Leitsatz (amtlich)
1. Den Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik ist in Bezug auf das Vorliegen der Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG kein Beurteilungsspielraum eingeräumt.
2. Über das Vorliegen der Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit im Sinne von § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG ist in jedem Einzelfall gesondert zu entscheiden. Schwerwiegend ist eine Erbkrankheit insbesondere, wenn sich die Erkrankung durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheidet.
3. Ist fraglich, ob eine Erbkrankheit bereits wegen der nach der genetischen Disposition jedenfalls eines Elternteils zu erwartenden Krankheitsausprägung bei den Nachkommen als schwerwiegend einzustufen ist, sind auch mit der genetischen Disposition in Zusammenhang stehende weitere Belastungen der betroffenen Frau bzw. des Paares zu berücksichtigen.
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 14.03.2019; Aktenzeichen 20 BV 17.1507) |
VG München (Urteil vom 10.05.2017; Aktenzeichen M 18 K 16.1738) |
Tenor
Die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. März 2019 und des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. Mai 2017 werden geändert.
Der Bescheid der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik vom 14. März 2016 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die zustimmende Bewertung zu der von ihr beantragten Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik zu erteilen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin begehrt die Verpflichtung des Beklagten, die zustimmende Bewertung zu der von ihr beantragten Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden: PID) zu erteilen.
Rz. 2
Sie beantragte unter dem 22. Januar 2016 bei der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden: Ethikkommission) die Zustimmung zur Vornahme einer PID. Dem Antrag waren mehrere ärztliche Stellungnahmen beigefügt, darunter die Zusammenfassung über ein humangenetisches Beratungsgespräch vom 18. Dezember 2015. Daraus geht hervor, dass beim Partner der Klägerin molekulargenetisch eine Myotone Dystrophie Typ 1 bestätigt worden ist. Die Analyse des DMPK-Gens (Myotone Dystrophie Protein Kinase) habe eine Verlängerung des CTG-Repeats im 3'-untranslatierten Bereich von 500-1000 Repeats ergeben. Er zeige eine deutliche Muskelschwäche und weitere Symptome einer Myotonen Dystrophie, ebenso wie seine ältere Schwester und sein Vater. Im Fall einer Schwangerschaft der Klägerin bestehe eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent für die Geburt eines Kindes mit einer Myotonen Dystrophie Typ 1.
Rz. 3
Durch Bescheid vom 14. März 2016 lehnte die Ethikkommission den Antrag der Klägerin ab. Eine zustimmende Bewertung zur Durchführung einer PID setze gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) voraus, dass für Nachkommen der Antragstellerin das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit bestehe. Schwerwiegend sei eine Erbkrankheit, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheide. Diese Voraussetzungen seien bei der Klägerin nicht erfüllt. Charakteristische Symptome einer Myotonen Dystrophie Typ 1 seien Muskelsteifheit und langsam fortschreitende Muskelschwäche, speziell der Gesichtsmuskeln, der Hals- und Nackenmuskulatur sowie der Muskeln der Unterarme und im unteren Abschnitt der Beine. Andere Organe könnten ebenfalls betroffen sein. Das Alter bei Krankheitsbeginn und die Art der Symptome hingen stark von der Länge der CTG-Repeatsequenz ab. Bei einer ganz beachtlichen Zahl von Patienten werde die Erkrankung jedoch erst im höheren Lebensalter erkennbar. Insbesondere im Fall der Klägerin bestehe, da die Erkrankung über den Vater vererbt werde, lediglich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass bei den Nachkommen eine schwere kindliche Form des Krankheitsbildes vorliege.
Rz. 4
Die dagegen erhobene Klage hat das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 10. Mai 2017 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine zustimmende Bewertung ihres Antrags. Die Ethikkommission habe einen Beurteilungsspielraum. Gerichtlich sei daher lediglich nachprüfbar, ob sie von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei, die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums eingehalten und die richtigen Bewertungsmaßstäbe angewendet habe. Das sei hier jeweils zu bejahen.
Rz. 5
Die Berufung der Klägerin hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 14. März 2019 zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Schwerwiegend im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG seien nur Erkrankungen, deren Schweregrad mit dem der Muskeldystrophie Typ Duchenne vergleichbar sei. Das ergebe sich aus der Gesetzessystematik. In § 3 Satz 2 ESchG werde zur Konkretisierung des Begriffs "schwerwiegend" auf die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne Bezug genommen und damit eine Referenzerkrankung zum Verständnis dieses Begriffs im Geltungsbereich des Embryonenschutzgesetzes geschaffen. Die Gesetzesmaterialien stützten diese Auslegung. Für die Einstufung einer Erbkrankheit als schwerwiegend könne jedoch nicht allein auf das Krankheitsbild und die Symptomatik der Muskeldystrophie Typ Duchenne abgestellt werden. Das verbiete der mit § 3a ESchG bezweckte Lebens- und Würdeschutz der Embryonen in vitro. Maßgeblich seien vielmehr die Auswirkungen, die die Erkrankung des Kindes für die gesamte Lebensentwicklung und -gestaltung der Mutter bzw. der Eltern habe. Der Eingriff in die Grundrechte von Embryonen in vitro sei im Fall einer medizinisch schwerwiegenden Erbkrankheit nur gerechtfertigt, weil den Eltern wegen des zu erwartenden hohen Pflegeaufwandes und der großen körperlichen und psychischen Belastung die Erkrankung des Kindes nicht zumutbar sei. Für dieses Normverständnis spreche auch die Begründung zum Präimplantationsdiagnostikgesetz, die auf § 218a Abs. 2 StGB als Anknüpfungspunkt für die ebenfalls als Rechtfertigungsgrund formulierte Regelung des § 3a Abs. 2 ESchG Bezug nehme. Allerdings sehe § 3a Abs. 2 ESchG abweichend von § 218a Abs. 2 StGB keine individuelle Entscheidung nach Unzumutbarkeitskriterien vor. Für die Zulässigkeit einer PID sei daher allein auf die Schwere der Erkrankung abzustellen, die im Sinne einer typisierenden Betrachtung die Unzumutbarkeit für die Eltern indiziere. Dagegen gebe es für eine Berücksichtigung der konkreten familiären Situation bei der Beurteilung der Unzumutbarkeit keinen normativen Ansatzpunkt. Das in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG verlangte hohe Risiko sei im Fall von monogenen Erbkrankheiten bei einer Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen 25 und 50 Prozent zu bejahen. Die angefochtene Entscheidung der Ethikkommission unterliege der vollen gerichtlichen Überprüfung. Der vom Verwaltungsgericht angenommene Beurteilungsspielraum finde im Gesetz keine Stütze. Danach lägen die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG im Fall der Klägerin nicht vor. Die bei ihrem Partner vorliegende klassische Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 erreiche nicht den Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne. Insbesondere seien die Betroffenen nicht schon in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter auf intensive Pflege im Alltag angewiesen. Sie hätten zwar eine eingeschränkte Lebenserwartung, erreichten jedoch das fortgeschrittene Erwachsenenalter. Patienten mit der Muskeldystrophie Typ Duchenne erreichten bei sehr frühem Verlust der Gehfähigkeit und progredientem Krankheitsverlauf bislang nur das dritte Lebensjahrzehnt. Die kongenitale Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 dürfte zwar die Kriterien für eine schwerwiegende Erbkrankheit erfüllen. Für sie bestehe hier aber kein hohes Risiko, da sie fast ausschließlich über die mütterliche Keimbahn und nicht über den Vater vererbt werde.
