Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe für Deutsche im Ausland

 

Leitsatz (amtlich)

Ein besonderer Notfall, der Sozialhilfeleistungen an Deutsche im Ausland rechtfertigt, liegt dann vor, wenn eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung existentieller Rechtsgüter droht und dieser Gefahr nur durch Hilfegewährung im Ausland begegnet werden kann, weil dem Bedürftigen eine Rückkehr nach Deutschland zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar ist (wie Urteil vom heutigen Tage – BVerwG 5 C 4.96 –).

 

Normenkette

BSHG § 119

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches OVG (Urteil vom 25.09.1996; Aktenzeichen 4 L 3644/96)

VG Hannover (Entscheidung vom 02.05.1996; Aktenzeichen 3 A 190/96.Hi)

 

Tenor

Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 25. September 1996 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger verlangt vom Beklagten Sozialhilfe für Deutsche im Ausland. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es um Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 1. Juli 1995.

Der 1939 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er behauptet, seit 1980 seinen ständigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika zu haben. Seine Absicht, dort nach beruflichen und persönlichen Mißerfolgen, die ihm in Deutschland widerfahren waren, eine neue Existenz aufzubauen, hat sich nicht verwirklicht. Der Kläger ist an einer chronischen rezidivierenden Pankreatitis erkrankt und Inhaber eines Schwerbehindertenausweises. Er behauptet, erwerbsunfähig zu sein, unselbständige Tätigkeit sei ihm in den USA ohnehin nicht gestattet. Der Kläger macht geltend, er habe dort ein soziales Umfeld gefunden, das er nicht ohne Gefahr für seine körperliche und seelische Verfassung aufgeben könne.

Unter dem 1. Juli 1995 stellte der Kläger, der schon in der Zeit vom 30. März 1993 bis zum 30. Juni 1995 vom Beklagten Sozialhilfe für Deutsche im Ausland erhalten hatte, einen erneuten Sozialhilfeantrag. Durch Schreiben vom 18. Juli 1995 teilte der Beklagte ihm – ohne Rechtsmittelbelehrung – mit, Sozialhilfe könne nach § 119 BSHG n.F. nicht gewährt werden, nachdem bereits das Verwaltungsgericht Hannover in seinem Gerichtsbescheid vom 16. Mai 1994 festgestellt habe, daß der Kläger ab Inkrafttreten der Neufassung des § 119 BSHG keinen Anspruch auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt habe. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Durch Bescheid vom 24. Januar 1996 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung als unzulässig zurück, sein Schreiben vom 18. Juli 1995 sei kein Verwaltungsakt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht die dagegen eingelegte Berufung des Klägers zurückgewiesen und dies wie folgt begründet:

Beim Kläger liege kein „besonderer Notfall” im Sinne des § 119 BSHG n.F. vor. Eine zwingende Verpflichtung, hilfebedürftigen Personen im Ausland zu helfen, treffe die Bundesrepublik Deutschland nicht. Dem Sozialstaatsgebot sei genügt, weil das Konsulargesetz die Rückführung sichere und der Kläger in der Bundesrepublik den notwendigen Lebensunterhalt erlangen könne. Ein grundrechtlich garantierter Anspruch, sich im Ausland aufzuhalten und dort Fürsorgeleistungen deutscher Stellen zu erhalten, bestehe nicht. Nach der Neufassung des § 119 BSHG sei die Hilfegewährung in den Fällen ausgeschlossen, in denen der Hilfesuchende – wie hier – „nur”) im Sinne des § 11 BSHG hilfebedürftig sei. Ein „Not-Fall” sei schon nach dem Wortlaut eine Sachlage, in der plötzlich und unvorhergesehen für den Betreffenden nachteilige Veränderungen einträten, die zwar dessen Existenz tief berührten, jedoch in aller Regel innerhalb einer mehr oder minder kurzen Zeitspanne wieder (vollständig) beseitigt werden könnten. Dem Begriff des Notfalles wohne daher ein zeitliches Moment des Plötzlichen inne; die die Auslandshilfe rechtfertigende Sachlage müsse sich unvermutet einstellen. Der Notfall müsse außerdem „besonders” sein. Der Mangel müsse in hervortretender Weise existentielle Güter betreffen. Dies sei hier nicht der Fall. Ohne Erfolg verweise der Kläger auf die vermeintliche Gefahr, im Falle einer Heimführung wegen Entwurzelung ernste seelische Schäden davonzutragen. Er habe nicht durch Vorlage eingehender ärztlicher Stellungnahmen oder in ähnlicher Weise glaubhaft gemacht, daß bei ihm eine derartige Gefahr bestehe. Seine Erkrankung begründe gleichfalls einen solchen Notfall nicht, da es sich nicht um einen plötzlich auftretenden Notfall, sondern ein Dauerleiden handele, zu dessen Behandlung der Kläger sich im übrigen regelmäßig nach Deutschland begebe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er eine Verletzung von § 119 BSHG rügt: Das Oberverwaltungsgericht habe das Tatbestandsmerkmal „besonderer Notfall” unzutreffend definiert und sei infolgedessen in dem angefochtenen Urteil auf seine – des Klägers – vorgetragene und durch ärztliche Atteste belegte Erkrankung und Gesundheitsbelastung durch die Rückführung nach Deutschland nicht eingegangen.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Nach Ansicht des Oberbundesanwalts sind an die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „besonderen Notfalls” strenge Anforderungen zu stellen. Ob die Situation des Klägers diesen entspreche, sei durch Einzelfallprüfung zu ermitteln.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das angegriffene Urteil steht teilweise mit Bundesrecht nicht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da jedoch eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch tatsächliche Feststellungen und Würdigungen erfordert, die vorzunehmen dem Revisionsgericht verwehrt ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), muß die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen werden.

