Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Urteil vom 30.09.2021; Aktenzeichen 14 LB 1/19) |
VG Schleswig-Holstein (Urteil vom 14.03.2019; Aktenzeichen 17 A 7/16) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. September 2021 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
Die auf einen Verfahrensmangel gestützte Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision (§ 41 Abs. 1 LDG SH, § 69 BDG und § 133 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist zulässig, aber nicht begründet.
Rz. 2
1. Der 1962 geborene Beklagte steht als Studienrat im Dienst des klagenden Landes. Am 26. Juni 2013 wurde der Beklagte in Tucson/Arizona bei der Einreise in die USA mit der Begründung verhaftet, zum Zwecke der Aufnahme sexueller Kontakte mit unter 12-jährigen Kindern in die USA eingereist zu sein. Anfang Oktober 2014 wurde der Beklagte aufgrund eines entsprechenden Schuldeingeständnisses durch den US District Court Tucson/Arizona zu einer Freiheitsstrafe von 189 Monaten verbunden mit einer anschließenden lebenslangen "Führungsaufsicht" verurteilt. Aufgrund der Informationen der amerikanischen Strafverfolgungsbehörden leitete die Staatsanwaltschaft in Deutschland ein Strafverfahren gegen den Beklagten ein. In dessen Rahmen wurden mehrere Speichermedien des Beklagten sichergestellt und auf kinderpornographische Schriften untersucht. Mitte Juni 2016 erhob der Kläger Disziplinarklage zum einen wegen des Vorwurfs, der Beklagte habe den Versuch unternommen, im Ausland Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sexuell zu missbrauchen. Für seinen geplanten Aufenthalt in Mexiko vom 26. bis zum 30. Juni 2013 habe er für einen Betrag von 1 025 $ für sich mehrere Mädchen "bestellt", die bestimmten Kindern aus kinderpornographischen Serien ähneln sollten. Bei seiner Landung in den USA habe er in seinem Gepäck Damenunterwäsche in sehr kleinen Größen, Fesselungsutensilien und eine Augenbinde gehabt (Vorwurf 1). Gegenstand der Disziplinarklage ist zum anderen der Vorwurf, in der Zeit vom 9. März 2005 bis zur Beschlagnahme am 8. August 2013 insgesamt 944 kinderpornographische Schriften besessen zu haben (Vorwurf 2).
Rz. 3
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Im ersten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht das Verfahren durch Beschluss vom 14. November 2019 aufgrund von § 41 Abs. 1 Satz 1 LDG SH sowie §§ 56 und 65 Abs. 1 Satz 1 BDG beschränkt und den Vorwurf, den Versuch unternommen zu haben, im Ausland Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sexuell zu missbrauchen, sowie den Vorwurf des Besitzes von 256 Posing-Bildern aus dem Verfahren ausgeschieden. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Dieses erste Berufungsurteil hat das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluss vom 18. Juni 2020 - 2 B 24.20 - (Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 67) wegen Verstoßes gegen das Gebot der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme aufgehoben; die Sache wurde zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Im zweiten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht durch den in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2020 verkündeten Beschluss seinen Beschränkungsbeschluss vom 14. November 2019 hinsichtlich des unter Ziff. 2 der Klageschrift vorgeworfenen Besitzes kinderpornographischer Schriften geändert und 374 Bilder ausgeschieden, die gemäß Protokoll der Beweisaufnahme vom 5. und 6. Oktober 2020 der Kategorie 1 ("sonstige Bilder, ohne Eindringen oder Berühren") zugeordnet worden sind; im Übrigen hat es den Beschluss vom 14. November 2019 aufrechterhalten. Auch im zweiten Berufungsurteil hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Auch dieses zweite Berufungsurteil hat das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluss vom 7. April 2021 - 2 B 10.21 - (NVwZ-RR 2021, 722) wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben; die Sache wurde wiederum zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Rz. 4
Auch im dritten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht seine Beschlüsse vom 14. November 2019 und vom 9. Oktober 2020 aufrechterhalten. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat es wiederum zurückgewiesen. Der Beklagte habe durch den Besitz der nicht ausgeschiedenen Bilder und der digitalen Videos im Hinblick auf seinen Status und seine Tätigkeit als Lehrer an einer allgemeinbildenden Schule das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren.
Rz. 5
2. Die Verfahrensrüge des Beklagten, die Berufsrichterin Dr. S. und der ehrenamtliche Richter N. hätten ihre Überzeugung hinsichtlich des dem Beklagten angelasteten außerdienstlichen Dienstvergehens des Besitzes kinderpornographischer Schriften nicht aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnen, ist unbegründet.