Rz. 6
Mit der vom Verwaltungsgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie macht im Wesentlichen geltend: Der Verwaltungsgerichtshof habe fehlerhaft angenommen, dass eine schwerwiegende Erbkrankheit im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG nur vorliege, wenn die Erkrankung im Schweregrad mit der Muskeldystrophie Typ Duchenne vergleichbar sei. Der Begriff der schwerwiegenden Erbkrankheit in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG könne nicht mit dem in § 3 Satz 2 ESchG gleichgesetzt werden. Der Gesetzgeber habe bei § 3a ESchG bewusst davon abgesehen, bestimmte Krankheiten festzulegen, die die Durchführung einer PID rechtfertigten. Auch erhielten die in § 3a Abs. 3 Satz 1 ESchG normierten Verfahrensanforderungen ihren Sinn gerade dadurch, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG weniger streng seien als die des § 3 Satz 2 ESchG. Gegen eine Gleichsetzung spreche zudem, dass die Gesetzesbegründung zu § 3a ESchG eine eigenständige Erläuterung des Begriffs "schwerwiegende Erbkrankheit" enthalte. Zudem werde dort hervorgehoben, dass über die Durchführung der PID in jedem Einzelfall gesondert zu entscheiden sei. Auch habe der Verwaltungsgerichtshof übersehen, dass der Gesetzgeber eine widerspruchsfreie Lösung im Verhältnis zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in § 218a Abs. 2 StGB bezweckt habe. Die Vornahme einer PID könne eine Spätabtreibung verhindern. Die Einengung auf die Muskeldystrophie Typ Duchenne trage diesem Ziel nicht ausreichend Rechnung. Der Umstand, dass § 218a Abs. 2 StGB auf eine für die Schwangere unzumutbare Situation abstelle, während § 3a ESchG auf bestimmte Krankheitsbilder abhebe, ändere nichts daran, dass die Konfliktlage vergleichbar sei. Unter Zugrundelegung des zutreffenden Maßstabes sei der Klage stattzugeben. Die Klägerin müsste bei einer Schwangerschaft ohne PID mit dem greifbaren Risiko leben, dass nicht nur ihr Partner, sondern auch ihr Kind ein Pflegefall sein würden.
Rz. 7
Der Beklagte hält das Berufungsurteil im Ergebnis für richtig. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Ethikkommission ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zukomme, erscheine zutreffend. Der Verwaltungsgerichtshof gehe selbst davon aus, dass sich § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 3 Nr. 2 ESchG Anhaltspunkte entnehmen ließen, wonach der Gesetzgeber der Ethikkommission einen Beurteilungsspielraum habe einräumen wollen. Die vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Orientierung am Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne sei zweifelhaft. § 3 Satz 2 und § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG wiesen inhaltliche Unterschiede auf, die gegen eine Gleichsetzung des Begriffs "schwerwiegende Erbkrankheit" sprächen. Unabhängig davon lägen die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG aber nicht vor. Es bestehe weder ein hohes Risiko für eine kindliche Form der Myotonen Dystrophie Typ 1, noch sei ersichtlich, dass im Fall der milder verlaufenden klassischen Form von einer schwerwiegenden Erbkrankheit auszugehen sei. Die von § 3a ESchG und § 218a Abs. 2 StGB in den Blick genommenen Konfliktlagen mögen zwar ähnlich sein, aus rechtlicher und ethischer Sicht bestehe aber ein grundlegender Unterschied. Bei § 218a Abs. 2 StGB gelte es, einen Konflikt zu lösen, den die Schwangere nicht gewollt habe und in den sie unverschuldet geraten sei. Bei der PID werde die Situation, eine Auswahl zulasten der von einer bestimmten Erbkrankheit betroffenen Embryonen in vitro zu treffen, bewusst herbeigeführt.
Rz. 8
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht merkt in Übereinstimmung mit den Bundesministerien für Gesundheit, der Justiz und für Verbraucherschutz sowie des Innern, für Bau und Heimat an, dass die Bewertung der Ethikkommission der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliege. Die Ethikkommission habe die Aufgabe, die unbestimmten Rechtsbegriffe "schwerwiegende Erbkrankheit" und "hohes Risiko" im konkreten Einzelfall auszulegen. Die Auslegung habe sich am Willen des Gesetzgebers zu orientieren, wie er in der Gesetzesbegründung zum Präimplantationsdiagnostikgesetz zum Ausdruck komme. Der Gesetzgeber habe bei § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG bewusst auf einen Katalog bestimmter Krankheiten verzichtet. Die Feststellung, ob ausnahmsweise eine PID vorgenommen werden könne, obliege dem behandelnden Arzt nach medizinischer Indikation im jeweiligen Einzelfall und der Bewertung durch die Ethikkommission.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat fehlerhaft angenommen, schwerwiegend im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG seien nur Erbkrankheiten, die den Schweregrad der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne erreichten. Eine schwerwiegende Erbkrankheit im Sinne der Vorschrift liegt insbesondere vor, wenn sich die Krankheit durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheidet. Ist fraglich, ob eine Erbkrankheit bereits wegen der nach der genetischen Disposition jedenfalls eines Elternteils zu erwartenden Krankheitsausprägung bei den Nachkommen als schwerwiegend einzustufen ist, sind auch mit der genetischen Disposition in Zusammenhang stehende weitere Belastungen der betroffenen Frau bzw. des Paares zu berücksichtigen. Danach hat die Klage Erfolg (§ 113 Abs. 5 Satz 1, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin hat gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG, § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV einen Anspruch auf Erteilung der zustimmenden Bewertung zu der von ihr beantragten Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik, weil die Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit vorliegen.
