 – BVerwG 8 C 12.96 – BVerwGE 106, 147 ≪149≫) in den rechtlichen Obersätzen (ausdrücklich oder durch ein darauf verweisendes Zitat) als maßgebliches Kriterium daran festgehalten, dass der Erschließungsvorteil darin liegt, was die Erschließungsanlage für die bauliche, gewerbliche oder eine erschließungsbeitragsrechtlich vergleichbare Nutzung (Ausnutzbarkeit) des Grundstücks hergibt. Dies hat der Senat mit seinem eingangs erwähnten Urteil klar herausgestellt, um aufgetretene “Unschärfen” zu klären und die Rechtsprechung wieder zu justieren (so die zutreffende Bewertung von Richarz, a.a.O. S. 1 f.).
Von diesem Verständnis, das den Erschließungsvorteil in der baulichen, gewerblichen oder einer erschließungsbeitragsrechtlich vergleichbaren Ausnutzbarkeit des Grundstücks sieht, ist das Berufungsgericht ausgegangen. Es hat folglich eine satzungsrechtliche Tiefenbegrenzung auch im unbeplanten Innenbereich für zulässig gehalten. Deren Sinn sieht es darin, nach den in der jeweiligen Gemeinde anzutreffenden örtlichen Verhältnissen typisierend festzulegen, bis zu welcher Grundstückstiefe die im unbeplanten Innenbereich gelegenen Grundstücke regelmäßig erschlossen werden, d.h. wie weit ihnen durch die abzurechnende Anbaustraße ein erschließungsbeitragsrechtlich relevanter Vorteil erwächst. Dies steht – wie dargelegt – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats und wird auch von der Beschwerde nicht in Zweifel gezogen.
2. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist weiter geklärt, dass bei einem zwischen zwei Anbaustraßen “durchlaufenden” Grundstück die Erschließungswirkung der Anbaustraße dann begrenzt ist, wenn das Grundstück an jeder der Anbaustraßen selbstständig und ungefähr gleichgewichtig – sozusagen “spiegelbildlich” – bebaubar ist. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht sowohl für den Bereich eines Bebauungsplans (Urteile vom 27. Juni 1985 – BVerwG 8 C 30.84 – BVerwGE 71, 363 ≪366≫ und vom 3. Februar 1989 – BVerwG 8 C 78.88 – Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 79 S. 32) als auch für den unbeplanten Innenbereich (Urteile vom 22. April 1994 – BVerwG 8 C 18.92 – Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 91 S. 5 f. und vom 26. November 2003 – BVerwG 9 C 2.03 – Buchholz 406.11 § 125 BauGB Nr. 38 S. 8 f.) entschieden. Es ist einsichtig und bedarf nicht erst – aufgrund der von der Beschwerde formulierten Frage – der Klärung in einem Revisionsverfahren, dass die Tiefenbegrenzungsregelung einer Erschließungsbeitragssatzung und die dargestellte Rechtsprechung zur Begrenzung der Tiefenwirkung bei durchlaufenden Grundstücken nebeneinander anwendbar sind. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, dass die eine der anderen nicht etwa vorgeht, sondern dass beide unterschiedliche Fallkonstellationen regeln und nicht zwangsläufig zusammentreffen. Beiden ist gemeinsam, dass sie darauf abzielen, die Erschließungswirkung der abzurechnenden Erschließungsanlage näher zu bestimmen. Dabei können die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Begrenzung der Erschließungswirkung bei durchlaufenden Grundstücken (“Spiegelbild”-Kriterium) gerade in solchen Fällen zur Anwendung kommen, in denen die satzungsrechtliche Tiefenbegrenzungsregelung (wie hier mit § 6 A (2) b Satz 2 EBS) eine Bestimmung enthält, nach der – abweichend von der regelmäßigen Tiefenbegrenzung (hier: § 6 A (2) b Satz 1 EBS) – bei einer über die Tiefengrenze hinausreichenden Grundstücksnutzung die Grundstücksfläche bis zur (von der Erschließungsanlage aus gesehen) hinteren Grenze dieser Nutzung bei der Beitragsbemessung zu berücksichtigen ist. Während die (hier mit 35 Metern angenommene) regelmäßige Tiefenbegrenzungslinie der Erschließungsbeitragssatzung eine pauschalierende, weil auf die typischen örtlichen Verhältnisse abstellende Regelung ist, will der Satzungsgeber mit der weitergehenden Regelung die eher atypischen Fälle einer übergreifenden Grundstücksnutzung erfassen. Eine solche weitergehende Satzungsregelung kann aber zu einer mit dem Merkmal des “Erschlossenseins” i.S.v. