Entscheidungsstichwort (Thema)
rechtliches Gehör. mündliche Verhandlung. Ladung. Empfangsbekenntnis. Zustellung. Nachweis. Zugang. Kenntnis vom Zugang. Überraschungsentscheidung
Leitsatz (amtlich)
Wird eine Ladung zur mündlichen Verhandlung an einen Rechtsanwalt durch Empfangsbekenntnis zugestellt, kommt es für die Wirksamkeit der Zustellung darauf an, dass der Rechtsanwalt selbst Kenntnis vom Zugang des zuzustellenden Schriftstücks genommen hat. Bestreitet der Rechtsanwalt den Empfang der Ladung und ist das Empfangsbekenntnis nicht auffindbar, bedarf es eines sonstigen zweifelsfreien Nachweises, dass der Rechtsanwalt die Ladung erhalten hat. Das Gericht trägt die verfahrensrechtliche Beweislast für den Zugang der Ladung.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; VwGO § 56 Abs. 1, § 79 Abs. 1 Nr. 1, § 132 Abs. 2 Nrn. 2-3, § 133 Abs. 6; ZPO § 174 Abs. 1, 4
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Urteil vom 05.02.2015; Aktenzeichen 4 LB 8/13) |
VG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 24.10.2012; Aktenzeichen 4 A 204/10) |
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. Februar 2015 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird – zugleich für die Berufungsinstanz – auf 408 EUR festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde ist begründet. Zwar rechtfertigt sie nicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz (1.). Die Beschwerde macht jedoch mit Erfolg einen entscheidungserheblichen Verfahrensmangel geltend (2.); dies führt gemäß § 133 Abs. 6 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht.
Rz. 2
1. Die Rüge der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) dringt nicht durch. Die Beschwerde macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe dem Widerspruchsbescheid keine Verwaltungsaktsqualität beigemessen und deshalb die Zulässigkeit der Klage verneint, obwohl nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Gestaltsänderung i.S.d. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auch dann vorliege, wenn der Widerspruchsbescheid aus einer schlichten Willenserklärung einen Verwaltungsakt mache. Damit genügt sie schon nicht den Anforderungen, die § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Bezeichnung einer Divergenz stellt. Danach ist ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz zu benennen, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung dieses Gerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14 m.w.N.). Daran fehlt es. Vielmehr kritisiert die Beschwerde die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in der Art einer Revisionsbegründung. Auf die Rüge unzutreffender Rechtsanwendung kann aber eine Divergenz von vornherein nicht gestützt werden.
Rz. 3
2. Die Beschwerde rügt dagegen zu Recht die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG.
Rz. 4
a) Das Oberverwaltungsgericht hat diesen Anspruch verletzt, weil nicht nachgewiesen ist, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine Ladung zur in seiner Abwesenheit durchgeführten mündlichen Verhandlung am 5. Februar 2015 erhalten hat.
Rz. 5
Die Ladung zur mündlichen Verhandlung ist gemäß § 56 Abs. 1 und 2 VwGO nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung zuzustellen. Die Zustellung an einen Rechtsanwalt kann gemäß § 174 Abs. 1 ZPO gegen Empfangsbekenntnis erfolgen, welches den Nachweis für die Zustellung erbringt (§ 174 Abs. 4 ZPO) und die Zustellungsurkunde nach § 182 ZPO ersetzt. Für die Wirksamkeit der Zustellung kommt es darauf an, dass der Rechtsanwalt selbst Kenntnis vom Zugang des zuzustellenden Schriftstücks genommen hat (BVerwG, Urteil vom 24. Mai 1984 – 3 C 48.83 – Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 23 S. 10 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 19. April 2012 – IX ZB 303/11 – NJW 2012, 2117 Rn. 6; OLG Hamm, Urteil vom 12. Januar 2010 – 4 U 193/09 – NJW 2010, 3380 ≪3381≫; Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 56 Rn. 33; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 174 Rn. 5b). Ein Empfangsbekenntnis für die Zustellung der Ladung für den 5. Februar 2015 befindet sich nicht bei den Akten und ist auch sonst nicht auffindbar. Der Verlust des Empfangsbekenntnisses nach Zustellung lässt zwar die Zustellungswirkungen nicht mehr entfallen; der Nachweis kann dann mithilfe anderer Beweismittel erbracht werden (Stöber, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 174 Rn. 19). Auch wird der fehlende Nachweis einer formgerechten Zustellung gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 189 ZPO durch den tatsächlichen Zugang des Dokuments geheilt. Ausreichend, aber auch erforderlich ist dafür aber, dass der Rechtsanwalt zumindest konkludent bestätigt, das Schriftstück selbst erhalten und als zugestellt entgegengenommen zu haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2006 – 2 B 10.06 – Buchholz 303 § 174 ZPO Nr. 2 Rn. 5, Beschluss vom 29. April 2011 – 8 B 86.10 – Buchholz 310 § 56 VwGO Nr. 13 Rn. 6). Der betreffende Nachweis lässt sich hier nicht führen, weil der Bevollmächtigte des Klägers den Zugang der Ladung bestritten hat. Ohne einen Nachweis der Zustellung ist die Ladung jedoch nicht wirksam erfolgt (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. April 2005 – 1 C 6.04 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 72 S. 70).
