Entscheidungsstichwort (Thema)
Angemessene Dauer eines faktisch ausgesetzten Verfahrens
Leitsatz (amtlich)
Zeiten, in denen das Ausgangsgericht das bei ihm anhängige Verfahren mit Blick auf ein parallel anhängiges Normenkontrollverfahren, dessen Ergebnis für die Entscheidung im Ausgangsverfahren relevant ist, in vertretbarer Weise (faktisch) aussetzt, sind grundsätzlich auch dann nicht bei der Beurteilung der angemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens zulasten des Ausgangsgerichts zu berücksichtigen, wenn das als "Leitentscheidung" zu dienen bestimmte Normenkontrollverfahren länger andauert und das Ausgangsgericht während der Zeit des Wartens auf die Entscheidung des Normenkontrollgerichts in einem erheblichen Zeitraum keine eigenen Aktivitäten zur Förderung des Ausgangsverfahrens unternimmt.
Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 22.02.2022; Aktenzeichen OVG 3 A 2.21) |
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 606,50 Euro festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde der Kläger hat keinen Erfolg, weil sie teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet ist.
Rz. 2
1. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Rz. 3
Nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Damit sind Verstöße gegen Vorschriften gemeint, die den Verfahrensablauf bzw. den Weg zu dem Urteil und die Art und Weise des Urteilserlasses regeln, nicht jedoch Vorschriften, die den Urteilsinhalt betreffen und deren Verletzung sich als Mangel der sachlichen Entscheidung darstellt (BVerwG, Beschlüsse vom 4. Februar 2015 - 5 B 28.14 - juris Rn. 8 m. w. N. und vom 17. November 2015 - 5 B 17.15 - juris Rn. 3). Ein Verfahrensmangel ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ausreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. März 2014 - 5 B 48.13 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 62 Rn. 12 m. w. N.). Daran gemessen kommt die Zulassung der Revision nicht in Betracht.
Rz. 4
Die Beschwerde bemängelt, die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts sei "unter [...] Willkürgesichtspunkten (Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG) verfahrensfehlerhaft". Der "Anspruch auf willkürfreie Rechtsanwendung", der hier als Korrektiv heranzuziehen sei, sei verletzt. Das Oberverwaltungsgericht habe "eine wirksame Verzögerungsrüge gem. § 198 Abs. 3 S. 1 GVG" mit unhaltbarer Begründung verneint. Seine Erwägungen stünden "- in Ansehung des tatsächlichen Vortrages der Kläger und des tatsächlichen Ablaufs - in diametralem Widerspruch zum tatsächlichen Vortrag, zum Ablauf des Verfahrens und der Aktenlage" und seien daher "unsachlich und schlichtweg unhaltbar".
Rz. 5
a) Soweit in dem Vorbringen der Beschwerde in Bezug auf die Regelung des § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG der Vorwurf willkürlicher Rechtsanwendung zum Ausdruck gebracht wird, vermag sie mit dieser Rüge einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht zu begründen. Ein solcher Mangel - läge er denn vor - beträfe die Auslegung und Anwendung materiellen Rechts und wäre nicht geeignet, einen Mangel im gerichtlichen Verfahren darzutun (BVerwG, Beschlüsse vom 21. Februar 2003 - 9 B 64.02 - juris Rn. 6 und vom 16. Februar 2012 - 9 B 71.11 - NVwZ 2012, 1490 Rn. 8 m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 15. April 2021 - 6 B 3.21 - juris Rn. 7).
Rz. 6
b) Soweit dem Vortrag der Beschwerde der Vorwurf willkürlicher Sachverhalts- und Beweiswürdigung zu entnehmen ist, könnte dies zwar auf einen Verstoß gegen eine Verfahrensregelung - nämlich den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO - führen. Einen von dieser Vorschrift erfassten Verfahrensfehler zeigt die Beschwerde jedoch nicht in einer den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise auf.
Rz. 7
aa) Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht aus seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Obgleich die Beschwerde diese Regelung nicht bezeichnet und den behaupteten Verfahrensmangel in seiner rechtlichen Würdigung auch sonst nur rudimentär darlegt, lässt sich ihren Ausführungen bei verständiger Würdigung der Sache nach entnehmen, dass sie mit diesen eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO rügen will. Dafür spricht ihr Vorbringen, das Oberverwaltungsgericht habe die Schriftsätze der Kläger im Ausgangsverfahren hinsichtlich des von ihnen beabsichtigten prozessualen Vorgehens mit Blick auf den tatsächlichen Verfahrensablauf und die Aktenlage in unvertretbarer und sachwidriger Weise ausgelegt; die "willkürliche Sachbehandlung durch Unterstellung eines völlig sachfremden und nicht gegebenen Sachverhaltes und Verfahrensablaufs" stelle einen Verfahrensverstoß dar.