Rz. 10
1. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zulässig im Wege der Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat im Einklang mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) angenommen, dass die Entscheidung der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 ESchG, § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV die Voraussetzungen eines Verwaltungsakts gemäß Art. 35 Satz 1 BayVwVfG erfüllt (vgl. auch Begründung zur Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BR-Drs. 717/12 S. 30 ≪zu § 6 Abs. 1 PIDV≫; zur Behördeneigenschaft der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik: Bayerischer Landtag, Begründung zum Gesetz zur Ausführung der Präimplantationsdiagnostikverordnung, Drs. 17/2382 S. 8 ≪zu Art. 2 Abs. 1≫).
Rz. 11
2. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei einer Verpflichtungsklage regelmäßig der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung. Für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Erteilung der zustimmenden Bewertung zur beantragten Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG, § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV ergibt sich aus dem materiellen Recht kein abweichender Beurteilungszeitpunkt. Anzuwenden sind danach das Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz - ESchG) vom 13. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2746), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 2011 (BGBl. I S. 2228), und die Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikverordnung - PIDV) vom 21. Februar 2013 (BGBl. I S. 323), zuletzt geändert durch Art. 3 der Verordnung vom 2. Juli 2018 (BGBl. I S. 1078).
Rz. 12
3. Nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG darf eine Präimplantationsdiagnostik nach Absatz 2 nur vorgenommen werden, nachdem eine interdisziplinär zusammengesetzte Ethikkommission an den zugelassenen Zentren für Präimplantationsdiagnostik die Einhaltung der Voraussetzungen des Absatzes 2 geprüft und eine zustimmende Bewertung abgegeben hat. Entsprechend bestimmt die auf der Grundlage von § 3a Abs. 3 Satz 3 ESchG erlassene Präimplantationsdiagnostikverordnung in § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV, dass die Ethikkommissionen den Antrag auf Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik zustimmend zu bewerten haben, wenn sie nach Prüfung der in § 5 Abs. 2 PIDV genannten Angaben und Unterlagen unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte zu dem Ergebnis kommen, dass die in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Die in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG normierte Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a Abs. 1 ESchG setzt voraus, dass aufgrund der genetischen Disposition der Frau, von der die Eizelle stammt, oder des Mannes, von dem die Samenzelle stammt, oder von beiden für deren Nachkommen das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht.
Rz. 13
Der Verwaltungsgerichtshof hat zutreffend angenommen, dass die angefochtene Entscheidung der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt. Den Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik ist in Bezug auf das Vorliegen der Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG kein Beurteilungsspielraum eingeräumt.
Rz. 14
a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um Eingriffe in geschützte Rechtspositionen oder die Versagung gesetzlich eingeräumter Ansprüche handelt. Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Verwaltungsgerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das schließt auch eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen tatsächlichen oder rechtlichen Feststellungen und Wertungen im Grundsatz aus (BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 [ECLI:DE:BVerfG:2011:rs20110531.1bvr085707] - BVerfGE 129, 1 ≪20≫ m.w.N.). Nur ausnahmsweise ist es daher zu rechtfertigen, der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nur beschränkt zugänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen. Die ausnahmsweise Anerkennung eines Beurteilungsspielraums setzt voraus, dass die Verwaltung gesetzlich ermächtigt ist, abschließend darüber zu befinden, ob die durch einen unbestimmten Gesetzestatbestand oder -begriff gekennzeichneten Voraussetzungen vorliegen. Diese Ermächtigung muss ihrer Art und ihrem Umfang nach den jeweiligen Rechtsvorschriften zumindest konkludent - durch Auslegung - entnommen werden können. Darüber hinaus bedarf die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrundes (BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 ≪22 f.≫; BVerwG, Urteile vom 21. Dezember 1995 - 3 C 24.94 - BVerwGE 100, 221 ≪225≫ und vom 30. Oktober 2019 - 6 C 18.18 [ECLI:DE:BVerwG:2019:301019U6C18.18.0] - BVerwGE 167, 33 Rn. 12 ff., jeweils m.w.N.).
Rz. 15
b) Danach ist hier die Annahme eines Beurteilungsspielraums nicht gerechtfertigt. Den gesetzlichen Bestimmungen lässt sich eine Beurteilungsermächtigung für die Verwaltung nicht hinreichend deutlich entnehmen (aa) und es fehlt ein tragfähiger Sachgrund für die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle (bb).
Rz. 16
aa) Für die Annahme eines Beurteilungsspielraums genügt nicht, dass der Normgeber die nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG zu treffende Entscheidung einer unabhängigen, interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommission übertragen hat (§ 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 3 Nr. 2 ESchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 und 3 PIDV), deren Mitglieder in ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung unabhängig und weisungsfrei sind (§ 4 Abs. 2 Satz 1 PIDV). Zwar kann die Übertragung der Zuständigkeit für Verwaltungsentscheidungen auf ein pluralistisch besetztes, mit besonderer Fachkunde ausgestattetes Kollegialorgan für die Absicht des Gesetzgebers sprechen, der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum zuzuweisen (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. November 1993 - 3 C 38.91 - BVerwGE 94, 307 ≪311≫, vom 16. Mai 2007 - 3 C 8.06 - BVerwGE 129, 27 Rn. 27 und vom 14. Oktober 2015 - 6 C 17.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:141015U6C17.14.0] - BVerwGE 153, 129 Rn. 35, jeweils m.w.N.). Dieser Schluss ist hier aber weder durch den Wortlaut der Regelungen vorgegeben, noch kommt in den Gesetzgebungsmaterialien zum Ausdruck, dass die letztverbindliche Auslegung der in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit der Ethikkommission vorbehalten und die verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sein soll (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 7 ff.; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drs. 17/6400 S. 11 ff.; Begründung zur Verordnung der Bundesregierung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BR-Drs. 712/12 S. 10 f., 25 ff.). Die Regelungssystematik des § 3a ESchG spricht gegen die Einräumung eines Beurteilungsspielraums für die Ethikkommission. Gemäß § 3a Abs. 1 ESchG macht sich strafbar, wer Zellen eines Embryos in vitro vor seinem intrauterinen Transfer genetisch untersucht. § 3a Abs. 2 ESchG regelt, unter welchen Voraussetzungen die Präimplantationsdiagnostik nach Absatz 1 nicht rechtswidrig ist. Der Rechtfertigungstatbestand nach § 3a Abs. 2 ESchG setzt nicht voraus, dass eine zustimmende Bewertung der Ethikkommission vorliegt. Wer entgegen § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG eine Präimplantationsdiagnostik vornimmt, handelt nach § 3a Abs. 4 ESchG ordnungswidrig. Daraus ergibt sich, dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG von den Strafgerichten in vollem Umfang nachzuprüfen ist (vgl. Frister/Lehmann, JZ 2012, 659 ≪661≫; Pelchen/Häberle, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Juli 2020, § 3a ESchG Rn. 7). Es ist nicht plausibel, dass demgegenüber die verwaltungsgerichtliche Kontrolle derselben unbestimmten Rechtsbegriffe eingeschränkt sein soll.
