Verfahrensgang
OVG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 06.12.2001; Aktenzeichen A 1 S 29/99) |
Tenor
Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Heiner Petrowitz, Neustadt 13, 24939 Flensburg, als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 6. Dezember 2001 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die zulässige Beschwerde hat Erfolg.
Die Rechtssache hat allerdings nicht die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Denn die rechtlichen Anforderungen an das wirtschaftliche Existenzminimum, das am Ort der inländischen Fluchtalternative gegeben sein muss, sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts rechtsgrundsätzlich geklärt. Ein verfolgungssicherer Ort bietet dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum danach grundsätzlich immer dann, wenn er durch eigene Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann (vgl. etwa Urteil vom 30. April 1991 – BVerwG 9 C 105.90 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 145 = NVwZ-RR 1992, 109; Beschluss vom 24. März 1995 – BVerwG 9 B 747.94 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 177 = NVwZ 1996, 85; Beschluss vom 9. Januar 1998 – BVerwG 9 B 1130.97 – ≪juris≫). Das ist nicht der Fall, wenn der Asylsuchende am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt (Urteil vom 8. Februar 1989 – BVerwG 9 C 30.87 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104; Urteil vom 30. April 1991 – BVerwG 9 C 105.90 – a.a.O.), oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein „Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums” (Urteil vom 15. Dezember 1987 – BVerwG 9 C 285.86 – BVerwGE 78, 332 ≪346≫; Beschluss vom 3. August 1989 – BVerwG 9 B 266.89 – Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 12). Weitergehenden oder neuen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde hierzu nicht auf. Ihre in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen zielen vielmehr auf die Klärung der konkreten Verhältnisse am Ort der innerstaatlichen Fluchtalternative, die den Tatsachengerichten vorbehalten ist und anhand derer im Einzelfall zu bestimmen ist, ob dort die konkrete Gefahr eines Lebens unterhalb des Existenzminimums droht. Insbesondere ist die Frage, wie viele Kilokalorien eine von Hilfsorganisationen bereitgestellte tägliche Lebensmittelration umfassen muss, um im Hinblick auf den Nahrungsbedarf das wirtschaftliche Existenzminimum zu gewährleisten, einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Daran ändert sich auch nichts, wenn hierzu, wie die Beschwerde geltend macht, von den Oberverwaltungsgerichten unterschiedliche Standpunkte vertreten werden.
Die Beschwerde ist jedoch mit der Rüge eines Verstoßes gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1 VwGO) begründet. Zu Recht beanstandet sie der Sache nach, dass sich dem Berufungsgericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung aus seiner insoweit maßgeblichen rechtlichen Sicht eine weitere Sachaufklärung zu der Frage hätte aufdrängen müssen, ob dem Kläger im Nordirak eine im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung ausreichende wirtschaftliche Lebensgrundlage zur Verfügung stehen wird. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache daher gem. § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger, selbst wenn ihm im Falle seiner Rückkehr in den Irak politische Verfolgung drohen würde, jedenfalls im Nordirak eine zumutbare inländische Fluchtalternative findet. Insbesondere sei auch sein wirtschaftliches Existenzminimum in einem der dort von Unterorganisationen der Vereinten Nationen eingerichteten und unterhaltenen Flüchtlingslager gewährleistet. Dabei hat das Berufungsgericht die in der gutachterlichen Stellungnahme des UNHCR vom 23. November 2001 bestätigte Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern des Nordirak mit täglich 2 229 Kilokalorien als ausreichend angesehen, obwohl in dem Gutachten ausgeführt ist, dass damit lediglich 90 % bzw. 84 % des normalen Bedarfs abgedeckt werden (Gutachten S. 3). Auch in dem weiteren an das Berufungsgericht gerichteten Gutachten des Deutschen Orient-Instituts (DOI) vom 20. November 2001 wird der in den Flüchtlingslagern zur Verfügung gestellte Warenkorb – vor allem auch wegen seiner unausgewogenen Zusammensetzung – als letztlich unzureichend angesehen (Gutachten S. 10).
