Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 01.10.2021; Aktenzeichen 11 A 913/20.A) |
VG Minden (Entscheidung vom 05.02.2020; Aktenzeichen 10 K 1131/19.A) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
Die auf die Zulassungsgründe eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) (I.), der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (II.) und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) (III.) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 2
I. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.
Rz. 3
1. Das Berufungsgericht hat nicht verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden. Soweit mit dem Vorbringen, das Oberverwaltungsgericht sei erst im Kontext der angegriffenen Entscheidung auf die Anregung zur Ansetzung eines Verhandlungstermins eingegangen, sinngemäß eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) durch eine Überraschungsentscheidung hat gerügt werden sollen, liegt ein solcher Verfahrensmangel jedenfalls nicht vor.
Rz. 4
1.1 Eine Überraschungsentscheidung ist nur gegeben, wenn das Gericht, das auf den Inhalt der beabsichtigten Entscheidung regelmäßig nicht vorab hinweisen muss, auf eine rechtliche Sichtweise oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 2018 - 1 VR 9.18 - juris Rn. 3 und vom 5. November 2018 - 1 B 77.18 - juris Rn. 6).
Rz. 5
Dies ist hier nicht der Fall. Die Beklagte musste mit Blick auf das Urteil des Senats vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - (juris) damit rechnen, dass das Berufungsgericht an seiner früheren Rechtsprechung zur Bewertung der Möglichkeiten von rückkehrenden Asylbewerbern oder Schutzberechtigten, dort ohne eine Verletzung ihrer durch Art. 4 GRC garantierten Rechte (über-)leben zu können, nicht festhalten würde. Sie hatte auch Gelegenheit, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme in zwei Parallelverfahren Stellung zu nehmen.
Rz. 6
1.2 Das Berufungsgericht hat das rechtliche Gehör der Beklagten auch nicht dadurch verletzt, dass es im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden hat.
Rz. 7
a) Der - wie hier - wirksam erklärte Verzicht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) ist als Prozesserklärung grundsätzlich nicht widerruflich (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1968 - 3 C 83.67 - NJW 1969, 252 und Beschluss vom 17. Januar 1977 - 6 B 22.76 - Buchholz 232 § 159 BBG Nr. 6) und ermächtigt das Gericht auch ohne Hinweis auf das voraussichtliche Entscheidungsergebnis, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es allerdings im Falle eines solchen Verzichts auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung, einen neuen, unbedingt gestellten Beweisantrag entsprechend einem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zu behandeln und ihn vor der Sachentscheidung zu bescheiden (wie BVerwG, Urteil vom 28. November 1962 - 4 C 113.62 - BVerwGE 15, 175 ≪176≫). Die Einverständniserklärung mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung kann allerdings auch durch eine grundlegend geänderte Prozesslage infolge einer Entscheidung des Gerichts, z.B. durch eine Anhörung nach § 125 VwGO (BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 2003 - 1 B 33.03 - InfAuslR 2004, 130 ≪131≫), einen Auflagen- oder Beweisbeschluss (BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2016 - 4 B 21.16 - juris Rn. 9) oder die Einführung neuer Erkenntnismittel durch das Gericht (BVerwG, Beschluss vom 29. Dezember 1995 - 9 B 199.95 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 21 S. 3), "verbraucht" werden.
Rz. 8
Ein solcher "Verbrauch" liegt hier vor, da das Oberverwaltungsgericht nach dem Einverständnis der Beklagten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in dem Verfahren 11 A 1674/20.A (juris) zum Nachteil der Beklagten geurteilt hat.
Rz. 9
b) Das Recht der Beklagten auf rechtliches Gehör ist nicht durch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt worden, im vorliegenden Rechtsstreit nach § 130a Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden.
Rz. 10
aa) Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im weiten Ermessen des Gerichts. Das Revisionsgericht ist darauf beschränkt, die Entscheidung über die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens darauf zu überprüfen, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht oder wenn im konkreten Fall Art. 6 EMRK beziehungsweise Art. 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 4). Bei seiner Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO hat das Gericht zu berücksichtigen, dass das Gebot, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, umso stärker wird, je schwieriger die vom Gericht zu treffende Entscheidung ist. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist. Maßgeblich sind insoweit die Gesamtumstände des Einzelfalles (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 5).
