Entscheidungsstichwort (Thema)
Disziplinarbefugnis der Verwaltungsgerichte. Zugriffsdelikt. Bemessungsentscheidung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG. Schwere des Dienstvergehens. Persönlichkeitsbild des Beamten. Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung. Gesamtwürdigung der be- und entlastenden Umstände. anerkannte Milderungsgründe. Grundsatz “in dubio pro reo”. erheblich verminderte Schuldfähigkeit. endgültiger Vertrauensverlust. Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Bestimmung der Disziplinarmaßnahme durch das Revisionsgericht. Spruchreife
Leitsatz (amtlich)
Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG haben die Verwaltungsgerichte auch bei Zugriffsdelikten die Disziplinarmaßnahme aufgrund einer prognostischen Gesamtwürdigung aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte zu bestimmen (vgl. BVerwGE 124, 252 ≪258 ff.≫). Dabei ist auch erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne von §§ 20, 21 StGB einzubeziehen.
Die Schwere des Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG ist richtungweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Sie indiziert bei Zugriffsdelikten die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, wenn es in der Gesamtheit an hinreichend gewichtigen entlastenden Gesichtspunkten fehlt.
Im Fall der Spruchreife kann das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht selbst auf die erforderliche Disziplinarmaßnahme erkennen.
Normenkette
BDG §§ 5, 13 Abs. 1-2, §§ 58, 60 Abs. 1-2, § 65 Abs. 1, §§ 69, 70 Abs. 1-2; VwGO § 137 Abs. 1-2, § 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 2; StGB §§ 20-21
Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 02.12.2005; Aktenzeichen 11 A 10903/05) |
VG Trier (Urteil vom 15.06.2005; Aktenzeichen 4 K 1483/04) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. Dezember 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der im Jahr 1973 geborene Beklagte trat am 1. September 1990 als auszubildende “Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb” in den Dienst der Deutschen Bundespost. Nach erfolgreichem Abschluss der Berufsausbildung im Jahr 1992 wurde er von der Klägerin unter gleichzeitiger Ernennung zum Postoberschaffner z.A. in das Beamtenverhältnis auf Probe übernommen. Im Jahr 1994 wurde der Beklagte zum Posthauptschaffner befördert; im Jahr 2001 wurde ihm die Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeit verliehen.
Im Oktober 2004 hat die Klägerin Disziplinarklage gegen den Beklagten erhoben und ihm zur Last gelegt, er habe als Postzusteller in K… in der Zeit vom 8. Januar bis 13. Mai 2003 in 25 Fällen Nachnahmebeträge und sonstige Entgelte in Höhe von insgesamt 3 645,67 € entgegen den dienstlichen Vorschriften nicht am Tag des Einzugs, sondern bis zu 25 Tage später abgerechnet. Bei Aufdeckung dieses Verhaltens habe noch ein Betrag von 852,93 € offengestanden.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Seine Berufung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen aus folgenden Gründen zurückgewiesen:
Der Beklagte habe nachweislich in dem dargestellten Umfang ihm dienstlich anvertraute Gelder “geschoben”, um seine Spielsucht zu finanzieren. Dieses Zugriffsdelikt mache seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis unumgänglich, weil kein in der Rechtsprechung anerkannter Milderungsgrund eingreife.
Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB komme dem Beklagten nicht zugute. Zwar habe der vom Verwaltungsgericht beauftragte psychiatrische Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens des Beklagten im Tatzeitraum aufgrund seiner Spielsucht nicht ausgeschlossen. Ungeachtet des Krankheitswertes der Sucht gebe es aber keine Anhaltspunkte, dass sie zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt oder der Beklagte die Zugriffshandlungen unter starken Entzugserscheinungen verübt habe. Zudem könne erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne von §§ 20, 21 StGB bei Zugriffsdelikten nicht mildernd berücksichtigt werden. Denn das Verbot, dienstlich anvertraute Gelder für eigene Zwecke zu verwenden, stelle eine ganz einfache, leicht einsehbare Kernpflicht dar, deren Beachtung von jedem Beamten auch im Zustand erheblich eingeschränkter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit erwartet werden müsse. In Anbetracht der Schwere eines Zugriffsdelikts sei auch das Vorbringen des Beklagten unbeachtlich, er habe sich im Tatzeitraum in einer durch die Sucht geprägten, inzwischen überwundenen negativen Lebensphase befunden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und beantragt,
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. Dezember 2005 und des Verwaltungsgerichts Trier vom 15. Juni 2005 aufzuheben und die Disziplinarklage abzuweisen,
hilfsweise,
auf eine mildere Disziplinarmaßnahme zu erkennen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Verfahrensbeteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 70 Abs. 1, § 66 Satz 1 BDG, § 101 Abs. 2 VwGO, § 3 BDG).