Die Klage ist als Untätigkeitsklage im Sinne von § 75 VwGO zulässig. Der Beklagte hat „über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts … sachlich nicht entschieden” (§ 75 Satz 1, erste Alternative VwGO); denn er hat es durch Schreiben vom 18. Juli 1995 in Verbindung mit dem Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1996 gegenüber dem Kläger abgelehnt, eine Sachentscheidung über dessen Sozialhilfeantrag vom 1. Juli 1995 zu treffen. Hierfür gab es keinen zureichenden Grund; denn die Rechtskraft des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 1994 – 3 A 1285/93.Hi –, auf die der Beklagte sich berufen hat, erstreckte sich nur auf die Zeit bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides in jenem Verfahren im August 1993 (s. S. 5 des Gerichtsbescheides). Der im vorliegenden Rechtsstreit umstrittene Zeitraum (Klage auf Sozialhilfeleistungen ab 1. Juli 1995) wird somit – entgegen der Auffassung des Beklagten – von der Rechtskraft jener Entscheidung nicht erfaßt.

Die Berechtigung des Begehrens des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt ist nach § 119 Abs. 1 BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. März 1994 (BGBl I S. 646) zu beurteilen. Nach der bis zum 26. Juni 1993 geltenden früheren Fassung des § 119 Abs. 1 BSHG sollte Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben und im Ausland der Hilfe bedürfen, Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt werden; sonstige Sozialhilfe konnte gewährt werden, wenn die besondere Lage des Einzelfalles dies rechtfertigte. In dieser früheren Fassung ist § 119 BSHG gemäß § 147 b BSHG nur noch in den Fällen anzuwenden, in denen Deutsche im Ausland am 1. Juli 1992 Hilfe nach § 119 BSHG bezogen haben, weiterhin bedürftig sind und bis zum 26. Juni 1993 das 60. Lebensjahr vollendet hatten oder die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung erhielten. Da der Kläger keine dieser Voraussetzungen erfüllt, ist sein die Zeit ab dem 1. Juli 1995 betreffendes Hilfebegehren, nach dem neuen Recht zu beurteilen. Darüber besteht unter den Beteiligten auch kein Streit.

Das Berufungsgericht hat jedoch die Neuregelung zu eng ausgelegt.

Gemäß § 119 Abs. 1 BSHG in seiner jetzt geltenden Fassung kann Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben und dort der Hilfe bedürfen, in besonderen Notfällen Sozialhilfe gewährt werden. Die Vorschrift knüpft die in das Ermessen der Behörde gestellte Hilfeleistung an einen Deutschen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland jetzt nicht (mehr) nur an die Voraussetzung, daß er im Ausland der Hilfe bedarf. Vielmehr muß ein besonderer Notfall vorliegen. Wann ein solcher besonderer Notfall vorliegt, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Der Begriffsinhalt muß also durch Auslegung ermittelt werden.

Ein Notfall ist nach dem Wortsinn eine Sachlage, welche über die allgemeine Notlage hinausgeht, die Voraussetzung einer sozialhilferechtlichen Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 11 Abs. 1 BSHG ist. Mit dem Erfordernis einer besonderen Notlage verlangt das Gesetz das Hinzutreten besonderer Umstände, die sich ihrer Art nach von Situationen, die üblicherweise im Ausland sozialhilferechtlichen Bedarf hervorrufen, deutlich abheben. Deshalb ist die besondere Notlage auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen ohne die Hilfeleistung an den im Ausland lebenden und in Not geratenen Deutschen eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung existentieller Rechtsgüter droht. Das ist dann zu bejahen, wenn durch die Not sein Leben in Gefahr ist oder bedeutender Schaden für die Gesundheit oder ein anderes vergleichbar existentielles Rechtsgut zu gewärtigen ist, dem nicht anders als durch Hilfegewährung im Ausland begegnet werden kann, weil dem Bedürftigen eine Rückkehr nach Deutschland nicht zumutbar ist. Der „besondere Notfall” als das Eintreten der Sozialhilfe im Ausland auslösender Sachverhalt unterscheidet sich aus dieser Sicht von einer „allgemeinen” sozialhilferechtlichen Notlage, die im Inland bereits eher zum Eintreten der Sozialhilfe führt, mithin dadurch, daß er erst gegeben ist, wenn die Not ein wesentliches Rechtsgut gewichtig zu schädigen droht.