Rz. 11
bb) Daran gemessen war die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier nicht ermessensfehlerhaft.
Rz. 12
Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO zu entscheiden, mit Verfügung vom 17. August 2021, konkretisiert durch Verfügung vom 18. August 2021, vorab gehört. Dabei hat es auf sein in der Datenbank juris veröffentlichtes Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - Bezug genommen. Die Beklagte hat daraufhin zwar einer Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren widersprochen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung indes lediglich angeregt. Sie hat weiteren Aufklärungsbedarf hinsichtlich der Frage geltend gemacht, ob für eine junge, gesunde und erwerbsfähige anerkannt Schutzberechtigte mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Italien keine Möglichkeit bestehe, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen, zur Begründung dieses geltend gemachten Aufklärungsbedarfs auf in dem vorbezeichneten Urteil vom 20. Juli 2021 nicht berücksichtigte Quellen zum italienischen Arbeitsmarkt und dessen Entwicklung verwiesen und hieraus den Schluss gezogen, es sei unrealistisch anzunehmen, dass eine arbeitsfähige und -willige Person im gesamten Land keine Beschäftigung finden könne. Einen konkreten Beweisantrag zu einer bestimmten Beweistatsache hat sie indes nicht formuliert und auch nicht angekündigt, in der mündlichen Verhandlung einen solchen zu stellen (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 2007 - 5 B 157.07 - juris Rn. 12). Entgegen der Darstellung der Beschwerdebegründung hat das Oberverwaltungsgericht das Vorbringen der Beklagten zur Entwicklung des italienischen Arbeitsmarkts nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch erwogen und auf seine Rechtserheblichkeit geprüft, ohne indes von seiner in dem in Bezug genommenen Verfahren gebildeten Überzeugung abzugehen. In Anbetracht dessen musste sich das Berufungsgericht nicht veranlasst sehen, von einer Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO abzusehen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach dann keine neue mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen. Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 8 m.w.N.).
Rz. 13
Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vorliegend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung. Davon unberührt bleibt, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 9 m.w.N.).
Rz. 14
Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen. Weder Art. 46 RL 2013/32/EU, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht gegen die einen Antrag auf internationalen Schutz ablehnende Entscheidung vorsieht, noch eine andere Bestimmung der Richtlinie sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht vor. Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 10 m.w.N.). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Beschwerde keine Gründe aufgezeigt, wonach das Berufungsgericht unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Rz. 15
2. Die Beschwerdebegründung hat nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt, das Berufungsgericht habe dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz bzw. gegen die Amtsaufklärungspflicht (2.1) oder die aus dem Überzeugungsgrundsatz folgende Auseinandersetzungspflicht (2.2) verstoßen, dass es zu der Bewertung gelangt ist, im Fall ihrer Rücküberstellung nach Italien werde die Klägerin als anerkannte Schutzberechtigte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung oder zu einer anderweitigen menschenwürdigen Unterkunft erlangen, sodass ihr eine Verletzung ihrer durch Art. 4 GRC geschützten Rechte drohe.
Rz. 16
2.1 Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz und die Amtsaufklärungspflicht ist nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt.
Rz. 17
a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Ob das Gericht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage entschieden hat (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist grundsätzlich eine dem materiellen Recht zuzuordnende Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung, auf die eine Verfahrensrüge nicht gestützt werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. November 2006 - 1 B 134.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 48 Rn. 4). Ein Verfahrensverstoß kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das angegriffene Urteil von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen und deshalb seiner Überzeugungsbildung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist. Die Beschwerde gibt keinen Anlass zur Vertiefung der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Verzicht auf eine sich aufdrängende Sachverhaltsaufklärung einen Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO bewirkt und welche Darlegungsanforderungen insoweit zu stellen sind (siehe dazu BVerwG, Beschlüsse vom 20. August 2003 - 1 B 463.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 275, vom 9. November 2006 - 1 B 134.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 48, vom 2. Mai 2012 - 10 B 10.12 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 65, vom 22. Dezember 2014 - 2 B 55.14 - Buchholz 237.6 § 25 NdsLBG Nr. 1 Rn. 6 und vom 5. März 2018 - 1 B 155.17 - juris Rn. 3 m.w.N.).