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis aufgrund einer Bemessungsentscheidung bestätigt, die gegen die gesetzlichen Vorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG verstößt. Da die Tatsachenfeststellungen des Berufungsurteils nicht ausreichen, um dem Senat eine abschließende Entscheidung über die Disziplinarklage zu ermöglichen, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG).
1. Die bei der Deutschen Post AG beschäftigten Bundesbeamten unterliegen hinsichtlich ihrer beruflichen Tätigkeit den Regeln über den beamtenrechtlichen Dienst und damit dem Disziplinarrecht (Urteil vom 20. August 1996 – BVerwG 1 D 80.95 – BVerwGE 103, 375 ≪377 f.≫).
2. Die Verwaltungsgerichte erkennen auf die erforderliche Disziplinarmaßnahme, wenn sie nach umfassender Sachaufklärung (§ 58 BDG; § 86 Abs. 1 und 2 VwGO) zu der Überzeugung gelangen, dass der Beamte die ihm in der Disziplinarklageschrift zur Last gelegten dienstpflichtwidrigen Handlungen begangen hat, und dem Ausspruch der Disziplinarmaßnahme kein rechtliches Hindernis entgegensteht (§ 60 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1, § 5 BDG). Die Vorschrift des § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG verleiht den Verwaltungsgerichten die Disziplinarbefugnis: Sie bestimmen die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung gemäß § 13 Abs. 1 und 2 BDG, ohne an die Wertungen des klagenden Dienstherrn gebunden zu sein.
Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung.
Den Bedeutungsgehalt dieser gesetzlichen Begriffe hat der Senat in dem Urteil vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – BVerwGE 124, 252 ≪258 ff.≫ näher bestimmt. Danach ist maßgebendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG die Schwere des Dienstvergehens. Sie beurteilt sich zum einen nach Eigenart und Bedeutung der verletzten Dienstpflichten, Dauer und Häufigkeit der Pflichtenverstöße und den Umständen der Tatbegehung (objektive Handlungsmerkmale), zum anderen nach Form und Gewicht des Verschuldens und den Beweggründen des Beamten für sein pflichtwidriges Verhalten (subjektive Handlungsmerkmale) sowie nach den unmittelbaren Folgen der Pflichtenverstöße für den dienstlichen Bereich und für Dritte, insbesondere nach der Höhe des entstandenen Schadens.
Das Bemessungskriterium “Persönlichkeitsbild des Beamten” gemäß § 13 Abs. 1 Satz 3 BDG erfasst dessen persönliche Verhältnisse und sein sonstiges dienstliches Verhalten vor, bei und nach der Tatbegehung. Es erfordert eine Prüfung, ob das festgestellte Dienstvergehen mit dem bisher gezeigten Persönlichkeitsbild des Beamten übereinstimmt oder etwa als persönlichkeitsfremdes Verhalten in einer Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation davon abweicht. Einen Aspekt des Persönlichkeitsbildes stellt auch tätige Reue dar, wie sie durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils noch vor der drohenden Entdeckung zum Ausdruck kommt.
Das Bemessungskriterium “Umfang der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit” gemäß § 13 Abs. 1 Satz 4 BDG erfordert eine Würdigung des Fehlverhaltens des Beamten im Hinblick auf seinen allgemeinen Status, seinen Tätigkeitsbereich innerhalb der Verwaltung und seine konkret ausgeübte Funktion.
Aus den gesetzlichen Vorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG folgt die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte, über die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Dies entspricht dem Zweck der Disziplinarbefugnis als einem Mittel der Funktionssicherung des öffentlichen Dienstes. Danach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (Beschlüsse vom 6. Juli 1984 – BVerwG 1 DB 21.84 – BVerwGE 76, 176 ≪177 ff.≫ und vom 13. Oktober 2005 – BVerwG 2 B 19.05 – Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 9. August 2006 – 2 BvR 1003/05 – DVBl 2006, 1372 ≪1373≫; Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003 – 2 BvR 1413/01 – NVwZ 2003, 1504).
