Leitsatz (amtlich)
Ein Wahlverteidiger kann nach § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO als Pflichtverteidiger beigeordnet werden, wenn er für diesen Fall das Wahlmandat niedergelegt hat. Die Rechtsprechung zur Unzulässigkeit bedingter Pflichtverteidigungsanträge (BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 2016 - 2 WDB 1.16 - Buchholz 450.2 § 90 WDO Nr. 3) wird aufgegeben.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Nord (Entscheidung vom 09.02.2021; Aktenzeichen TDG N 6 VL 36/20) |
Tenor
Auf die Beschwerde des früheren Soldaten wird der Beschluss des Vorsitzenden der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 9. Februar 2021 aufgehoben.
Dem früheren Soldaten wird Rechtsanwalt A als Pflichtverteidiger für das Verfahren N 6 VL 36/20 vor dem Truppendienstgericht Nord beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Bund auferlegt.
Tatbestand
Rz. 1
Das Beschwerdeverfahren betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Beiordnung eines bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger.
Rz. 2
In dem gegen den früheren Soldaten wegen Verletzung der politischen Treuepflicht geführten gerichtlichen Disziplinarverfahren teilte der Vorsitzende der Truppendienstkammer unter dem 1. Dezember 2020 die Absicht mit, ihm wegen der möglichen Höchstmaßnahme und der schwierigen Beweislage Rechtsanwalt B zum Pflichtverteidiger zu bestellen; sollte der frühere Soldat einen anderen Verteidiger wünschen, könne er dies mitteilen.
Rz. 3
Mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 zeigte der vom früheren Soldaten am selben Tag beauftragte Rechtsanwalt A dem Truppendienstgericht seine Mandatierung an und beantragte für den früheren Soldaten, diesem als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden; im Fall der Beiordnung lege er das Wahlmandat nieder.
Rz. 4
Der Vorsitzende der Truppendienstkammer hat den Antrag nach rechtlichem Hinweis mit Beschluss vom 9. Februar 2021 abgelehnt. Eine Pflichtverteidigerbestellung setze nach § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO eine fehlende Verteidigung voraus. Ein bisheriger Wahlverteidiger könne nur dann als Pflichtverteidiger beigeordnet werden, wenn das Wahlmandat vor der Bestellung zum Pflichtverteidiger ende. Die bedingt erklärte Niederlegung eines Wahlmandats sei unwirksam. Sie widerspreche § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO. Zum einen bestehe für eine Pflichtverteidigerbestellung nur ein Bedürfnis, wenn der betreffende Soldat keinen Verteidiger habe. Zum anderen berühre die Erklärung die dem Vorsitzenden der Truppendienstkammer zustehende Ermessensausübung, nicht den vom früheren Soldaten bezeichneten Verteidiger bestellen zu müssen, wenn dem ein wichtiger Grund entgegenstehe.
Rz. 5
Mit seiner gegen diesen Beschluss gerichteten Beschwerde macht der frühere Soldat im Wesentlichen geltend, die gewählte Vorgehensweise entspreche der ständigen Praxis in strafgerichtlichen Verfahren. Seine Wahlverteidigung solle mit der Beiordnung enden und nur im Fall der Nichtbestellung zum Pflichtverteidiger fortbestehen. Es wäre eine sinnlose Formalität, wenn er das Wahlmandat kündigen oder sein Wahlverteidiger das Mandat niederlegen würde, und er sodann beantragen würde, ihm seinen früheren Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Rz. 6
Der Vorsitzende der Truppendienstkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen und das Verfahren dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
Rz. 7
Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält die Beschwerde aus den im angefochtenen Beschluss genannten Gründen für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Dem früheren Soldaten ist sein bisheriger Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Rz. 9
1. Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO bestellt der Vorsitzende der Truppendienstkammer dem Soldaten, der noch keinen Verteidiger gewählt hat, auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn dessen Mitwirkung geboten erscheint. Die Regelung zielt darauf ab, im disziplinargerichtlichen Verfahren bei sachlicher Notwendigkeit und unabhängig von den sozialen Verhältnissen des Soldaten eine den rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechende wirksame Verteidigung sicherzustellen (Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 90 Rn. 9; eingehend BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2015 - 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 24 m.w.N.).
Rz. 10
Zwar ist nach dem Wortlaut der Vorschrift die Bestellung eines Pflichtverteidigers nur möglich, wenn der betroffene Soldat "noch keinen Verteidiger gewählt hat". Die Bestellung eines Pflichtverteidigers setzt danach das Nichtbestehen eines Wahlmandats voraus. Dies schließt jedoch die Beiordnung eines bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger nicht aus. Diese kommt vor allem in Betracht, wenn eine Wahlverteidigung bereits vor der Bestellung zum Pflichtverteidiger endet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 2016 - 2 WDB 1.16 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 9 m.w.N.).
Rz. 11
Einem Soldaten, der noch keinen Verteidiger gewählt hat, ist ein Soldat gleichzustellen, dessen Verteidiger das Mandat niedergelegt hat. Nichts anderes gilt, wenn der Verteidiger erklärt hat, das Wahlmandat mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger niederzulegen. Soweit der Senat eine solche bedingt erklärte Niederlegung des Wahlmandats in seinem Beschluss vom 5. Oktober 2016 (BVerwG - 2 WDB 1.16 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 3) als unwirksam angesehen hat, hält er daran nicht mehr fest.