Rz. 6
a) In der Sache wird geltend gemacht, das Berufungsgericht habe dadurch gegen den auch in § 96 VwGO verankerten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen, dass zwei der fünf am - dritten - Berufungsurteil beteiligten Richter den Inhalt der beim Beklagten sichergestellten Schriften, soweit diese nicht aus dem Verfahren ausgeschieden worden sind, nicht selbst durch eigene Inaugenscheinnahme der Videos und Bilder festgestellt haben. Diese Rüge ist nicht begründet.
Rz. 7
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist in der Verwaltungsgerichtsordnung nicht so ausgestaltet, dass in jedem Fall sämtliche Richter, die über den Rechtsstreit entscheiden, auch die Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung durchgeführt haben müssen, um ihre Entscheidung auf den unmittelbaren Eindruck der Beweisaufnahme stützen zu können. Es besteht kein prozessrechtlicher Grundsatz des Inhalts, dass bei einer gerichtlichen Beweisaufnahme oder auch der Anhörung eines Sachverständigen außerhalb der Beweisaufnahme die einmal in der mündlichen Verhandlung mit einer Sache befassten Richter bis zur Entscheidung mit dieser Sache befasst bleiben müssen. Bei einem Richterwechsel ist es nach Maßgabe des § 103 Abs. 2 VwGO im Allgemeinen ausreichend, wenn der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Sachverhalt einschließlich des bisherigen Prozessverlaufs in der neuen mündlichen Verhandlung vorträgt (BVerwG, Beschlüsse vom 12. Juli 1985 - 9 CB 104.84 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 56 S. 32, vom 8. Juli 1988 - 4 B 100.88 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 34 S. 4, vom 2. Juli 1998 - 11 B 30.97 - Buchholz 451.171 § 6 AtG Nr. 2 S. 15 und vom 21. Februar 2017 - 2 B 7.16 - juris Rn. 16 m.w.N.). Das Gesetz macht durch § 96 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 2 VwGO deutlich, dass der Beweis in Form der Einnahme eines Augenscheins auch durch ein Mitglied des Gerichts als beauftragter Richter und sogar durch ein anderes Gericht erhoben werden kann. Im Übrigen kann es im Hinblick auf die Wertung des § 96 Abs. 2 VwGO ausreichen, wenn jedenfalls ein Mitglied des Gerichts an der betreffenden Beweisaufnahme teilgenommen hat und sein Bericht über diese Beweisaufnahme zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wird. Es ist insoweit unerheblich, ob das Gericht auf den Bericht eines beauftragten oder ersuchten Richters (§ 96 Abs. 2 VwGO) zurückgreift oder auf den Bericht eines eigenen Mitglieds, das an der früheren Beweisaufnahme teilgenommen hat. Die Vermittlung der Kenntnis über das Ergebnis der Beweisaufnahme durch ein Mitglied des Gerichts mit der Folge, dass eine erneute Beweisaufnahme nicht erforderlich ist, kommt in Betracht, wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Ergebnis der Beweisaufnahme auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag. Entscheidend ist, ob das Gericht sich seine aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene Überzeugung auch ohne einen unmittelbaren Eindruck von einzelnen festzustellenden Tatsachen, die Gegenstand der früheren Beweisaufnahme waren, verschaffen kann (BVerwG, Beschlüsse vom 24. Juli 1992 - 4 B 135.92 - Rn. 3 und vom 21. April 1994 - 1 B 14.94 - Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 54 S. 2; BGH, Urteil vom 30. Januar 1990 - XI ZR 162/89 - NJW 1991, 1302).
Rz. 8
Nach diesen Grundsätzen ist die Vorgehensweise des Oberverwaltungsgerichts hinsichtlich der Feststellung des Inhalts der beim Beklagten aufgefundenen kinderpornographischen Schriften in Bezug auf die Berufsrichterin Dr. S. (aa) und den ehrenamtlichen Richter N. (bb) nicht zu beanstanden.
Rz. 9
aa) Im zweiten Berufungsverfahren hat der 14. Senat des Oberverwaltungsgerichts in der Besetzung der Richterinnen und Richter Th., A., Dr. E., Prof. Dr. F. und D. am 5. und 6. Oktober 2020 die beim Beklagten sichergestellten Bilddateien, soweit nicht die ausgeschiedenen Dateien betroffen sind, in Augenschein genommen. Die dabei vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen sind der über die Beweisaufnahme erstellten, 66 Seiten umfassenden Niederschrift zu entnehmen, die den Gehalt der einzelnen Bilder detailliert wiedergibt. Von den genannten Richtern haben die Richterinnen Th. und A. und der ehrenamtliche Richter Prof. Dr. F. auch an dem dritten Berufungsurteil vom 30. September 2021 mitgewirkt.