Es ist vom Berufungsgericht weder näher dargelegt noch sonst ersichtlich, dass es über die erforderliche Sachkunde verfügt, selbst in Abweichung von den in Auftrag gegebenen Gutachten beurteilen zu können, dass die festgestellte Lebensmittelversorgung unter den im Nordirak herrschenden Bedingungen den Flüchtlingen eine ihr Existenzminimum sichernde Nahrungsaufnahme gewährleistet (zur Notwendigkeit des Belegs eigener Sachkunde des Tatsachengerichts vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Februar 2001 – BVerwG 1 B 206.00 – ≪juris≫; Beschluss vom 27. März 2000 – BVerwG 9 B 518.99 – InfAuslR 2000, 412; Beschluss vom 10. Juni 1999 – BVerwG 9 B 81.99 – ≪juris≫; Beschluss vom 11. Februar 1999 – BVerwG 9 B 381.98 – Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO, Nr. 42 = DVBl 1999, 1206; jeweils m.w.N.). Die vom Berufungsgericht vorgenommene Erhebung durchschnittlicher Kalorienbedarfswerte des Menschen anhand eines medizinischen Wörterbuchs (hier des Pschyrembel) vermag die erforderliche Sachkunde nicht zu ersetzen. Die ergänzende Annahme des Berufungsgerichts, es wäre kaum vorstellbar, dass eine Organisation wie die Vereinten Nationen in den von ihren Unterorganisationen unterhaltenen Lagern das zum Überleben Notwendige nicht zur Verfügung stellen würde (UA S. 9 f.), mag zwar plausibel sein. Einen speziellen Erfahrungssatz dieses Inhalts hat das Berufungsgericht jedoch nicht festgestellt; dass es einen solchen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, behauptet es selbst nicht (zur Revisibilität von allgemeinen und speziellen Erfahrungssätzen vgl. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 137 Rn. 176 m.w.N. zur Rspr.).
Mangels ausreichender eigener, jedenfalls nicht belegter Sachkunde zu der Frage, ob mit den festgestellten Lebensmittelrationen die zum Überleben notwendige Nahrungsaufnahme im Nordirak gesichert ist, hätte sich dem Berufungsgericht, wie die Beschwerde zu Recht rügt, die weitere Aufklärung des Sachverhalts aufdrängen müssen. Hierzu hätte etwa die Einholung einer Auskunft bei der die Lebensmittelversorgung in den Flüchtlingslagern betreibenden Unterorganisation der Vereinten Nationen (dem World-Food-Program) zu der Frage nahe gelegen, ob und warum sie selbst die Lebensmittellieferungen als ausreichend ansieht, oder – wenn nicht – welche, gegebenenfalls vorübergehenden Gründe einer ausreichenden Versorgung entgegenstehen. Im Übrigen musste sich dem Berufungsgericht auch die Einholung eines Gutachtens eines Ernährungswissenschaftlers oder eines entsprechend ausgewiesenen Mediziners zur Frage der ausreichenden Lebensmittelversorgung unter den Bedingungen des Nordirak aufdrängen.
Dass der anwaltlich vertretene Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat, ist unschädlich, da er zum einen nach der bereits erfolgten Einholung zweier sachverständiger Auskünfte und der Anhörung der Gutachter in der mündlichen Verhandlung nicht unbedingt damit rechnen musste, dass das Berufungsgericht eine ausreichende Versorgungslage annehmen würde, und sich ihm eine entsprechende Beweiserhebung ausgehend von seiner Rechtsauffassung, wie dargelegt, ohnehin aufdrängen musste.
Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf dem festgestellten Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO), denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen weiteren Sachaufklärung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 133 Abs. 6 VwGO).
Der Senat weist darauf hin, dass das Berufungsgericht bei der erneuten Befassung mit der Sache die vermissten Beweise möglicherweise dann nicht zu erheben braucht, wenn es die Lebensbedingungen des Klägers im Zentralirak vor seiner Ausreise klärt und sich dabei herausstellt, dass sie in einem Lager im Nordirak jedenfalls nicht schlechter wären. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts schließen andere als durch die politische Verfolgung bedingte Nachteile und Gefahren, die an einem verfolgungsicheren Ort drohen, diesen Ort als inländische Fluchtalternative nur aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort nicht bestünde (Urteil vom 9. September 1997 – BVerwG 9 C 43.96 – BVerwGE 105, 204 ≪211≫ m.w.N.; vgl. auch zum Verhältnis Nordirak/Zentralirak VGH Mannheim, Urteil vom 11. April 2002 – A 2 S 712/01 – ≪juris≫). Die weitere Beweiserhebung zu den Existenzbedingungen in den Flüchtlingslagern im Nordirak erübrigt sich im Übrigen womöglich auch dann, wenn das Berufungsgericht die von ihm offen gelassene Frage (UA S. 11) klärt, ob noch Verwandte des Klägers im Nordirak ansässig sind, die ihm existenzsichernde Hilfeleistungen ermöglichen könnten.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Dr. Mallmann, Dr. Eichberger
Fundstellen