Rz. 17
bb) Es fehlt außerdem an einem hinreichend gewichtigen Sachgrund, der die Einschränkung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes rechtfertigen würde.
Rz. 18
(1) Die Anforderungen an die Gewichtigkeit des Sachgrundes sind besonders hoch, wenn es - wie hier - um einen Regelungsbereich geht, in dem verschiedene, konfligierende Rechts- und Schutzgüter von Verfassungsrang in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27. November 1990 - 1 BvR 402/87 - BVerfGE 83, 130 ≪142≫ und vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 ≪22 f.≫).
Rz. 19
Der Normgeber hat mit der Regelung des § 3a ESchG das Ziel verfolgt, die Grundrechtspositionen der betroffenen Frauen bzw. Paare und den Schutz der Embryonen in vitro zu einem verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 7). Die Gesetzesbegründung verweist auf die besondere Verantwortung des Staates für den Schutz des geborenen und ungeborenen Lebens und auf den Schutz von Embryonen vor Missbräuchen auf der einen und die Grundrechte auf selbstbestimmte Lebensgestaltung und Fortpflanzungsfreiheit auf der anderen Seite (BT-Drs. 17/5451 S. 2, 7). Die Freiheit eines Paares zur Verwirklichung des Kinderwunsches ist durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Berührt sein dürfte zudem Art. 6 Abs. 1 GG. Inmitten stehen des Weiteren das Recht der Frau auf körperliche und seelische Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und ihr Anspruch auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG; vgl. z.B. Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5210 S. 12, 28; Hufen, MedR 2001, 440 ≪442 ff.≫; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 548 ff., jeweils m.w.N.). Bei den von einer Präimplantationsdiagnostik betroffenen Embryonen in vitro kommen vor allem das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Würdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) in Betracht (Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5210 S. 12 f., 28). Das Bundesverfassungsgericht hat nicht abschließend entschieden, ob das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte menschliche Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht; es hat dies unter Verweis auf Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie aber als naheliegend bezeichnet (BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 - 2 BvF 2/90 u.a. - BVerfGE 88, 203 ≪251≫). Hiervon ist auch der Gesetzgeber des Embryonenschutzgesetzes vom 13. Dezember 1990 ausgegangen (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen, BT-Drs. 11/5460 S. 6). Weite Teile des Schrifttums nehmen ebenfalls an, dass der grundrechtliche Schutz des Embryos bereits mit der Befruchtung der Eizelle einsetzt (vgl. zum Meinungsstand Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 26 ff.; Murswiek/Rixen, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 143 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 2 Abs. 2 Rn. 24 ff.). Danach dürfte sich die staatliche Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens auch auf Embryonen in vitro erstrecken. Art und Umfang des Schutzes im Einzelnen zu bestimmen, ist Aufgabe des Gesetzgebers (vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 - 2 BvF 2/90 u.a. - BVerfGE 88, 203 ≪254≫).
Rz. 20
Der Gesetzgeber des Präimplantationsdiagnostikgesetzes hat die Abwägung zwischen den konfligierenden Grundrechtspositionen dahingehend vorgenommen, dass er die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik eng begrenzt zugelassen hat (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 7). Gemäß § 3a Abs. 1 ESchG ist sie grundsätzlich verboten. § 3a Abs. 2 ESchG regelt, unter welchen Voraussetzungen sie ausnahmsweise nicht rechtswidrig ist. Die Zulässigkeit einer Präimplantationsdiagnostik setzt darüber hinaus die Einhaltung des in § 3a Abs. 3 Satz 1 ESchG normierten Verfahrens voraus. Den Ethikkommissionen sind gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG Entscheidungsbefugnisse in einem - wie gezeigt - besonders grundrechtssensiblen Bereich zugewiesen.
Rz. 21
(2) Es ist kein tragfähiger Sachgrund ersichtlich, der die Einräumung eines Beurteilungsspielraums für die Ethikkommissionen in diesem grundrechtssensiblen Bereich rechtfertigen könnte (ebenso Huber/Lindner, MedR 2016, 502 ___LT_Å_GT___; Frister/Lehmann, JZ 2012, 659 ≪661≫; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG, 2. Aufl. 2014, § 3a Rn. 62; a.A. Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 3a ESchG Rn. 22).
Rz. 22
(2.1) Er lässt sich nicht schon deshalb bejahen, weil nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG mit den interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik ein mit besonderer Sachkunde ausgestattetes Gremium zur Entscheidung berufen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 2019 - 6 C 18.18 - BVerwGE 167, 33 Rn. 19).