Rz. 18
b) Nach diesen Grundsätzen ist ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz oder die Amtsaufklärungspflicht schon nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargetan.
Rz. 19
Die Beschwerde gibt in diesem Zusammenhang bereits den Inhalt des angegriffenen Beschlusses nicht zutreffend wieder. Die beanstandete Feststellung, die von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen gestellten Unterbringungsmöglichkeiten böten keinen Ersatz für eine fehlende staatliche Unterbringung, ist darin so nicht enthalten; der Berufungsbeschluss nimmt entgegen der Darstellung der Beschwerde auch nicht "die Leitsatzentscheidung OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021, a.a.O. ≪Rn. 62≫ in Bezug ohne weitere Ausführungen zur Quellenlage bezogen auf den Einzelfall, wonach es nach der Auskunftslage schwierig sei, die Zahl der verfügbaren, zudem in der Regel nur für Notfälle vorgesehenen Plätze von Kirchen, NGO's oder Privatpersonen zu erfassen". Soweit das Berufungsgericht ausgeführt hat, eine öffentliche Wohnung oder Sozialwohnung, eine Obdachlosenunterkunft oder eine Notschlafstelle sei für die Klägerin nicht erreichbar, jedenfalls seien deren Kapazitäten begrenzt oder erschöpft, und in den informellen Siedlungen böten sich unzumutbare Zustände (BA S. 7 ff.), hat es diese Bewertung auf die Feststellungen in seinem Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - (juris Rn. 38 ff. gestützt, die auch entsprechende Erkenntnisquellen zitieren ≪etwa Rn. 67, 70, 72, 74, 76, 78, 80 und 82≫). Diese Erkenntnislage hat es dahin bewertet, dass die Klägerin in Italien keine den Anforderungen des Art. 4 GRC entsprechende Unterkunft finden werde. Die Beklagte, die gegenüber den Gerichten zumindest über gleichwertige Erkenntnismöglichkeiten zu den tatsächlichen Verhältnissen in einem Abschiebungszielstaat jedenfalls dann verfügt, wenn dieser Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, legt nicht substantiiert dar, dass sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachaufklärung zur Frage etwa der Zahl und Zugänglichkeit durch nichtstaatliche Anbieter bereitgestellter Unterkünfte hätte aufdrängen müssen (bzw. welche konkreten Aufklärungsmaßnahmen hätten ergriffen werden müssen) oder dass das Berufungsgericht erhebliche tatsächliche Informationen, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden waren, in seine Würdigung nicht einbezogen hätte.
Rz. 20
2.2 Ein Verfahrensfehler ist auch insoweit nicht dargelegt, als eine unzureichende Auseinandersetzung mit Erkenntnismitteln und insbesondere der im Ergebnis entgegenstehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VGH Mannheim, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 - und Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 -) bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung als Verletzung einer Begründungspflicht gerügt wird.
Rz. 21
a) Die Feststellung und Bewertung der Erkenntnislage ist grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 ≪272≫). Daher begründen (vermeintliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts regelmäßig keinen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Ausnahmsweise kann ein solcher indes anzunehmen sein, wenn ein Gericht von einem aktenwidrigen Sachverhalt ausgeht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 58 Rn. 23 m.w.N.). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m.w.N.). In diesem Zusammenhang ergibt sich auch eine - im Grundsatz materiell-rechtliche - Pflicht, sich im Rahmen der Feststellung und Würdigung der Lage im Herkunfts- bzw. Abschiebungszielland mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderzusetzen (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 28). Wenn sich indes ein Beteiligter einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt, liegt ein rügefähiger Verfahrensfehler dann vor, wenn das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht eingeht und sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen lässt, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat (BVerwG, Beschluss vom 23. November 2011 - 10 B 32.11 - juris Rn. 3).