Der „besondere Notfall” ist sonach zum einen durch die qualifizierende Voraussetzung eines existentielle Güter betreffenden Mangels charakterisiert, zum anderen aber abhängig von der Feststellung, daß dem Mangel nicht in zumutbarer Weise in der Bundesrepublik Deutschland abgeholfen werden kann. Ausdrücklich schließt § 119 Abs. 3 Satz 2 BSHG Sozialhilfeleistungen im Ausland aus, wenn die Heimführung des Hilfesuchenden geboten ist. Dagegen kommt es – entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts – nicht entscheidend darauf an, ob diese besondere Hilfebedürftigkeit plötzlich und unvorhergesehen eingetreten ist und ob sie innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne wieder beseitigt werden kann. Eine solche Einschränkung läßt sich dem Wortsinn des Begriffs des besonderen Notfalls nicht entnehmen.

Nach diesen Grundsätzen kommt Sozialhilfe für den Kläger auf der Grundlage von § 119 BSHG in Betracht:

Wenn er – was näherer Aufklärung durch das Oberverwaltungsgericht bedarf, das von seinem Verständnis einer „besonderen Notlage” her keine Veranlassung hatte, dem nachzugehen – außerstande ist, in den USA für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, droht dem Kläger existentielle Not. Dies ist sozialhilferechtlich aber ohne Bedeutung, wenn es dem Kläger zuzumuten ist, in die Bundesrepublik Deutschland zurückzukehren, um hier Sozialhilfe zu erhalten. Ob ihm die Rückkehr nach Deutschland zuzumuten ist, hängt davon ab, ob der Kläger dadurch in eine Notlage geriete, die abzuwenden ebenfalls Aufgabe der Sozialhilfe ist. Dies kann der Fall sein, wenn der Kläger, müßte er nach Deutschland zurückkehren, ernsthaft gesundheitlich gefährdet wäre.

Der Kläger behauptet dies, und der Sachverhalt gibt Veranlassung, seiner Behauptung nachzugehen. Dem Kläger ist amtsärztlich bescheinigt, daß er „bei der Schwere der Erkrankungsschübe und der … psychischen Komponente als auslösendes Moment hierfür … weiter in den USA leben sollte” (Bescheinigung der P.-Klinik O. mit Einverständnisvermerk des Gesundheitsamtes des Landkreises O. vom 13. Januar 1994) und daß „seine Rückkehr nach Deutschland den Verlust persönlich notwendiger und lebenswichtiger sozialer Beziehungen bedeuten würde” (ärztliche Bescheinigung der P.-Klinik vom 17. März 1994); aus ärztlicher Sicht wird ihm prognostiziert, daß seine „psychische(n) Störungen … sich sicher weiterhin verstärken werden und zu häufigeren Krankenhausaufenthalten noch führen werden, wenn er in Deutschland weiterhin verbleiben muß” (Universitätsklinikum F. vom 10. Mai 1996), der Behauptung des Klägers, daß „ein Weiterleben in seinem neuen Lebensraum in den USA (für seinen Gesundheitszustand) … förderlich” sei, könne aus ärztlicher Sicht nicht widersprochen werden (Universitätsklinikum F. vom 29. November 1995).

Mit alledem hat das Berufungsgericht sich nicht befaßt. Seine im Eilverfahren getroffene Feststellung (s. den in den Entscheidungsgründen in Bezug genommenen Eilbeschluß vom 24. November 1993 – 4 M 4720/93 und 4 M 5360/93 – ≪FEVS 44, 376 = DÖV 1994, 482≫, S. 10 des Entscheidungsabdrucks), daß der Kläger die Gefahr von sozialhilferechtlich relevanten Folgewirkungen einer Heimführung in die Bundesrepublik Deutschland „nicht durch Vorlage eingehender ärztlicher Stellungnahmen oder in ähnlicher Weise glaubhaft gemacht” habe, war auf das Eilverfahren beschränkt und im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung durch die inzwischen vom Kläger vorgelegten Stellungnahmen überholt. Das Oberverwaltungsgericht wird somit nunmehr durch eine Bewertung dieser Stellungnahmen oder auf sonstige ihm geeignet erscheinende Weise zu ermitteln haben, ob eine Heimführung des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland dessen geschädigten Gesundheitszustand zusätzlich beeinträchtigen würde.

 

Unterschriften

Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1418699

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