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB nicht zu vereinbarenden übermäßigen Beitragspflicht führen, namentlich wenn die Erschließungswirkung bei dem konkreten Grundstück – entgegen der abstrahierenden Annahme der Satzungsbestimmung – gleichwohl “erkennbar eindeutig” begrenzt ist. In dieser (konkreten) Grundstückssituation kann sich aus der erwähnten Rechtsprechung zu den durchlaufenden Grundstücken eine Begrenzung der – nach der Satzungsbestimmung weiter hinausgeschobenen – Tiefenbegrenzung ergeben. Es ist gerade der an das Merkmal des “Erschlossenseins” anknüpfende Sinn und Zweck dieser Rechtsprechung, in solchen speziellen Fallgestaltungen die Reichweite der erschließungsbeitragsrechtlich relevanten Vorteile zu bestimmen und einzugrenzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 1985, a.a.O. S. 366 m.w.N.).
3. Hiervon ausgehend hat das Berufungsgericht – auf der Grundlage seiner revisionsgerichtlich nicht zu beanstandenden Auslegung der oben wiedergegebenen Satzungsregelung – die von der Beschwerde aufgeworfene Frage in Übereinstimmung mit der dargestellten Rechtsprechung im ersteren Sinne beantwortet und die Erschließungswirkung der abgerechneten Erschließungsanlage als auf den vorderen Grundstücksteil “erkennbar eindeutig” begrenzt angesehen. Die dafür gegebene Begründung, nämlich dass das Grundstück an jeder der beiden Anbaustraßen ungefähr gleichgewichtig – sozusagen “spiegelbildlich” – bebaubar sei, während eine weitergehende Bebauung (etwa im “Mittelteil” des Grundstücks) zu einer Hinterlandbebauung führen würde, die sich nicht in die Umgebung einfügen würde (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) und deshalb bauplanungsrechtlich unzulässig wäre, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden und wirft ebenfalls keinen weiteren Klärungsbedarf auf. Dasselbe gilt für die weitere Annahme des Berufungsgerichts, dass die Eigentümer der übrigen Grundstücke an der Erschließungsanlage nicht schutzwürdig erwarten könnten, dass der Kläger auch mit dem hinteren, der anderen Anbaustraße zugewandten Grundstücksteil in die Verteilung des Erschließungsaufwandes für die abgerechnete Erschließungsanlage einbezogen werde, weil zum einen keine rechtlich unbedenkliche Zufahrt zur Erschließungsanlage bestehe und zum anderen die beiden Grundstücksteile auch nicht einheitlich genutzt würden, vielmehr durch eine Lebensbaumhecke und einen Zaun deutlich voneinander abgegrenzt seien (vgl. zu diesen Kriterien BVerwG, Urteile vom 15. Januar 1988 – BVerwG 8 C 111.86 – BVerwGE 79, 1 ≪6≫ und vom 30. Mai 1997 – BVerwG 8 C 27.96 – Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 105 S. 85 f.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes aus § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 bis 3 GKG.
Unterschriften
Dr. Storost, Prof. Dr. Rubel, Domgörgen
Fundstellen
Haufe-Index 1512260 |
ZAP 2006, 843 |
ZKF 2006, 238 |
ZMR 2006, 971 |
ZfIR 2007, 144 |
DÖV 2006, 916 |
BayVBl. 2006, 607 |
DVBl. 2006, 993 |
GK/BW 2007, 128 |
FuB 2006, 190 |
GK/Bay 2006, 530 |
NWVBl. 2006, 367 |