Rz. 8
bb) Mit ihrem Vorbringen zeigt die Beschwerde jedoch einen entsprechenden Verfahrensmangel nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen nicht auf.
Rz. 9
Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts ist der Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts als Revisionsgericht nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Würdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Ein Verfahrensfehler in Form der Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann vorliegen, wenn die angegriffene Entscheidung der Vorinstanz von einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, also etwa entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder auf einer aktenwidrigen Tatsachengrundlage basiert. Im Übrigen ist das Ergebnis der gerichtlichen Tatsachenwürdigung vom Revisionsgericht diesbezüglich nur daraufhin nachzuprüfen, ob es gegen allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln oder Denkgesetze verstößt oder gedankliche Brüche und Widersprüche enthält (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 28. Mai 2020 - 5 BN 2.19 - juris Rn. 31 und vom 15. Dezember 2020 - 3 B 34.19 - juris Rn. 21 m. w. N.). Gemessen daran hat die Beschwerde keinen Verfahrensmangel in Form eines Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz dargetan.
Rz. 10
Das Oberverwaltungsgericht hat den Ablauf des Ausgangsverfahrens für die von ihm vorgenommene Prüfung einer verfrüht erhobenen Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 Satz 2 GVG) in zwei Abschnitte eingeteilt: zum einen den Zeitraum von der Erhebung der Anfechtungsklage am 28. Oktober 2016 bis zu der am 5. Oktober 2017 erfolgten Verweigerung der Zustimmung der Kläger zu einer Aussetzung des Verfahrens mit Blick auf die von ihnen inzwischen parallel erhobene Normenkontrollklage gegen die Satzung, auf die der angefochtene Bescheid gestützt war; zum anderen die anschließende Zeit bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge am 13. Mai 2019. Es hat für den erstgenannten Zeitraum angenommen, das Gericht des Ausgangsverfahrens habe aufgrund der Klageschrift annehmen dürfen, dass es den Klägern zunächst nicht auf ein Betreiben des Verfahrens angekommen sei, sondern abgewartet werden durfte, ob diese ein vorrangiges Normenkontrollverfahren einleiten würden.
Rz. 11
Die Frage, ob der Entschädigungskläger selbst durch sein Verhalten im Ausgangsverfahren zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen hat, ist, soweit sie die hierauf bezogenen Sachverhaltsfeststellungen betrifft, grundsätzlich eine Tatsachenfrage, die durch das Entschädigungsgericht mit Bindungswirkung für die Revisionsinstanz nach § 137 Abs. 2 VwGO entschieden wird (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 Rn. 24). Demgemäß ist auch der Senat an die Auslegung der prozessualen Erklärungen der Kläger im Ausgangsverfahren durch das Oberverwaltungsgericht gebunden. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, dass die von diesem vorgenommene Würdigung gegen Denkgesetze verstoßen oder aktenwidrig sein könnte. Sie wendet hiergegen in erster Linie ein, dem Wortlaut der Klageschrift lasse sich allenfalls eine Überlegung oder Erwägung der Kläger in diese Richtung vorbehaltlich der beantragten Akteneinsicht entnehmen. Damit ist lediglich dargetan, dass die Auslegung dieser Erklärung durch das Oberverwaltungsgericht nicht zwingend sei, nicht aber, dass sie als schlechthin unvertretbar angesehen werden müsste. Im Übrigen verweist die Beschwerde darauf, dass die Kläger die Klage im Ausgangsverfahren am 7. August 2017 ausführlich begründet hätten, was der Annahme eines fehlenden Interesses am Verfahrensfortgang widerspreche. Sie stellt aber nicht mit beachtlichen Argumenten die Vertretbarkeit der Erwägung des Oberverwaltungsgerichts infrage, dass sich auch die Klagebegründung nicht ausdrücklich zur Frage der - zwischenzeitlich von den Klägern (mit) erhobenen - Normenkontrollklage verhalten habe, weshalb weiterhin von einer insoweit noch nicht getroffenen Entscheidung der Kläger habe ausgegangen werden dürfen. Folgerichtig räumt auch die Beschwerde ein, die damit verbundene Option sei - aus Sicht des Ausgangsgerichts - "spätestens" (erst) mit der Verweigerung der Zustimmung der Kläger zu einer Verfahrensaussetzung am 5. Oktober 2017 hinfällig geworden. Nicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der - augenscheinlich zutreffende - Einwand der Beschwerde, das Oberverwaltungsgericht habe in der Folge zu Unrecht angenommen, dass (auch) die Kläger am 27. Mai 2019 gegen das Urteil im Normenkontrollverfahren Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt hätten. Denn die (vermeintliche) Rechtsmitteleinlegung erfolgte erst nach der Erhebung der Verzögerungsrüge am 13. Mai 2019 und war für deren Einordnung als vorzeitig auch aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts, das sie lediglich ergänzend zur Abrundung seiner Argumentation ("Hinzu kommt...") angeführt hat, jedenfalls erkennbar nicht allein tragend.