Bei der Gesamtwürdigung haben die Verwaltungsgerichte zunächst die im Einzelfall bemessungsrelevanten Tatsachen zu ermitteln und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Bewertung einzubeziehen. Insbesondere bei der Bestimmung der Schwere des Dienstvergehens dürfen nur solche belastenden Tatsachen berücksichtigt werden, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Demgegenüber sind entlastende Umstände nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” schon dann beachtlich, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist.
Auf der Grundlage des so zusammengestellten Tatsachenmaterials haben die Verwaltungsgerichte eine Prognose über das voraussichtliche künftige dienstliche Verhalten des Beamten zu treffen und das Ausmaß der von ihm herbeigeführten Ansehensbeeinträchtigung des Berufsbeamtentums einzuschätzen. Bei schweren Dienstvergehen stellt sich vorrangig die Frage, ob der Beamte nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist. Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein aktiver Beamter aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn er das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Dies ist anzunehmen, wenn aufgrund der prognostischen Gesamtwürdigung auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden.
Ergibt die prognostische Gesamtwürdigung, dass ein endgültiger Vertrauensverlust noch nicht eingetreten ist, haben die Verwaltungsgerichte diejenige Disziplinarmaßnahme zu verhängen, die erforderlich ist, um den Beamten zur Beachtung der Dienstpflichten anzuhalten und der Ansehensbeeinträchtigung entgegenzuwirken.
Als maßgebendes Bemessungskriterium ist die Schwere des Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG richtungweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Dies bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der im Katalog des § 5 BDG aufgeführten Disziplinarmaßnahme zuzuordnen ist. Dabei können die vom Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Fallgruppen herausgearbeiteten Regeleinstufungen von Bedeutung sein (vgl. zum innerdienstlichen Betrug Urteil vom 4. Mai 2006 – BVerwG 1 D 13.05 – juris Rn. 29; zum Fernbleiben vom Dienst Urteil vom 12. Oktober 2006 – BVerwG 1 D 2.05 – juris Rn. 51; zur Vorteilsannahme Urteil vom 23. November 2006 – BVerwG 1 D 1.06 – ZBR 2007, 94 ≪95 f.≫). Davon ausgehend kommt es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist.
Nach dem Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. ≪260 ff.≫ gelten die Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG auch für die Fallgruppe der Zugriffsdelikte, d.h. für die Veruntreuung dienstlich anvertrauter Gelder und Güter. Aufgrund der Schwere dieser Dienstvergehen ist hier die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die veruntreuten Beträge oder Werte insgesamt die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen. Diese Indizwirkung entfällt jedoch, wenn sich im Einzelfall aufgrund des Persönlichkeitsbildes des Beamten Entlastungsgründe von solchem Gewicht ergeben, dass die prognostische Gesamtwürdigung den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauensverhältnis noch nicht vollends zerstört.
Als durchgreifende Entlastungsgründe kommen vor allem die Milderungsgründe in Betracht, die in der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts zu den Zugriffsdelikten entwickelt worden sind. Diese Milderungsgründe erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose geben. Zum einen tragen sie existenziellen wirtschaftlichen Notlagen sowie körperlichen oder psychischen Ausnahmesituationen Rechnung, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Zum anderen erfassen sie ein tätiges Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils vor drohender Entdeckung.
Unter Geltung der Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ist es nicht mehr möglich, diese Milderungsgründe als abschließenden Kanon der bei Zugriffsdelikten allein beachtlichen Entlastungsgründe anzusehen (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O.). Vielmehr gelten auch hier die dargestellten Anforderungen an die prognostische Gesamtwürdigung. Demnach dürfen entlastende Gesichtspunkte nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sie für das Vorliegen eines solchen Milderungsgrundes ohne Bedeutung sind oder nicht ausreichen, um dessen Voraussetzungen – im Zusammenwirken mit anderen Umständen – zu erfüllen. Die Milderungsgründe bieten jedoch Vergleichsmaßstäbe für die Bewertung, welches Gewicht entlastenden Gesichtspunkten in der Summe zukommen muss, um eine Fortsetzung des Beamtenverhältnisses in Betracht ziehen zu können. Generell gilt, dass deren Gewicht umso größer sein muss, je schwerer das Zugriffsdelikt aufgrund der Höhe des Schadens, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von “Begleitdelikten” und anderer belastender Gesichtspunkte im Einzelfall wiegt.