Rz. 6
Ein solcher Nachweis ist auch nicht in den dienstlichen Erklärungen von Vorsitzendem Richter Habermann sowie der Justizangestellten Vogt zu sehen, die Empfangsbekenntnisse hätten zum Termin vorgelegen, so dass die rechtzeitige Ladung festgestellt worden sei. Zwar gibt es keinen konkreten Anlass, an den dienstlichen Erklärungen zu zweifeln. Auszuschließen ist aber nicht, dass versehentlich ein anderes Empfangsbekenntnis für das des Klägerbevollmächtigten gehalten wurde. Ebenfalls nicht auszuschließen ist ein Irrtum der Geschäftsstellenbediensteten bei der Eintragung des Zustellungsdatums in EUREKA-Fach. Anlass zu Zweifeln gibt umgekehrt ebenso wenig die Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, dass er vom Termin der mündlichen Verhandlung wie auch der Kläger erst aus der Presseveröffentlichung vom 14. Februar 2015 (Sonnabend) erfahren und sich daraufhin am 17. Februar 2015 (Dienstag) an das Oberverwaltungsgericht gewandt hat mit der Bitte um Aufklärung, weshalb er zu diesem Termin nicht geladen worden ist. Plausibel ist diese Erklärung auch deshalb, weil das Verfahren des Klägers als „Musterverfahren” dienen sollte und deshalb davon ausgegangen werden kann, dass sowohl der Kläger als auch sein Prozessbevollmächtigter an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wollten. Die vom Klägerbevollmächtigten detailliert geschilderte Büroorganisation wiederum legt nicht nahe, dass ihm infolge eines Organisationsverschuldens die Ladung nicht vorgelegt worden ist. Er hat im Einzelnen dargelegt, wie das Vorgehen bei Ladungen in seinem Büro organisiert ist. Die Organisation stellt sicher, dass Ladungen dem Bevollmächtigten unmittelbar nach Eingang vorgelegt werden und er sich den Termin notiert; anschließend wird der Termin in den Terminkalender eingetragen.
Rz. 7
Der Nachweis der Zustellung der Ladung ist deshalb nicht erbracht. Das Gericht trägt aber die verfahrensrechtliche Beweislast dafür, dass die Ladung zugegangen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. April 2005 – 1 C 6.04 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 72 S. 70 zum Nachweis eines Anhörungsschreibens zu § 130a VwGO). Es ist Sache der Gerichtsorganisation, für die sorgsame Aufbewahrung der Empfangsbekenntnisse zu sorgen. Das Fehlen des Ladungsnachweises zwingt unter den vorliegenden Umständen zu dem Schluss, dass der Kläger zur mündlichen Verhandlung nicht geladen worden ist. Eine ohne Teilnahme des Klägers bzw. seines Bevollmächtigten durchgeführte mündliche Verhandlung verletzt den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und begründet einen wesentlichen Mangel des Gerichtsverfahrens.
Rz. 8
b) Darüber hinaus rügt die Beschwerde zu Recht die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs, weil das Oberverwaltungsgericht eine Überraschungsentscheidung getroffen hat. Eine solche liegt vor, wenn ein Gericht einen bis dahin nicht erörterten oder sonst hervorgetretenen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten, und die Beteiligten sich dazu nicht äußern konnten. Äußern können sich die Beteiligten nur, wenn sie den zu Grunde gelegten Prozessstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht kennen (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 – 1 BvR 385/90 – BVerfGE 101, 106 ≪129≫; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1987 – 9 C 147.86 – juris Rn. 23 m.w.N.; Beschlüsse vom 20. November 2012 – 2 B 56.12 – NVwZ 2013, 1093 Rn. 5 und vom 27. Januar 2015 – 6 B 43.14 – NVwZ-RR 2015, 416 Rn. 23).