Rz. 22
b) Der Verweis auf die im Ergebnis gegenläufigen Bewertungen in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, welche die Beklagte bereits in der Begründung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung herangezogen hatte, reicht mit Blick auf die ausdrückliche Auseinandersetzung damit im Urteil des Berufungsgerichts vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, auf das der Berufungsbeschluss verweist (BA S. 6 f.), zur Darlegung eines derartigen Verfahrensfehlers hier nicht aus; hierzu wäre der Verfahrensmangel sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert zu bezeichnen gewesen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. März 2014 - 5 B 48.13 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 62 Rn. 12 m.w.N.). Die Beschwerdebegründung legt nicht hinreichend dar, mit welchen konkreten Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg eine weitergehende Auseinandersetzung geboten gewesen wäre. Auch die darüber hinaus erhobenen Einwände gegen die Beweiswürdigung zeigen einen Verfahrensfehler nicht auf.
Rz. 23
3. Das Berufungsgericht hat die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO bestehende Auseinandersetzungspflicht (s.o. 2.2) auch nicht verletzt, soweit es dahin erkannt hat, dass die Klägerin im Fall ihrer Rücküberstellung nach Italien mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein werde, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen; insoweit fehlt es bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit.
Rz. 24
3.1 Im Zusammenhang mit der Beurteilung eines ernsthaften Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK ist stets von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten auszugehen, der im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht, und der von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass dieser, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 81 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - Rn. 84). Damit gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 82 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 85). Diese Vermutung beansprucht nur dann keine Geltung, wenn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 85 und 88 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 86 f.). Verfügt das Gericht über Angaben, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem betreffenden Mitgliedstaat nachzuweisen, so ist es verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 90 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 88). Hierbei fallen nur solche Schwachstellen ins Gewicht, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 91 f. m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 89 f. und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed und Omar - Rn. 39). Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 93 und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 91 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 - Rn. 39). Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden.
Rz. 25
Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen, hinsichtlich derer die Feststellung, sie seien vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig und befänden sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not, im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich gesteigerten Anforderungen an die Entkräftung der Vermutung der Vereinbarkeit der Behandlung solcher Personen in dem betreffenden Mitgliedstaat mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, insbesondere aus Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK, unterliegt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 93; BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 20 und 23). Der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, genügt dem regelmäßig nicht.
Rz. 26
Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nichtvulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten "informellen Siedlung" zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (so auch VGH Mannheim, Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 - juris Rn. 10; vgl. ferner BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 22).
Rz. 27
3.2 Die Revision ist indes insoweit nicht zuzulassen, weil es - ungeachtet der Frage, ob die vorbezeichneten Grundsätze beachtet worden sind - an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit fehlt.
Rz. 28
a) Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Ergebnis frei von durchgreifenden Zulassungsgründen selbstständig tragend darauf gestützt, dass der Klägerin bereits mangels Zugangs zu einer menschenwürdigen Unterkunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner durch Art. 4 GRC geschützten Rechte drohe. Der Sache nach tritt die Bewertung des Berufungsgerichts, die Klägerin werde als anerkannte Schutzberechtigte auch nicht innerhalb absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz finden, der ihm ein ausreichendes Einkommen zur Finanzierung einer menschenwürdigen Unterkunft und des unabdingbar erforderlichen Lebensunterhalts bietet, als selbstständig tragende Erwägung hinzu. Ist eine Berufungsentscheidung - wie hier - auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt, kann die Revision nur zugelassen werden, wenn gegenüber jeder der Begründungen ein durchgreifender Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. Juni 1990 - 1 B 92.90 - Buchholz 11 Art. 116 GG Nr. 20 S. 11 f., vom 26. Juni 2014 - 1 B 5.14 - Buchholz 402.242 § 81 AufenthG Nr. 3 und vom 28. März 2019 - 1 B 7.19 - juris Rn. 14).
Rz. 29
Daran fehlt es hier, weil durchgreifende Zulassungsgründe in Bezug auf das Erfordernis des Zugangs zu einer menschenwürdigen Unterkunft - wie unter 2. ausgeführt - nicht vorliegen. Die Beklagte legt auch nicht ansatzweise dar, dass die Klägerin durch eine aus ihrer Sicht zumut- und erreichbare Beschäftigung im Bereich der sogenannten Schattenwirtschaft ein Einkommen in einer Größenordnung erzielen könne, welche ihr die Möglichkeit der Finanzierung einer auch menschenwürdigen Unterkunft eröffnete.