Rz. 23
(2.2) Ein verwaltungsbehördlicher Beurteilungsspielraum kann vor allem gerechtfertigt sein, wenn das gesetzlich vorgegebene Entscheidungsprogramm vage ist und sich seine fallbezogene Anwendung als besonders schwierig und komplex erweist, weil eine Vielzahl von Bewertungsfaktoren ermittelt, gewichtet und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden müssen, wofür zudem schwer kalkulierbare Prognosen angestellt werden müssen, oder wenn sich die Entscheidung einer Steuerung durch ein abstrakt-generelles Regelwerk weitgehend entzieht, weil sie von individuellen Einschätzungen und Erfahrungen geprägt ist (BVerwG, Urteile vom 24. November 2010 - 6 C 16.09 - BVerwGE 138, 186 Rn. 42, vom 14. Oktober 2015 - 6 C 17.14 - BVerwGE 153, 129 Rn. 35 und vom 30. Oktober 2019 - 6 C 18.18 - BVerwGE 167, 33 Rn. 15). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Dass die in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG genannten Tatbestandsmerkmale der schwerwiegenden Erbkrankheit und des hohen Risikos auslegungsbedürftig sind, rechtfertigt nicht die Annahme eines Beurteilungsspielraums. Die Begriffe lassen sich mit den herkömmlichen juristischen Methoden hinreichend sicher auslegen (vgl. nachstehend unter 5.). Die Prüfung der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG erreicht auch nicht eine Schwierigkeit oder Komplexität, die die Erkenntnisfähigkeit der Verwaltungsgerichte übersteigt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Gerichte die Aufgabe, die entscheidungsrelevanten tatsächlichen Umstände festzustellen und rechtlich zu würdigen, nicht bewältigen könnten. Sie können auf die im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 PIDV) sowie die Sachkunde der vorbefassten Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik zurückgreifen (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 3, § 6 Abs. 2 Satz 1 PIDV). Erforderlichenfalls können sie sich zusätzlicher sachverständiger Hilfe bedienen (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Mai 2009 - 2 C 33.08 - BVerwGE 134, 108 Rn. 11 und vom 25. Juli 2013 - 2 C 12.11 - BVerwGE 147, 244 Rn. 25).
Rz. 24
4. Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, schwerwiegend im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG seien nur Erbkrankheiten, die den Schweregrad der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne erreichten. Das ist mit Bundesrecht nicht vereinbar.
Rz. 25
a) Der Begriff der Erbkrankheiten im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG, der sich an dem allgemein anerkannten Stand der Gendiagnostik ausrichtet, erfasst insbesondere monogen bedingte Erkrankungen (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 8). Davon ist auch der Verwaltungsgerichtshof ausgegangen.
Rz. 26
b) Anders als von ihm angenommen, lässt sich aus der Vorschrift des § 3 ESchG über die verbotene Geschlechtswahl und der dortigen Einstufung der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne als schwerwiegende geschlechtsgebundene Erbkrankheit nicht ableiten, dass der Schweregrad der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne auch Maßstab für die Bewertung einer Erbkrankheit als schwerwiegend im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist.
Rz. 27
aa) Dagegen spricht bereits der unterschiedliche Wortlaut der beiden Regelungen.
Rz. 28
Gemäß § 3 ESchG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer es unternimmt, eine menschliche Eizelle mit einer Samenzelle künstlich zu befruchten, die nach dem in ihr enthaltenen Geschlechtschromosom ausgewählt worden ist (Satz 1). Dies gilt nicht, wenn die Auswahl der Samenzelle durch einen Arzt dazu dient, das Kind vor der Erkrankung an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder einer ähnlich schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheit zu bewahren, und die dem Kind drohende Erkrankung von der nach Landesrecht zuständigen Stelle als entsprechend schwerwiegend anerkannt worden ist (Satz 2). In § 3 ESchG bezieht sich der Begriff "schwerwiegend" mithin nur auf geschlechtsgebundene Erbkrankheiten. In § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG bezieht er sich dagegen ohne Einschränkung auf Erbkrankheiten.
Rz. 29
Die Formulierung "ähnlich schwerwiegende[n] geschlechtsgebundene[n] Erbkrankheit" in § 3 Satz 2 ESchG nimmt Bezug auf die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Damit ist eindeutig bestimmt, dass der Schweregrad dieser Erkrankung Maßstab ist für die Einstufung einer geschlechtsgebundenen Erbkrankheit als schwerwiegend im Sinne des § 3 ESchG. Im Unterschied dazu benennt § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG keinen maßstabgebenden Bezugspunkt für den Begriff "schwerwiegende Erbkrankheit". Hätte der Schweregrad der geschlechtsgebundenen Erkrankung Muskeldystrophie vom Typ Duchenne auch für die Erbkrankheiten im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG maßgeblich sein sollen, hätte nahegelegen, dies im Wortlaut der Norm klar zum Ausdruck zu bringen.
Rz. 30
bb) Auch die Gesetzesmaterialien stützen die vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Auslegung nicht.
Rz. 31
In der Gesetzesbegründung zu § 3a ESchG heißt es unter "B. Einzelbegründung" einleitend: "Eine Einfügung der Bestimmung nach § 3 empfiehlt sich wegen einer Vergleichbarkeit der Regelungsinhalte: § 3 Satz 2 lässt aus schwerwiegenden genetischen Gründen eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot des Satzes 1 zu, eine Samenzelle für die künstliche Befruchtung nach dem Geschlecht auszuwählen; § 3a will aus entsprechenden Gründen - allerdings für den Fall einer Nichtimplantation bereits befruchteter Eizellen - eine begrenzte Ausnahme vom grundsätzlichen Schutz der Embryonen regeln." (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 8 ≪zu Nummer 1≫). Danach sieht der Normgeber die Vorschriften als vergleichbar an, weil beide als Verbotsregelung mit Ausnahmetatbeständen formuliert sind und weil in beiden Fällen nur aus schwerwiegenden genetischen Gründen eine Ausnahme von dem jeweiligen Verbot zugelassen wird. Dass der Schweregrad der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne auch Maßstab für § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG sein soll, ergibt sich daraus nicht.