Rz. 9
Das Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung tragend darauf gestützt, dass die Klage unzulässig sei, weil der streitgegenständliche Abwassergebührenbescheid der Beklagten weder eine Festsetzung von Vorauszahlungen noch ein entsprechendes Leistungsangebot enthalte und im Widerspruchsbescheid nicht erstmalig Vorauszahlungen auf die Schmutzwasserbeseitigungsgebühr für das Jahr 2010 festgesetzt oder Abschlagszahlungen gefordert worden seien. Soweit das Oberverwaltungsgericht sich in seinen Entscheidungsgründen gleichwohl zu den materiellen Rechtsfragen äußert, ist das Urteil hierauf nicht gestützt.
Rz. 10
Die Beklagte ging demgegenüber im Widerspruchsbescheid davon aus, dass der Ausgangsbescheid auch die Vorauszahlungen auf die Abwassergebühr 2010 betrifft, und hielt deshalb den Widerspruch für zulässig. Vorauszahlungen sind im Widerspruchsbescheid nicht ausdrücklich festgesetzt worden; er stellt aber klar, dass sich der Widerspruch gegen die Vorauszahlungen für die Rechnungsperiode 2010 wendet. Gegenstand der Klage war nach dem Stand der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 10. Oktober 2012 der Bescheid vom 18. Januar 2010 und der Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2010 beschränkt auf die Vorauszahlungen für das Jahr 2010. Erörtert wurde weder, dass der angegriffene Abwassergebührenbescheid keine Vorauszahlungen festgesetzt hat, diese vielmehr nur in der Rechnung der Gemeindewerke S. GmbH vom 18. Januar 2010 aufgeführt sind, noch die Folgerungen für die Zulässigkeit der Klage. Beides ist auch nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils. Die Schriftsätze der Beteiligten haben sich lediglich mit den materiellen Rechtsfragen auseinander gesetzt. Im Berufungszulassungsbeschluss stellte das Oberverwaltungsgericht ebenfalls nur auf die Frage ab, ob technisch unterschiedliche Einrichtungsteile zu einer einheitlichen Abwasserentsorgungseinrichtung zusammengefasst werden durften. Auf die Zulässigkeit der Klage geht auch dieser Beschluss nicht ein; ebenso wenig hat das Oberverwaltungsgericht im weiteren Verfahren auf etwaige Bedenken hingewiesen. Zwar trifft es zu, dass die Abschlagszahlungen lediglich in der Rechnung auftauchen und der Abwassergebührenbescheid auf einem gesonderten Blatt beigefügt ist. Nachdem jedoch bereits in einem ersten Bestätigungsschreiben zum Eingang des Widerspruchs vom 26. Februar 2010 der Eindruck erweckt wurde, als ob die Vorauszahlungen von Abwassergebühren Teil des Abwassergebührenbescheides sind, und der Widerspruchsbescheid ausdrücklich den Widerspruch gegen diese Vorauszahlungen für zulässig hielt, wäre es erforderlich gewesen, den Kläger darauf hinzuweisen, dass möglicherweise der Widerspruch schon unzulässig war. Denn es drängt sich nicht notwendigerweise auf, dass der Widerspruchsbescheid – anders als in der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 12. Januar 1973 – 7 C 3.71 – BVerwGE 41, 305 ≪307 f.≫ und vom 26. Juni 1987 – 8 C 21.86 – BVerwGE 78, 3 ≪4 f.≫) – der Rechnung keine Verwaltungsaktsqualität verleihen und deshalb der Widerspruch schon unzulässig sein könnte.
Rz. 11
c) Entgegen der Auffassung der Beschwerde liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht darin, dass die mündliche Verhandlung schon drei Minuten nach dem auf 10.30 Uhr festgesetzten Termin begonnen hat. Zum einen hat sich das für den Kläger nicht ausgewirkt, weil er nach eigenem Vortrag die Ladung gar nicht erhalten hat. Zum anderen ist die mündliche Verhandlung ausweislich des Protokolls erst um 11.13 Uhr geschlossen worden, so dass für einen Beteiligten, der nicht pünktlich erscheinen konnte, genügend Zeit bestand, die mündliche Verhandlung noch wahrzunehmen.
Rz. 12
3. Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3, § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Dr. Bier, Buchberger, Steinkühler
Fundstellen
AnwBl 2016, 176 |
DÖV 2015, 980 |
JZ 2015, 523 |
JZ 2015, 565 |
BayVBl. 2016, 645 |