Rz. 30
b) Unabhängig davon liegt insoweit ein Verfahrensfehler auch deswegen nicht vor, weil die Frage, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem Mangel leidet, von dem materiell-rechtlichen Standpunkt des Vorinstanzgerichts aus zu beurteilen ist, selbst wenn dieser verfehlt sein sollte (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. März 2019 - 5 BN 1.18 - juris Rn. 28 und vom 16. Dezember 2020 - 3 B 45.19 - juris Rn. 12, jeweils m.w.N.).
Rz. 31
Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass es sich angesichts der Bemühungen der Europäischen Union und ihres Mitgliedstaats Italien zur Bekämpfung von Schwarzarbeit von vornherein verbiete, diese dadurch zu untergraben, dass Asylsuchende auf die Möglichkeit verwiesen würden, in Italien zur Sicherung des Existenzminimums - verbotene - Schwarzarbeit aufzunehmen (vgl. insoweit differenzierter VGH Mannheim, Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 - juris Rn. 12 f.; zu der Obliegenheit, eine Verletzung des Art. 4 GRC durch alle zumutbaren Anstrengungen zur Erzielung von Erwerbseinkommen abzuwenden, s.a. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 23). Von diesem Rechtsstandpunkt aus bestand für das Berufungsgericht keine Veranlassung zu einer vertiefenden Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu den Chancen auf diesem Teilsegment des Arbeitsmarkts oder zu einer weiteren Sachaufklärung in Bezug auf die Rechtspraxis bei der Verfolgung und Ahndung der Beschäftigten bei einer Tätigkeit im Bereich der (grenzwertigen oder illegalen) Schattenwirtschaft.
Rz. 32
II. Die Revision ist auch nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Rz. 33
1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - juris Rn. 2 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris Rn. 3).
Rz. 34
2. Eine Zulassung der Revision scheidet zunächst hinsichtlich der als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Frage aus,
"ob unter Berücksichtigung der vom EuGH [Rs. C-297/17 (Ibrahim u.a.) und Rs. C-163/17 (Jawo)] in seinen Urteilen vom 19.03.2019 aufgestellten Maßstäben anzunehmen sei, dass allen Rückkehrern nach Italien, unabhängig von einer besonderen Vulnerabilität, dort nach einer Gewährung internationalen Schutzes derartige Nachteile drohen, dass dies einen Verstoß gegen Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK darstellen kann".
Rz. 35
Die Frage betrifft die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts zu der Situation, denen Rückkehrer nach Italien ausgesetzt sind, und zielt daher auf der tatrichterlichen Würdigung vorbehaltene Tatsachenfragen. Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 ≪26≫), eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung nicht aus. Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und für das Bundesverwaltungsgericht keine Befugnis eröffnet, Tatsachen(würdigungs)fragen grundsätzlicher Bedeutung in "Länderleitentscheidungen", wie sie etwa das britische Prozessrecht kennt, zu treffen.
Rz. 36
3. Ebenso wenig ist die Revision wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage zuzulassen,
"ob Ausländern, denen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz zuerkannt wurde, es zumutbar ist, eine Erwerbstätigkeit im informellen Bereich der Schattenwirtschaft auszuüben, um einer mit Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK unvereinbaren Lage zu entgehen."
Rz. 37
3.1 Die Maßstabsfrage, ob eine Tätigkeit im Bereich der "Schattenwirtschaft" auch dann (normativ) zumutbar (BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3.21 - juris) ist, wenn sie rechtlich grenzwertig oder illegal ist, sie indes nicht effektiv oder in Bezug auf die dort Tätigen verfolgt wird und in dem Sinne "landesüblich" ist, als sie einen mehr als unwesentlichen Teil der Ökonomie dieses Staates bildet, ist im Ansatz eine klärungsfähige, der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts vorgelagerte Rechtsfrage. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings geklärt, dass das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann gesichert ist, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, Beschlüsse vom 9. Januar 1998 - 9 B 1130.97 - juris Rn. 5 und vom 17. Mai 2006 - 1 B 100.05 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 328 Rn. 11; vgl. in anderem Zusammenhang ferner EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2019 - C-93/18 [ECLI:EU:C:2019:809], Bajratari - Rn. 48; BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 123 Rn. 32).