Rz. 32
Anderes lässt sich auch nicht aus der Begründung zu § 3a Abs. 2 ESchG entnehmen. Dort heißt es: "Der Begriff 'schwerwiegende Erbkrankheit' des Kindes nimmt auf eine vom ESchG bereits in § 3 Satz 2 verwendete Formulierung Bezug." (BT-Drs. 17/5451 S. 8 ≪zu Absatz 2≫). Zwar könnte das bei isolierter Betrachtung auch dahin verstanden werden, dass der Gesetzgeber mit der begrifflichen Anknüpfung an § 3 Satz 2 ESchG eine inhaltliche Gleichsetzung zum Ausdruck bringen wollte. Die nachfolgende Erläuterung in der Gesetzesbegründung erhellt jedoch, dass der Normgeber mit der in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG verwendeten Formulierung "schwerwiegende Erbkrankheit" ein eigenständiges Begriffsverständnis verbindet. Danach sind Erbkrankheiten insbesondere schwerwiegend, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden. Die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne wird im Kontext dieser Definition - wie auch im sonstigen Begründungstext - nicht genannt. Zudem werden in der Gesetzesbegründung die beiden Voraussetzungen "geringe Lebenserwartung" und "schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit" in ein Alternativverhältnis gestellt ("oder"). Eine Muskeldystrophie vom Typ Duchenne wird dagegen regelmäßig beide dieser Voraussetzungen erfüllen. Damit würde es zu einer Verengung des vom Normgeber vorgesehenen Anwendungsbereichs von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG führen, wäre der Maßstab - wie der Verwaltungsgerichtshof meint - im Typ Duchenne zu sehen. All das spricht gegen die Annahme, schwerwiegend im Sinne der Regelung seien nur Erkrankungen, die mindestens den Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne aufwiesen.
Rz. 33
cc) Gegen eine Übertragung der in § 3 Satz 2 ESchG konkret benannten Erkrankung als Maßstab für den nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG erforderlichen Schweregrad der Erbkrankheit spricht zudem der unterschiedliche Regelungszweck der beiden Normen. § 3 ESchG regelt das Verbot, eine Samenzelle für die künstliche Befruchtung nach dem Geschlecht auszuwählen. Eine gezielte Festlegung des Geschlechts des künftigen Kindes ist danach grundsätzlich unzulässig und nur in sehr eng umgrenzten Ausnahmefällen erlaubt. Der Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen hatte zunächst vorgesehen, die Auswahl der Samenzelle zuzulassen, wenn sie dazu dient, eine schwerwiegende geschlechtsgebundene Erbkrankheit des Kindes zu vermeiden (BT-Drs. 11/5460 S. 10). Im Gesetzgebungsverfahren ist die Ausnahmeregelung durch Einfügung der Erkrankung Muskeldystrophie Typ Duchenne als Maßstab für den erforderlichen Schweregrad präzisiert worden. Die Änderung wurde damit begründet, dass sie die Ausnahmen von der sonst verbotenen Geschlechtswahl deutlich eingrenze (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu ≪u.a.≫ dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen, BT-Drs. 11/8057 S. 15).
Rz. 34
Die Vorschrift des § 3a ESchG hat einen anders gelagerten Schutz- und Regelungszweck. Sie dient dem Ziel, die gesetzliche Grundlage für eine begrenzte Anwendung des medizinischen Verfahrens der Präimplantationsdiagnostik zu schaffen. In Ausnahmefällen soll die genetische Untersuchung von Zellen eines Embryos in vitro zulässig sein, um besonders schwere Erbkrankheiten und Chromosomenanomalien erkennen und gegebenenfalls durch eine Nichtimplantation des betroffenen Embryos die Weitergabe der Erkrankung an das Kind verhindern zu können (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 2 f.). Das grundsätzliche Verbot der Präimplantationsdiagnostik bezweckt den Schutz der Embryonen in vitro vor Missbräuchen und soll medizinischen wie ethischen Bedenken hinsichtlich der Anwendung der Diagnostik Rechnung tragen. Mit der begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG sollen Frauen bzw. Paare mit Kinderwunsch vor schweren körperlichen und seelischen Belastungen geschützt werden, die entstehen können, weil eines der oder beide Elternteile die genetische Disposition für eine schwerwiegende Erkrankung aufweisen und das hohe Risiko besteht, dass sie diese Erkrankung an ihr Kind weitergeben (BT-Drs. 17/5451 S. 2, 7). Auf eine Auflistung von Krankheiten als Indikation für eine zulässige Präimplantationsdiagnostik hat der Gesetzgeber bewusst verzichtet. Über jeden Fall soll einzeln entschieden werden (BT-Drs. 17/5451 S. 7). Dieses Regelungsziel wird verfehlt, wenn die in § 3 Satz 2 ESchG genannte Referenzerkrankung zum Maßstab für den erforderlichen Schweregrad der Erbkrankheiten im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG gemacht wird.
Rz. 35
dd) Die beiden Regelungen weichen zudem in der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung voneinander ab. § 3 ESchG sieht kein gesondertes Verwaltungsverfahren vor, in dem vor Durchführung der betreffenden künstlichen Befruchtung das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 Satz 2 ESchG geprüft wird. Es ist lediglich bestimmt, dass die dem Kind drohende Erkrankung von der nach Landesrecht zuständigen Stelle als entsprechend schwerwiegend anerkannt worden sein muss (§ 3 Satz 2 Halbs. 2 ESchG). Es lag deshalb nahe, zur Konkretisierung des Ausnahmetatbestandes eine Referenzerkrankung zu benennen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu ≪u.a.≫ dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen, BT-Drs. 11/8057 S. 15). Demgegenüber bestimmt § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG, dass vor Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik die Einhaltung der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG in einem Verwaltungsverfahren zu prüfen ist und überträgt die Verwaltungsentscheidung einem Gremium mit besonderer fachlicher Legitimation. Auch dieser Unterschied spricht gegen eine inhaltliche Gleichsetzung des Begriffs "schwerwiegend" in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG mit dem Schweregrad der in § 3 Satz 2 ESchG benannten Muskeldystrophie Typ Duchenne.
Rz. 36
ee) Für das Auslegungsergebnis des Verwaltungsgerichtshofs streitet auch nicht das Argument, mit der Anknüpfung an den Begriff "schwerwiegend" in § 3 Satz 2 ESchG ließen sich verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Normbestimmtheit ausräumen. Die Regelung des § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG genügt auch ohne diese Anknüpfung den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots aus Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 2 GG.