Rz. 12
Der Senat folgt insoweit der nach dem Willen des Gesetzgebers gebotenen Auslegung des am 13. Dezember 2019 in Kraft getretenen § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I 2128). Danach wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies beantragt. Zu der Formulierung "noch keinen Verteidiger hat" heißt es in der Gesetzesbegründung, Grundvoraussetzung für die Antragstellung sei, "dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen" (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 36; vgl. auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 141 Rn. 4; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 39. Aufl. 2021, § 141 Rn. 2). Mit dieser Klarstellung hat der Gesetzgeber einer dahingehenden strafgerichtlichen Rechtsprechung zu § 141 StPO a.F. (vgl. etwa OLG Nürnberg, Beschluss vom 14. Januar 1987 - Ws 58/87 - AnwBl 1987, 236; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. April 2009 - 1 Ws 235/09 - NJW 2009, 3044; OLG München, Beschluss vom 29. Juli 2014 - 1 Ws 526/14 - juris Rn. 13; ThürOLG, Beschluss vom 10. Oktober 2014 - 1 Ws 453/14 - juris Rn. 10) nunmehr ausdrücklich Rechnung getragen.
Rz. 13
Dem schließt sich der Senat auch für die Regelung des § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO an. Die Erklärung eines Wahlverteidigers, das Wahlmandat automatisch mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger niederzulegen, bildet somit eine zulässige innerprozessuale Bedingung. Dies steht im Einklang mit der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach der Antrag eines Wahlverteidigers, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen, konkludent die Erklärung enthält, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger enden (vgl. BGH, Urteil vom 13. August 2014 - 2 StR 573/13 - NJW 2014, 3320 und Beschluss vom 5. Oktober 2016 - 3 StR 268/16 - juris Rn. 2). Der Bundesgerichtshof sieht eine solche bedingt erklärte Niederlegung des Wahlmandats als prozessual zulässig an und geht davon aus, dass mit der Antragsstattgabe das zivilrechtliche Auftrags- bzw. Geschäftsbesorgungsverhältnis (§ 675 BGB) des Rechtsanwalts erlischt.
Rz. 14
Dies bedeutet nicht, dass dem Antrag eines Soldaten, ihm seinen bisherigen Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen, stets stattzugeben ist. Vielmehr muss die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO geboten erscheinen. Dies ist der Fall, wenn sie zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens unter Berücksichtigung auch des öffentlichen Interesses an der Durchsetzung der Zwecke des Disziplinarverfahrens und des Beschleunigungsgebotes, in erster Linie aber zum Schutz des Angeschuldigten erforderlich ist, was insbesondere wegen der Auswirkungen der drohenden Sanktion anzunehmen sein kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2015 - 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 25). Darüber hinaus darf der Bestellung des vom Soldaten bezeichneten Pflichtverteidigers kein wichtiger Grund entgegenstehen. Zwar fordert der Grundsatz des fairen Verfahrens, die Wünsche eines Angeschuldigten auf Beiordnung eines bestimmten Verteidigers - soweit wie möglich - zu berücksichtigen. Ein Angeschuldigter hat jedoch keinen Anspruch auf Beiordnung des von ihm bezeichneten Rechtsbeistands. Vielmehr kann ihm in begründeten Ausnahmefällen die Beiordnung eines bestimmten Verteidigers versagt oder eine bereits erfolgte Bestellung widerrufen werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2008 - 2 BvR 1146/08 - juris Rn. 10 m.w.N.).
Rz. 15
2. Nach Maßgabe dessen ist dem früheren Soldaten sein bisheriger Wahlverteidiger A als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Rz. 16
a) Der frühere Soldat ist einem Soldaten gleichzustellen, der noch keinen Verteidiger gewählt hat. Denn er hat auf Hinweis des Truppendienstgerichts, dass beabsichtigt sei, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, seinen Wahlverteidiger mandatiert, der daraufhin für ihn beantragt hat, ihm als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Der Wahlverteidiger hat bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger niederzulegen. Er hat im Schriftsatz vom 10. Dezember 2020 erklärt: "Im Falle der Beiordnung lege ich das Wahlmandat nieder". In der Beschwerdebegründung hat er erläutert, dass damit gemeint war, dass das Wahlmandat mit der Beiordnung enden solle; es solle nur fortbestehen, wenn er nicht als Pflichtverteidiger beigeordnet werden sollte. Seine Erklärung ist dementsprechend so auszulegen, dass das Wahlmandat mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger automatisch niedergelegt wird.
Rz. 17
b) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist in aller Regel geboten, wenn nach den angeschuldigten Pflichtverletzungen die Höchstmaßnahme Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ist. Denn der Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage stellt in der Regel eine so gravierende Folge für den Angeschuldigten dar, dass ihm auch unter Berücksichtigung des Kostenrisikos juristischer Sachverstand zur effektivsten Wahrung seiner Rechte und Interessen beizuordnen ist. Dies ist typischerweise der Fall, wenn die Entfernung aus dem aktiven Dienst oder die Aberkennung des Ruhegehalts im Raum steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2015 - 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 31 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Denn dem früheren Soldaten,... als erkannter Extremist bewertet wurde, werden in der Anschuldigungsschrift mehrere Verletzungen der politischen Treuepflicht zur Last gelegt; die Verhängung der Höchstmaßnahme kann insoweit nicht ausgeschlossen werden. Diese bestünde angesichts der einbehaltenen Übergangsbeihilfe und der noch bis Ende März 2022 fortlaufenden Zahlung von Übergangsgebührnissen in einer Aberkennung des Ruhegehalts (vgl. § 1 Abs. 3, § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Satz 2 WDO).
Rz. 18
c) Es ist auch kein wichtiger Grund ersichtlich, der es gebieten würde, dem früheren Soldaten ausnahmsweise einen anderen als den von ihm benannten Verteidiger seines Vertrauens als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Rz. 19
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 139 Abs. 1 Satz 1 WDO.
Fundstellen
Dokument-Index HI14686024 |