Verfahrensgang
Sächsisches OVG (Urteil vom 19.05.2022; Aktenzeichen 1 C 82/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2022 ergangenen Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, soweit es den Antrag der Antragstellerin zu 1 betrifft, wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 2
1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine klärungsbedürftige Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die in dem angestrebten Revisionsverfahren beantwortet werden kann, sofern dies über den Einzelfall hinaus zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung oder zur Fortbildung des Rechts beiträgt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 ≪91≫). Diese Voraussetzungen legt die Beschwerde nicht ordnungsgemäß nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dar.
Rz. 3
Die Antragsgegnerin möchte rechtsgrundsätzlich geklärt wissen,
ob die Möglichkeit eines Störpotenzials - im Gewerbegebiet -, insbesondere eines Trading-down-Effekts, solche Bordelle oder bordellartigen Betriebe voraussetzt, die nach außen in Erscheinung treten.
Rz. 4
Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht; sie ist nicht auf eine Rechtsfrage, sondern auf eine Tatsachenfrage bezogen.
Rz. 5
Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Prüfung, ob besondere städtebauliche Gründe vorliegen, die im Wege der Feindifferenzierung gemäß § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO bei dem im angegriffenen Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet den Ausschluss von "Gewerbebetrieben, die sexuelle und erotische Dienstleistungen jeder Art anbieten, wie etwa Bordelle, bordellartige Nutzungen, Laufhäuser, Domina-Studios, erotische Massagesalons" rechtfertigen, in Bezug auf prostitutive Betriebe, die als solche nicht nach außen in Erscheinung treten, keine relevanten Störungen der mit der Planung verfolgten Ziele festgestellt und die Regelung hinsichtlich dieser Betriebe folglich als überschießend bewertet. Das Oberverwaltungsgericht führt dabei ausdrücklich aus, dass die Möglichkeit eines Trading-down-Effekts (Gebietsabwertung) ebenfalls nach außen in Erscheinung tretende Bordelle oder bordellartige Betriebe voraussetze.
Rz. 6
Diese Einschätzung, die sich mit der Erwähnung "bordellartiger Betriebe" jedenfalls auf alle im normierten Ausschlusstatbestand beispielhaft aufgeführten Gewerbebetriebe erstreckt und auf die sich die von der Antragsgegnerin aufgeworfene Frage bezieht, führt nicht auf eine Frage des revisiblen Rechts. Es unterliegt zwar der revisionsgerichtlichen Kontrolle, ob ein - als Tatsachensatz einzuordnender - allgemeiner Erfahrungssatz eines bestimmten Inhalts besteht (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. Mai 1974 - 4 C 31.72 - Buchholz 406.11 § 128 BBauG Nr. 15 S. 32 und vom 25. Juni 1991 - 9 C 22.90 - BVerwGE 88, 312 ≪320≫; Beschlüsse vom 23. Dezember 2010 - 4 B 36.10 - ZfBR 2011, 275 ≪275≫ und vom 7. Juni 2016 - 4 B 47.14 - ZfBR 2016, 799 ≪Rn. 19≫; siehe auch Kraft, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 137 Rn. 76). Auf einen solchen Erfahrungssatz als eines jedermann zugänglichen Satzes, der nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft gilt und durch keine Ausnahme durchbrochen wird (BVerwG, Urteile vom 22. April 1994 - 8 C 29.82 - BVerwGE 95, 341 ≪351≫, vom 27. November 2014 - 7 C 20.12 - BVerwGE 151, 1 Rn. 45 und vom 12. Oktober 2022 - 6 C 10.20 - NVwZ 2023, 685 Rn. 79), hat das Oberverwaltungsgericht sich mit dem Verweis auf entsprechende Ausführungen im Urteil des beschließenden Senats vom 9. November 2021 - 4 C 5.20 - (BVerwGE 174, 118 Rn. 14) aber nicht gestützt. Es hat den in Bezug genommenen Erfahrungssatz selbst nicht in diesem Sinne qualifiziert. Der beschließende Senat geht davon aus, dass der (sozioökonomische) Begriff des Trading-down-Effekts eine Entwicklung kennzeichnet, die auf der Beobachtung wirtschaftlicher Aktivitäten und ihrer Auswirkung auf gesellschaftliche Prozesse beruht, sodass ihre Erfassung und Bewertung der Ebene der Sachverhaltsermittlung zuzuordnen ist (BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 2013 - 4 B 48.12 - BauR 2013, 934 ≪Rn. 9≫). Es handelt sich um einen allgemeinen städtebaulichen und somit besonderen (speziellen) Erfahrungssatz (BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1994 - 4 C 13.93 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 172 S. 24 f.; Beschlüsse vom 21. Dezember 1982 - 4 B 182.92 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 15 S. 38 und vom 4. September 2008 - 4 BN 9.08 - ZfBR 2008, 799 ≪800≫), der wegen der Bindungswirkung des § 137 Abs. 2 VwGO nur mittels einer Verfahrensrüge zum Gegenstand eines Revisionsverfahrens gemacht werden kann (siehe auch BVerwG, Urteil vom 3. Mai 1974 - 4 C 31.72 - Buchholz 406.11 § 128 BBauG Nr. 15 S. 32). Auf eine solche hat die Antragsgegnerin ihre Beschwerde weder ausdrücklich noch der Sache nach und insoweit ordnungsgemäß gestützt.