Rz. 37
Nach dem aus dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Bestimmtheitsgebot sind Rechtsvorschriften so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Dabei darf sich der Gesetzgeber in gewissem Umfang auch unbestimmter Rechtsbegriffe bedienen, solange ihnen mit den herkömmlichen Methoden der Auslegung ein fassbarer Inhalt gegeben werden kann (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 7. Oktober 1988 - 7 C 65.87 - BVerwGE 80, 270 ≪275 f.≫, vom 12. Mai 1999 - 6 C 14.98 - BVerwGE 109, 97 ≪102≫, vom 21. Juni 2017 - 6 C 4.16 [ECLI:DE:BVerwG:2017:210617U6C4.16.0] - BVerwGE 159, 171 Rn. 10 und vom 24. Januar 2019 - 3 C 7.17 [ECLI:DE:BVerwG:2019:240119U3C7.17.0] - BVerwGE 164, 253 Rn. 23, jeweils m.w.N.). Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit oder Bußgeldbewehrung so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Das schließt die Verwendung von Begriffen, die der Deutung durch den Richter bedürfen, nicht aus. Auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht bestehen gegen die Verwendung unbestimmter Begriffe keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. April 2010 - 7 C 9.09 - juris Rn. 34 und vom 29. Februar 2012 - 9 C 8.11 - BVerwGE 142, 84 Rn. 16, jeweils m.w.N.). Danach erweist sich die Regelung des § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG als hinreichend bestimmt, weil die Rechtsbegriffe des "hohen Risikos" und der "schwerwiegenden Erbkrankheit" im Wege der Auslegung konkretisiert werden können (dazu nachstehend unter 5.).
Rz. 38
5.a) Über das Vorliegen der Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 ESchG ist in jedem Einzelfall gesondert zu entscheiden. Das entspricht - wie gezeigt - dem Willen des Gesetzgebers und findet seinen Niederschlag in den Bestimmungen der Präimplantationsdiagnostikverordnung über das Verfahren zur Beantragung einer Präimplantationsdiagnostik (§ 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG i.V.m. § 5 f. PIDV). Danach wird die Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik zur Prüfung und Bewertung nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG nur auf schriftlichen Antrag der Frau tätig, von der die Eizelle stammt (§ 5 Abs. 1 PIDV). Der Antrag hat alle Angaben und Unterlagen zu enthalten, die die Ethikkommission für die Prüfung des Vorliegens der in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen benötigt (§ 5 Abs. 2 Satz 1 PIDV). Das sind in den Fällen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG insbesondere ein ärztlich-humangenetischer Befund über die genetische Disposition der Frau, von der die Eizelle stammt, oder des Mannes, von dem die Samenzelle stammt, oder von beiden, einschließlich der Bezeichnung der daraus hervorgehenden Erbkrankheit, sowie Angaben zur Erkrankungswahrscheinlichkeit der Nachkommen und zu der zu erwartenden Krankheitsausprägung (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 PIDV). Die Ethikkommission kann sich zur Prüfung des Antrags und der dafür eingereichten Unterlagen zusätzlich der in § 6 Abs. 2 Satz 1 PIDV benannten Erkenntnismittel bedienen. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, sich die notwendige Expertise zur Beurteilung des konkreten Einzelfalls zu verschaffen und zu fundierten Bewertungen zu gelangen (vgl. Begründung zur Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BR-Drs. 717/12 S. 30). Gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV hat die Ethikkommission ihre Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte zu treffen.
Rz. 39
b) Der Wortlaut des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG gibt keinen näheren Aufschluss über die Voraussetzungen, die die Einstufung einer Erbkrankheit als schwerwiegend im Sinne der Norm rechtfertigen. Der erforderliche Schweregrad wird dort nicht konkretisiert. Die Zusammenschau mit der in § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG geregelten zweiten Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der Präimplantationsdiagnostik erhellt, dass die Ausnahme des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG nicht auf Erkrankungen beschränkt ist, die zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen können. Gemäß § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG handelt nicht rechtswidrig, wer eine Präimplantationsdiagnostik mit schriftlicher Einwilligung der Frau, von der die Eizelle stammt, zur Feststellung einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos vornimmt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird. § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG sieht keine entsprechende tatbestandliche Begrenzung vor.
Rz. 40
Den Gesetzesmaterialien kann entnommen werden, dass § 3a ESchG die Grundlage für eine eng begrenzte Anwendung der Präimplantationsdiagnostik schaffen soll. Die Diagnostik soll nur in "Ausnahmefällen" bzw. "in eng definierten Fällen" zulässig sein (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 3, 7). Weiter heißt es zu den in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG geregelten Fällen, dass es sich um eine "besonders schwere" Erbkrankheit handeln muss (BT-Drs. 17/5451 S. 7; s.a. S. 2 ≪"Weitergabe von besonders schweren Erkrankungen"≫). Die Gesetzesbegründung konkretisiert den Begriff "schwerwiegend" - wie bereits gezeigt - dahin, dass das Merkmal insbesondere erfüllt ist, wenn sich die Erbkrankheit durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheidet (BT-Drs. 17/5451 S. 8). Damit hat der Normgeber vor allem Erbkrankheiten in den Blick genommen, die sich bereits im (frühen) Kindesalter manifestieren, zu schweren Störungen der körperlichen und/oder kognitiven Entwicklung oder sogar zu einem frühzeitigen Versterben der betroffenen Kinder führen können sowie unheilbar oder nur schlecht behandelbar sind (vgl. BT-Drs. 17/5451 S. 2: "Es sind vor allem solche Paare, die bereits ein schwer krankes, vielleicht schon verstorbenes Kind haben..."). Darauf ist der Anwendungsbereich des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG aber nicht beschränkt. Die Kriterien "geringe Lebenserwartung" und "Schwere des Krankheitsbildes" werden alternativ und nicht kumulativ genannt. Auch im Übrigen geht aus den Gesetzesmaterialien nicht hervor, dass schwere Erbkrankheiten, die sich jenseits des Kindesalters manifestieren, die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG nicht erfüllen können (BT-Drs. 17/5451 und 17/6400; vgl. auch Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5210 S. 27, 31 f.: Die Empfehlung, die PID bei spätmanifestierenden Krankheiten zu verbieten, hat weder in der Regelung des § 3a ESchG noch in der Gesetzesbegründung einen Niederschlag gefunden).
Rz. 41
c) Maßgeblich für die Beurteilung der Schwere einer Erbkrankheit ist die im konkreten Einzelfall aufgrund der genetischen Disposition eines der beider Elternteile zu erwartende Krankheitsausprägung bei den Nachkommen. Ist danach fraglich, ob die Erbkrankheit bereits wegen der nach der genetischen Disposition jedenfalls eines Elternteils zu erwartenden Krankheitsausprägung bei den Nachkommen als schwerwiegend einzustufen ist, sind auch mit der genetischen Disposition in Zusammenhang stehende weitere Belastungen der betroffenen Frau bzw. des Paares zu berücksichtigen.