Rz. 10
Nach § 103 Abs. 2 VwGO trägt der Berichterstatter nach Aufruf der Sache den wesentlichen Inhalt der Akten vor. Der Sachbericht soll klarstellen, von welchem Sachverhalt das Gericht, jedenfalls zu Beginn der mündlichen Verhandlung, ausgeht und zugleich den wesentlichen Inhalt der Akten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung machen. Ausweislich der Niederschrift über die Berufungsverhandlung vom 30. September 2021 hat die Berichterstatterin, die Berufsrichterin Dr. S., zu Beginn der mündlichen Verhandlung den wesentlichen Inhalt der Akten einschließlich des wesentlichen Ergebnisses der Beweisaufnahme vorgetragen. Zu den Unterlagen, über die sich die Berichterstatterin, die Berufsrichterin Dr. S., vor der mündlichen Verhandlung Kenntnis zu verschaffen hatte, um den Sachbericht nach § 103 Abs. 2 VwGO erstatten zu können, zählt hier insbesondere die Niederschrift über das Ergebnis des im zweiten Berufungsverfahren durchgeführten Augenscheins. Denn das Oberverwaltungsgericht hatte das gerichtliche Disziplinarverfahren gerade auf den Vorwurf des Besitzes kinderpornographischer Schriften begrenzt.
Rz. 11
Aufgrund der detaillierten Beschreibung des Inhalts der einzelnen Dateien in der Niederschrift bedurfte es keines erneuten Augenscheins der Fotos und Videos, um die Bedeutung des Besitzes dieser Dateien für die Bemessungsentscheidung nach § 13 LDG SH zu erfassen.
Rz. 12
bb) Die Niederschrift über die Beweisaufnahme vom 5. und 6. Oktober 2020 ist dem ehrenamtlichen Richter N. im Vorfeld der dritten Berufungsverhandlung mit dem Hinweis übersandt worden, das Berufungsgericht gehe davon aus, dass dem Richter der Inhalt zu Beginn der mündlichen Verhandlung bekannt sei. Hierauf ist zu Beginn der dritten Berufungsverhandlung ausweislich der Niederschrift auch hingewiesen worden. Auch ist dem ehrenamtlichen Richter die Möglichkeit eröffnet worden, vor Beginn der dritten Berufungsverhandlung die am 5. und 6. Oktober 2020 in Augenschein genommenen Bilder anzusehen.
Rz. 13
b) Zudem könnte ein etwaiger Verstoß des Berufungsgerichts gegen § 96 VwGO vom Beklagten nach § 173 VwGO i.V.m. § 295 ZPO nicht mehr gerügt werden. Die Vorschrift des § 96 VwGO ist keine, auf deren Befolgung ein Beteiligter nach § 295 Abs. 2 ZPO wirksam nicht verzichten kann (BVerwG, Urteil vom 17. November 1972 - 4 C 41.68 - BVerwGE 41, 174 ≪176≫).
Rz. 14
Für die Anwendung des § 295 Abs. 1 ZPO reicht es aus, wenn der betreffende Beteiligte in der nächsten mündlichen Verhandlung den Verstoß unbeanstandet lässt, obwohl er ihm bekannt war. Unter der nächsten mündlichen Verhandlung ist auch der Teil der mündlichen Verhandlung zu verstehen, die sich unmittelbar an den Verfahrensabschnitt anschließt, in dem der Verfahrensrechtsverstoß geschehen sein soll (BVerwG, Beschlüsse vom 30. September 1988 - 9 CB 47.88 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 84, vom 8. Dezember 1988 - 9 B 388.88 - Buchholz § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 35 und vom 21. Juli 1997 - 7 B 175.97 - und Urteil vom 6. Juli 1998 - 9 C 45.97 - BVerwGE 107, 128 ≪132≫).
Rz. 15
Danach hätte der auch in der dritten Berufungsverhandlung anwaltlich vertretene Beklagte im Anschluss an den einleitenden Hinweis über die den ehrenamtlichen Richtern vorliegenden Unterlagen und den Vortrag der Berichterstatterin hinsichtlich des wesentlichen Inhalts der Akten einschließlich des wesentlichen Ergebnisses der Beweisaufnahme (§ 103 Abs. 2 VwGO) den nach seiner Auffassung vorliegenden Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme geltend machen müssen.
Rz. 16
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 41 Abs. 1 LDG SH, § 77 Abs. 1 BDG und § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil die Höhe der Gerichtsgebühren nach der Anlage zu § 78 BDG betragsgenau festgelegt ist (§ 41 Abs. 1 LDG SH).
Fundstellen
Dokument-Index HI15178663 |