Rz. 7
2. Die geltend gemachte Divergenzrüge führt ebenso wenig zur Zulassung der Revision.
Rz. 8
Nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung (u. a.) des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Diese Abweichung setzt einen Widerspruch in einem abstrakten Rechtssatz voraus, also einen prinzipiellen Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes (BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2017 - 6 B 43.17 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 198 Rn. 4). In der Beschwerdebegründung muss nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO die Entscheidung bezeichnet werden, von der das Urteil abweicht. Der Beschwerde obliegt es, aus einer Entscheidung des Divergenzgerichts einen tragenden, abstrakten Rechtssatz zu einer revisiblen Rechtsvorschrift zu benennen und darzulegen, dass die Entscheidung der Vorinstanz auf einem abweichenden abstrakten Rechtssatz zu derselben Rechtsvorschrift beruht. Der Vorwurf, die Vorinstanz habe einen abstrakten Rechtssatz des Divergenzgerichts fehlerhaft oder gar nicht angewandt, genügt dagegen nicht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n. F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14).
Rz. 9
Eine hiernach beachtliche Abweichung zu den benannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts legt die Beschwerde nicht dar.
Rz. 10
a) In Bezug auf das Urteil vom 9. November 2021 - 4 C 5.20 - (BVerwGE 174, 118) erschließt sich nicht, inwieweit das Oberverwaltungsgericht von den bezeichneten Rechtssätzen des Bundesverwaltungsgerichts, die sich auf die Möglichkeit der Typisierung beim Begriff des nicht wesentlich störenden Gewerbebetriebs im Mischgebiet (§ 6 BauNVO) beziehen (Rn. 14), abgewichen sein soll. Vielmehr behauptet die Antragsgegnerin lediglich, dass das Oberverwaltungsgericht aus den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht die zutreffenden Schlüsse gezogen habe und der Frage eines wirtschaftlichen Verdrängungseffekts unzureichend nachgegangen sei.
Rz. 11
b) Zu den rechtssatzmäßigen Vorgaben im Urteil vom 10. September 2015 - 4 CN 8.14 - (BVerwGE 153, 16) zur "konsistenten" Umsetzung der planerischen Zielformulierung bei der Ausgestaltung eines Nutzungsausschlusses nach § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO hat sich das Oberverwaltungsgericht nicht in Widerspruch gesetzt. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausführt, dass es auf die vollständige Verwirklichung des Planungsziels nicht ankomme, die Zweck-Mittel-Relation nicht notwendigerweise kongruent sei (Rn. 18), folgt daraus lediglich, dass die Rechtswidrigkeit eines Ausschlusses bestimmter Nutzungsarten sich nicht aus der unterbliebenen Einbeziehung weiterer Nutzungsarten ergeben kann. Dass demgegenüber der Ausschluss aller einbezogenen Nutzungsarten zur Förderung des Planungsziels geeignet sein muss, hat das Bundesverwaltungsgericht nachfolgend bei der Prüfung einer überschießenden Regelung dargelegt (Rn. 19). Hieran hat sich das Oberverwaltungsgericht ausgerichtet.
Rz. 12
c) Schließlich ist auch eine Abweichung vom Beschluss vom 5. Juni 2014 - 4 BN 8.14 - (BRS 82 Nr. 18) nicht dargelegt. Soweit darin ausgeführt wird, dass Bordelle und bordellartige Betriebe eine in der sozialen und ökonomischen Realität vorkommende Unterart eines Gewerbebetriebs im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO darstellten und in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet gemäß § 1 Abs. 9 BauNVO ausgeschlossen werden könnten (Rn. 10), werden die betreffenden Betriebe nur als grundsätzlich taugliches Objekt eines Nutzungsausschlusses benannt. Zum Vorliegen der weiteren rechtlichen Voraussetzungen einer solchen Festsetzung verhält sich die Entscheidung nicht. Das hat bereits das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgeführt.
Rz. 13
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15806230 |