Rz. 38
3.2 Nicht abschließend zu entscheiden ist, ob insoweit ein weitergehender, abstrakt genereller (unionsrechtlicher) Klärungsbedarf zu den Maßstäben der Statthaftigkeit einer Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft besteht - etwa dahin, ob danach zu differenzieren ist, in welcher Weise der Staat gegen Schwarzarbeit vorgeht, auf wen eine etwaige Strafandrohung abzielt und wie sich der tatsächliche Bedarf an ausländischen Arbeitskräften in bestimmten Sektoren der Volkswirtschaft und die tatsächliche Praxis der Strafverfolgung darstellten - und ob ein solcher Klärungsbedarf hinreichend dargelegt ist. Denn es fehlt dieser Frage die Entscheidungserheblichkeit, wenn und weil der drohende Verstoß gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK nach der nicht mit durchgreifenden Zulassungsgründen angegriffenen Begründung des Berufungsgerichts bereits aus der Unterbringungssituation folgt.
Rz. 39
III. Die von der Beschwerde geltend gemachte Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist nicht in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlichen Weise dargelegt.
Rz. 40
1. Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann ordnungsgemäß bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angegriffene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung u.a. des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz ausdrücklich oder zumindest konkludent widersprochen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14 m.w.N.).
Rz. 41
Eine Divergenz ist dagegen nicht begründet, wenn im Entscheidungsfall auf der Ebene der Subsumtion ein höchstrichterlich aufgestellter Rechtssatz nicht oder unzutreffend angewandt worden ist (stRspr, BVerwG, Beschluss vom 17. Juli 2003 - 7 B 62.03 - juris Rn. 8). Sie kann allenfalls bei einer Abweichung in der Sache vorliegen, wenn sich die Vorinstanz zwar in ihren Obersätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch entsprechende Wiedergabe angeschlossen hat, die Anwendung auf den Einzelfall aber zeigt, dass sie trotzdem einen anderen Rechtssatz oder Maßstab tatsächlich zugrunde gelegt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. September 2005 - 1 B 12.05 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 316 Rn. 4 ff.). Für die Darlegung einer derartigen Divergenz müssen "verdeckte" Rechtssätze in der Beschwerde so deutlich aus dem gedanklichen Zusammenhang der divergierenden Entscheidung herausgearbeitet werden, dass unzweifelhaft feststeht, welcher Rechtssatz aufgestellt bzw. zugrunde gelegt wurde (im Sinne eines Beruhens, vgl. BAG, Beschluss vom 15. Oktober 1979 - 7 AZN 9/79 - BAGE 32, 136 = juris Rn. 9; ferner BFH, Beschluss vom 23. April 1992 - VIII B 49/90 - BFHE 167, 488 = juris Rn. 14).
Rz. 42
2. Die Beschwerde stellt schon keinen von dem Oberverwaltungsgericht ausdrücklich aufgestellten und der Entscheidung zugrunde gelegten Rechtssatz einem solchen des Bundesverwaltungsgerichts gegenüber, der davon abweicht. Sie macht allein geltend, das Oberverwaltungsgericht habe den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (u.a. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 17) vorgegebenen Maßstab, "wann systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen [bei einer Rücküberstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union] unter Art. 4 GRC fallen, wenn sie die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen", abweichend angewandt und sich dabei weniger von den "harten" Maßstäben des Gerichtshofs der Europäischen Union, sondern "eher von dem Bild eines bürgerlichen Lebens" leiten lassen, das Flüchtlinge in Italien nur schwer erreichen könnten. Eine derartig vage Umschreibung eines (vermeintlich) abweichenden Rechtssatzes (hier in Form des für die Beurteilung der Rückkehrsituation in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugrunde zu legenden Maßstabes) lässt schon nicht erkennen, welchen abstrakten Maßstab die Vorinstanz ihrer Entscheidung zugrunde gelegt haben soll. Indem die Beschwerde weiter darauf abstellt, das Oberverwaltungsgericht sei bei "seiner Einschätzung" von den Maßstäben abgewichen und zu einer "fehlerhaften Prognose" gekommen, beschreibt sie vielmehr einen bloßen, der Divergenz nicht unterfallenden Rechtsanwendungsfehler.
Rz. 43
IV. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
Rz. 44
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Dokument-Index HI15498411 |