3. Das Berufungsurteil genügt den sich aus § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ergebenden Anforderungen an die prognostische Gesamtwürdigung nicht. Das Oberverwaltungsgericht hat die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis bereits deshalb für unvermeidbar gehalten, weil der Beamte ein Zugriffsdelikt begangen hat und nicht durch einen in der Rechtsprechung anerkannten Milderungsgrund entlastet wird. Im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung hat es sonstige entlastende Gesichtspunkte für unbeachtlich erklärt und bei der Maßnahmebemessung nicht berücksichtigt. Dementsprechend fehlt es an der erforderlichen Gesamtwürdigung.
4. Zwar kann das Revisionsgericht die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG festlegen. Hierfür fehlt es jedoch an tragfähigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils, so dass sich dieses auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG).
Das Revisionsgericht hat bei der Anwendung des revisiblen Rechts auf den festgestellten Sachverhalt (§ 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG) grundsätzlich dieselben Befugnisse und Entscheidungsmöglichkeiten, die das Berufungsgericht im Falle einer Zurückverweisung hätte (Urteil vom 6. Juli 1994 – BVerwG 11 C 12.93 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 271). Das Bundesdisziplinargesetz enthält insoweit keine Einschränkungen, während gemäß § 82 Abs. 3 Satz 2 DRiG das Revisionsurteil des Dienstgerichts des Bundes in Richterdisziplinarsachen nur auf Zurückweisung der Revision oder Aufhebung des angefochtenen Urteils lauten kann. Vielmehr gilt die Regelung des § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG, die den Verwaltungsgerichten die Befugnis zur Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme überträgt, gemäß § 70 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für das Revisionsverfahren (vgl. Weiß, GKÖD, Disziplinarrecht, M § 70 Rn. 27, 28; Mayer, in: Köhler/Ratz, BDG, 3. Aufl., § 70 Rn. 2).
Der Senat kann von dieser Befugnis jedoch nur Gebrauch machen, wenn er aufgrund der gemäß § 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils eine gesetzeskonforme, d.h. den Anforderungen gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG genügende Bemessungsentscheidung treffen kann. Er kann weder Tatsachen berücksichtigen, die nicht festgestellt sind, noch die Richtigkeit der festgestellten Tatsachen nachprüfen.
Daher kann der Senat über die Disziplinarklage nur dann abschließend entscheiden, wenn das Berufungsurteil alle wesentlichen bemessungsrelevanten Gesichtspunkte enthält. Ansonsten muss es gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
5. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils reichen nicht für die Maßnahmebemessung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG aus. Das Oberverwaltungsgericht ist mehreren entlastenden Gesichtspunkten nicht nachgegangen, deren Berücksichtigung für die Bemessungsentscheidung von Bedeutung sein kann.
a) Dies gilt zunächst für die Frage, ob der Beklagte die Zugriffshandlungen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB begangen hat. Wegen der von den Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG geforderten prognostischen Gesamtwürdigung kann auch die Frage, ob der Beamte im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit gehandelt hat, bei Zugriffsdelikten nicht schematisch als unbeachtlich behandelt werden. Vielmehr haben die Verwaltungsgerichte dieser Frage nachzugehen, wenn der Sachverhalt hinreichenden Anlass bietet. Lässt sich nach erschöpfender Sachaufklärung ein Sachverhalt nicht ohne vernünftigen Zweifel ausschließen, dessen rechtliche Würdigung eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beamten ergibt, so ist dieser Gesichtspunkt nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” in die Gesamtwürdigung einzustellen. Dies trägt auch der disziplinarrechtlichen Geltung des Schuldprinzips und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003 a.a.O.).
Erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setzt voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungsfähigkeit kommt es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte (vgl. BGH, Urteile vom 27. November 1959 – 4 StR 394/95 – BGHSt 14, 30 ≪32≫ und vom 21. November 1969 – 3 StR 249/68 – BGHSt 23, 176 ≪190≫; stRspr).