Rz. 12
2. Die Revision ist nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen.
Rz. 13
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz liegt nur vor, wenn das vorinstanzliche Gericht in Anwendung derselben Vorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen ist. Die Beschwerdebegründung muss im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO darlegen, dass und inwiefern dies der Fall ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. September 2018 - 5 B 20.18 D - juris Rn. 3 und vom 29. März 2019 - 5 BN 1.18 - juris Rn. 2 jeweils m. w. N.). Daran fehlt es hier.
Rz. 14
Die Beschwerde leitet aus der angefochtenen Entscheidung in wertender Interpretation und Zusammenfassung die Annahme her, das Oberverwaltungsgericht sehe in der faktischen Aussetzung des Ausgangsverfahrens wegen eines vorgreiflichen Normenkontrollverfahrens eine "Vorteilslage", die eine unangemessen lange Verfahrensdauer im Sinne von § 198 GVG ausschließe. Dem stellt sie den in einem baurechtlichen Verfahren ergangenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2000 - 4 B 75.00 - gegenüber, dem sie den Rechtssatz entnehmen will, dass das Nebeneinander von Anfechtungs- und Normenkontrollklage hinzunehmen sei.
Rz. 15
Unabhängig davon, ob damit abstrakte Rechtssätze aufgezeigt werden, auf denen die jeweiligen Entscheidungen beruhen, legt die Beschwerde eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Divergenz jedenfalls deshalb nicht dar, weil die von ihr angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in Anwendung von § 198 GVG ergangen ist.
Rz. 16
3. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Rz. 17
Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n. F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 12. Januar 2017 - 5 B 75.16 - juris Rn. 4 m. w. N.). Ein Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Normauslegung oder auf der Grundlage der bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens eindeutig beantwortet werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. April 2009 - 5 B 64.08 - juris Rn. 5 und vom 11. August 2020 - 3 BN 1.19 - NVwZ-RR 2020, 979 Rn. 6, jeweils m. w. N.). Gemessen an den vorstehenden Anforderungen kommt eine Revisionszulassung wegen Grundsatzbedeutung hier nicht in Betracht.
Rz. 18
Die Beschwerde hält die folgende Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig:
"Entfällt die Unangemessenheit einer überlangen Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens i.S.d. § 198 GVG bereits bei einer faktischen Aussetzung des Ausgangsverfahrens unter Verweis auf ein paralleles Normenkontrollverfahren, wenn das Ausgangsgericht über einen erheblichen Zeitraum keine eigenen Aktivitäten zur Verfahrensförderung dieses Ausgangsverfahrens betreibt"?
Rz. 19
Die so formulierte Grundsatzfrage bedarf jedoch keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, weil sie dem Grunde nach bereits als geklärt anzusehen ist und im Übrigen eine (weitere) Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend dargelegt wird.