Suchtarten wie Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht stehen, auch wenn sie pathologischer Natur sind, hinsichtlich des Schweregrades einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB nur gleich, wenn sie entweder zu schwerwiegenden psychischen Persönlichkeitsveränderungen geführt haben oder der Betroffene Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen oder die Tat im akuten Rausch begangen hat. Nur unter diesen Voraussetzungen kann eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen (Urteile vom 16. März 1993 – BVerwG 1 D 69.91 – DokBer B 1993, 161 ≪162≫ und vom 11. Dezember 2002 – BVerwG 1 D 11.02 – juris Rn. 33; vgl. BGH, Urteile vom 20. September 1988 – 1 StR 369/88 – NStZ 1989, 17, vom 22. Juli 2003 – 4 StR 199/03 – NStZ 2004, 31 und vom 25. November 2004 – 5 StR 411/04 – NStZ 2005, 207 ≪208≫).
Die daran anknüpfende Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung “erheblich” war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte ohne Bindung an die Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten haben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise. Die Erheblichkeitsschwelle liegt umso höher, je schwerer das in Rede stehende Delikt wiegt (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 – NStZ 2004, 437 und vom 22. Oktober 2004 – 1 StR 248/04 – NStZ 2005, 329 ≪330≫).
Dementsprechend hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB von der Bedeutung und Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab. Aufgrund dessen wird sie bei Zugriffsdelikten nur in Ausnahmefällen erreicht werden.
Im vorliegenden Fall hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, es seien keine Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Persönlichkeitsveränderung des Beklagten im Tatzeitraum oder für entzugsbedingte Beschaffungstaten ersichtlich. Demgegenüber hat der vom Verwaltungsgericht beauftragte Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beklagten nicht ausgeschlossen. Zwar ist das Oberverwaltungsgericht an diese Einschätzung nicht gebunden. Das Berufungsurteil lässt aber nicht erkennen, dass sich das Oberverwaltungsgericht mit den Feststellungen und Wertungen des Sachverständigen auseinander gesetzt hat. Diese Beweiswürdigung ist dem Senat verwehrt. Von ihr aber hängt die Rechtsentscheidung über die Frage der Erheblichkeit einer etwaigen Verminderung der Steuerungsfähigkeit ab.
b) Darüber hinaus hat der Beklagte vorgetragen, er habe die Zugriffshandlungen ausschließlich unter dem Druck seiner damaligen pathologischen Spielsucht begangen, die Krankheitswert gehabt habe. Weitere Taten dieser Art seien ausgeschlossen, weil er sich unmittelbar nach Aufdeckung seiner Pflichtenverstöße erfolgreich einer stationären Therapie unterzogen habe. Diese Angaben können Anlass geben aufzuklären, ob es sich bei den Pflichtenverstößen um “Entgleisungen während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase” gehandelt hat (vgl. dazu Urteile vom 18. April 1979 – BVerwG 1 D 39.78 – BVerwGE 63, 219 ≪220≫, vom 10. November 1987 – BVerwG 1 D 24.87 – juris Rn. 17 und vom 23. August 1988 – BVerwG 1 D 136.87 – NJW 1989, 851). Hierzu bedarf es der Aufklärung des Schweregrades der Spielsucht, d.h. von Umfang und Dauer, ihren Folgen für die Lebensumstände des Beamten, einer möglichen Mitursächlichkeit anderer Beweggründe für die Zugriffshandlungen und der Auswirkungen der Therapie.
c) Schließlich hat das Berufungsgericht nicht aufgeklärt, warum es dem Beklagten trotz suchtbedingt erhöhten Finanzbedarfs möglich war, bis zur Aufdeckung seines Fehlverhaltens ungefähr drei Viertel des verursachten Schadens auszugleichen. Weiterhin kann von Bedeutung sein, ob der Beklagte die Zugriffshandlungen durch weitere disziplinarische Verfehlungen ermöglicht oder verschleiert hat und ob er nach der Entdeckung im Mai 2003 von weiteren Zugriffshandlungen Abstand genommen hat.
Abschließend weist der Senat darauf hin, dass in Anbetracht der gravierenden belastenden Gesichtspunkte, nämlich der beträchtlichen Höhe des veruntreuten Gesamtbetrages sowie der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, ein Absehen von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nur dann in Betracht kommt, wenn zu berücksichtigen ist, dass die Schuldfähigkeit des Beklagten erheblich vermindert war oder er sich in einer diesem Zustand nahe kommenden schwierigen, aber nunmehr vollständig überwundenen Lebensphase befunden hat, er keine “Begleitdelikte” begangen hat und die weitere Sachaufklärung keinen weiteren belastenden Gesichtspunkt ergibt.
Unterschriften
Albers, Dr. Kugele, Dr. Müller, Groepper, Dr. Heitz
Fundstellen