Rz. 20
a) Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage zum Merkmal der Unangemessenheit (im Sinne von § 198 Abs. 1 GVG) ist auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung wie folgt zu beantworten: Zeiten, in denen das Ausgangsgericht das bei ihm anhängige Verfahren mit Blick auf ein parallel anhängiges Normenkontrollverfahren, dessen Ergebnis für die Entscheidung im Ausgangsverfahren relevant ist, in vertretbarer Weise (faktisch) aussetzt, sind grundsätzlich auch dann nicht bei der Beurteilung der angemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens zulasten des Ausgangsgerichts zu berücksichtigen, wenn das als "Leitentscheidung" zu dienen bestimmte Normenkontrollverfahren länger andauert und das Ausgangsgericht während der Zeit des Wartens auf die Entscheidung des Normenkontrollgerichts in einem erheblichen Zeitraum keine eigenen Aktivitäten zur Förderung des Ausgangsverfahrens unternimmt. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Rz. 21
aa) Es entspricht bereits der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass es hinsichtlich des Merkmals der "unangemessenen Dauer" eines Gerichtsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG bei Zugrundelegung einer objektivierenden Betrachtungsweise vertretbar ist, wenn das Ausgangsgericht das bei ihm anhängige Verfahren mit Blick auf einen parallel anhängigen Rechtsstreit, der für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens von rechtlicher Relevanz ist, zeitweise förmlich oder auch nur "faktisch", d. h. ohne förmliche Anordnung nach § 94 VwGO aussetzt. Im Fall einer vertretbaren (faktischen) Aussetzung des Ausgangsverfahrens ist die Zeit der Bearbeitung und Förderung eines "Leitverfahrens" bei der Beurteilung der angemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2016 - 5 C 10.15 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 6 Rn. 155 m. w. N. und Beschlüsse vom 2. Mai 2017 - 5 B 75.15 D - juris Rn. 8, vom 20. Februar 2018 - 5 B 13.17 D - juris Rn. 5 und vom 22. Januar 2019 - 5 B 1.19 D - juris Rn. 4).
Rz. 22
In diesem Sinne ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung - auch anderer oberster Bundesgerichte - bereits geklärt, dass die Entscheidung, "Musterverfahren" auszuwählen und vorrangig zu betreiben, während übrige gleich oder ähnlich gelagerte Fälle einstweilen zurückgestellt bleiben, zu den verfahrensgestaltenden Befugnissen des (Ausgangs-)Gerichts gehört, die im Entschädigungsverfahren nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden können. Bezüglich der zurückgestellten Verfahren kann dann nicht von einem "bloßen Liegenlassen" ausgegangen werden, wenn zu erwarten ist, dass in dem Musterverfahren Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für die zurückgestellten (Ausgangs- bzw. Stamm-)Verfahren von Relevanz sind. In diesen Verfahren stellt sich die Zeit des Zuwartens auf die Ergebnisse des Musterverfahrens nicht als unangemessene Verfahrensdauer dar, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Voraussetzungen für eine förmliche Verfahrensaussetzung oder die Anordnung des Ruhens des Verfahrens vorgelegen haben. Unerheblich ist dabei auch, ob sich die Zurückstellung - ex post betrachtet - als förderlich erwiesen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2016 - 5 C 10.15 D - juris Rn. 155; BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14 - BGHZ 204, 184 Rn. 32 f.; BSG, Urteil vom 3. September 2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr. 4 Rn. 47). Inzwischen ist ebenfalls geklärt, dass - jedenfalls bei Personenidentität auf Kläger- oder Beklagtenseite - Verzögerungen, die durch die Überlänge des Musterverfahrens in den davon abhängigen, zurückgestellten Verfahren eintreten, regelmäßig nicht zu gesondert entschädigungspflichtigen immateriellen Nachteilen im Ausgangsverfahren führen. Derartige Verzögerungen sind vielmehr bei der Prüfung einer Erhöhung des Regelsatzes nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG in dem das Musterverfahren betreffenden Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2023 - III ZR 80/22 - WM 2023, 762 Rn. 17; vgl. ferner bereits BVerwG, Urteil vom 14. November 2016 - 5 C 10.15 D - BVerwGE 156, 229 Rn. 193).
Rz. 23
bb) Die vorgenannten Grundsätze lassen sich auf die hier vorliegende Konstellation übertragen. Bei dem hier in Rede stehenden Verhältnis von Ausgangsverfahren und Normenkontrollverfahren handelt es sich zwar nicht im engeren Sinne um ein solches zwischen Muster- und Stammverfahren, weil das Normenkontrollverfahren einen nicht vergleichbaren Streitgegenstand aufweist und bei einem anderen Gericht geführt wird. Stellen sich aber in beiden Verfahren insbesondere gleiche Rechtsfragen, ist der vorgreifliche Charakter des Normenkontrollverfahrens und der Nutzen einer Normenkontrollentscheidung für das Ausgangsverfahren nicht zweifelhaft. Das gilt jedenfalls und typischerweise, wenn - wie hier - im Normenkontrollverfahren zu klären ist, ob und inwieweit Satzungsregelungen wirksam sind, welche die Rechtsgrundlage für einen im Ausgangsverfahren streitigen (Beitrags-)Bescheid darstellen. Das Zuwarten des Ausgangsgerichts auf eine den vergleichbaren Sachverhalt und die sich stellenden Rechtsfragen gegebenenfalls umfassender klärende Normenkontrollentscheidung, die zu einer Klärung im Ausgangsverfahren und zu dessen einfacherer Erledigung führen kann, stellt sich dann entschädigungsrechtlich nicht als unangemessene, sondern gerechtfertigte Zeitphase des Ausgangsverfahrens dar.
Rz. 24
b) Einen darüber hinausgehenden entscheidungserheblichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde auch mit ihrem Verweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht auf. Danach darf auch das Abwarten der Gerichte auf den Ausgang eines vorgreiflichen Verfahrens nicht zu einer unabsehbaren Verzögerung des ausgesetzten Verfahrens führen; die Wartezeit darf also "nicht unbegrenzt" sein (EGMR, Urteil vom 21. Dezember 2010 - 974/07 - juris Rn. 35). Zwar kann sich in diesem Zusammenhang auch in Konstellationen wie der vorliegenden die Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen im Falle vertretbarer (faktischer) Aussetzung des Ausgangsverfahrens ein nicht mehr gerechtfertigtes Warten auf die Entscheidung des Leitverfahrens vorliegt bzw. ob und inwieweit in diesem Fall eine Überlänge des Leitverfahrens im Rahmen des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen wäre. Allerdings zeigt die Beschwerde nicht ansatzweise auf, dass es auf diese Frage im vorliegenden Rechtsstreit ankommt und sie in einem Revisionsverfahren zu klären wäre. Sie legt weder dar noch ist sonst ersichtlich, dass hier eine im vorgenannten Sinne überlange und unangemessene Dauer des Normenkontrollverfahrens vorgelegen hat, die zu einer "unabsehbaren" Verzögerung des Ausgangsverfahrens geführt haben könnte. Überdies wird - wie in einer aktuellen Entscheidung des Bundesgerichtshofs, welcher der Senat folgt, weiter geklärt worden ist - den entschädigungsrechtlichen Interessen des von einer Überlänge des vorgreiflichen Verfahrens Betroffenen grundsätzlich dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass eine Verzögerung auch des zurückgestellten Verfahrens im Rahmen einer Entschädigung für die unangemessene Dauer des vorgreiflichen Verfahrens zu berücksichtigen ist, wenn - wie hier - die Betroffenen an beiden Verfahren beteiligt sind (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2023 - III ZR 80/22 - WM 2023, 762 Rn. 17).
Rz. 25
c) Auch wenn davon ausgegangen wird, dass die von der Beschwerde aufgeworfene Grundsatzfrage zum Teil erst durch eine nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung in hier entscheidungserheblicher Weise einer weiteren Klärung zugeführt worden ist, kann dies nicht zu einer Revisionszulassung durch Umdeutung der Grundsatzrüge in eine Divergenzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO führen (vgl. zur Zulassung wegen nachträglicher Divergenz und dem Erfordernis, dass das Berufungsurteil auf der Abweichung beruhen muss: BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2007 - 8 B 101.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 15 und vom 6. April 2009 - 10 B 62.08 - juris Rn. 5, jeweils m. w. N.). Denn die angefochtene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beruht jedenfalls auf keiner Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, dass das Oberverwaltungsgericht die Erörterung der Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer in nicht zutreffender Weise weitgehend bereits in die Prüfung einer vorfristigen Erhebung der Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG vorverlagert haben dürfte. Dies dürfte zwar dem Zweck der Regelung, (lediglich) vorrangig Missbrauchsfälle abzuwehren (vgl. BGH, Urteil vom 26. November 2020 - III ZR 61/20 - BGHZ 227, 377 Rn. 21), nicht gerecht werden. Dieser etwaige Mangel war jedoch im Ergebnis nicht entscheidungserheblich, weil die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Hinblick auf das hier streitige Zuwarten auf die Entscheidung im Normenkontrollverfahren jedenfalls im Rahmen des § 198 Abs. 1 GVG zu prüfen gewesen wäre und die Beschwerde die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Übrigen - auch mit Blick auf die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zur Anwendung von § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG - nicht mit durchgreifenden Einwendungen infrage gestellt hat.
Rz. 26
4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO abgesehen.
Rz. 27
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes folgt aus § 47 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 GKG.
Fundstellen
NVwZ 2023, 1508 |
DÖV 2023, 871 |
JZ 2023, 510 |
LKV 2023, 410 |