Rz. 42
aa) Nach der Formulierung des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist die mögliche Erbkrankheit des Kindes Bezugspunkt für den zu beurteilenden Schweregrad. Erforderlich ist eine medizinische Indikation, aus der sich ergibt, dass die Krankheit zu schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen bei den Nachkommen führen kann. Grundlage für die Beurteilung der Schwere der zu erwartenden Krankheitsausprägung sind alle krankheitsbezogenen Faktoren, wie insbesondere Art und Schwere des Krankheitsbildes, Zeitpunkt der Manifestation von Krankheitssymptomen (Kindes-/Jugend-/Erwachsenenalter), Krankheitsverlauf, Behandelbarkeit der Erkrankung und Lebenserwartung.
Rz. 43
bb) Ist danach fraglich, ob die Erbkrankheit hinreichend schwer wiegt, um die Vornahme der beantragten Präimplantationsdiagnostik rechtfertigen zu können, sind auch weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die mit der betreffenden genetischen Disposition in Zusammenhang stehen.
Rz. 44
(1) Ein Regelungszweck der begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ist - wie gezeigt - die Abwendung schwerer Belastungen insbesondere von den betroffenen Frauen, aber auch den Paaren oder Familien insgesamt. Der Gesetzgeber des Präimplantationsdiagnostikgesetzes hatte vor allem die Konfliktlage von Paaren mit einer genetischen Disposition für eine schwerwiegende Erbkrankheit im Blick, die bereits ein schwer krankes, vielleicht schon verstorbenes Kind haben oder bei denen die Frau nach einer Pränataldiagnostik und ärztlichen Beratung einen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 2 StGB hat vornehmen lassen (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5451 S. 2, 7). Das weist darauf hin, dass diese Gesichtspunkte bei der Prüfung des in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG genannten Merkmals "schwerwiegend" Berücksichtigung finden sollen. Das Gleiche gilt für ähnlich schwere Belastungen des Paares, die mit der genetischen Disposition in Zusammenhang stehen, wie etwa der Umstand, dass ein Elternteil selbst erkrankt ist.
Rz. 45
(2) Der Wortlaut des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG steht dieser Auslegung nicht entgegen. Aus ihm lässt sich kein Verbot ableiten, belastende Umstände der genannten Art in die Beurteilung der Schwere der Erbkrankheit einzubeziehen. Da sie ihre Ursache in der genetischen Disposition eines der oder beider Elternteile haben, findet ihre Berücksichtigung eine ausreichende Stütze in der Gesetzesformulierung. Sie weisen ebenfalls den erforderlichen Krankheitsbezug auf. Denn sie betreffen schwere körperliche oder seelische Belastungen, die die Erbkrankheit für die Betroffenen entweder schon mit sich gebracht hat oder die zukünftig noch zu erwarten sind.
Rz. 46
(3) Dass bei der Beurteilung der Schwere der Erbkrankheit zusätzlich zu den medizinischen Auswirkungen der Erkrankung für die Nachkommen auch weitere, mit der genetischen Disposition in Zusammenhang stehende Gesichtspunkte berücksichtigungsfähig sind, erlaubt nicht den Schluss, dass im Fall ihres Nichtvorliegens die Einstufung der betroffenen Erbkrankheit als schwerwiegend ausgeschlossen ist. Vielmehr kann und muss dann allein anhand der zu erwartenden Krankheitsausprägung bei den Nachkommen geprüft werden, ob die Erbkrankheit schwerwiegend im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist.
Rz. 47
(4) Aus § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV ergibt sich nichts Anderes. Danach haben die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik ihre Entscheidung über das Vorliegen der in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen "unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte" zu treffen. Die Formulierung ist im Einklang mit § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG auszulegen. In den Verordnungsmaterialien heißt es, in der Regel bedürfe es auch der Einbeziehung des familiären Hintergrunds des betroffenen Paares, weil sich die Einstufung einer Erbkrankheit als schwerwiegend selten aus der Diagnose allein ergebe (vgl. BR-Drs. 717/1/12 S. 8). Damit reicht die in § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV vorgesehene Einbeziehung psychischer, sozialer und ethischer Gesichtspunkte inhaltlich nicht über die gesetzliche Bestimmung des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG hinaus. Da sich die Berücksichtigungsfähigkeit der familiären Situation des Paares - wie gezeigt - bereits aus § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ergibt, unterliegt die diesen Regelungsgehalt bloß wiederholende Verordnungsformulierung im Lichte von § 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG, Art. 80 Abs. 1 GG keinen Bedenken (vgl. Pestalozza, MedR 2013, 343 ≪347≫).
Rz. 48
d) Der Verwaltungsgerichtshof hat zutreffend angenommen, dass das von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG verlangte "hohe Risiko" bei monogenen Erbkrankheiten bejaht werden kann, wenn für die Nachkommen eine Erkrankungswahrscheinlichkeit von 25 bis 50 Prozent (und mehr) besteht. Diese Auslegung wird durch die Gesetzesmaterialien gestützt. In der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik heißt es, bezüglich der betreffenden Krankheit müsse bei dem Paar ein hohes genetisches Risiko vorliegen. Dies sei eine hohe Wahrscheinlichkeit, die vom üblichen Risiko der Bevölkerung in Deutschland wesentlich abweiche. Die Eintrittswahrscheinlichkeit sei nach den Gesetzlichkeiten der Übertragbarkeit und Kombination erblicher Anlagen genetisch einzuschätzen. Eine Wahrscheinlichkeit von 25 bis 50 Prozent werde als hohes Risiko bezeichnet (BT-Drs. 17/5451 S. 8; vgl. zu den monogen vererbten Krankheitsanlagen auch: Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik, BT-Drs. 17/5210 S. 5 f.). Gemäß § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG muss das "hohe Risiko" nicht auf einer genetischen Disposition beider Partner beruhen, sondern kann sich auch aus der genetischen Disposition eines Elternteils ergeben (vgl. auch BT-Drs. 17/5451 S. 8).
Rz. 49
Die Vorgabe einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 25 Prozent dürfte nicht als eine starre Untergrenze zu verstehen sein. Die im Gesetzentwurf zunächst vorgesehene Formulierung "hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit" wurde im weiteren Gesetzgebungsverfahren durch die Formulierung "hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit" ersetzt. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, die Erkrankungswahrscheinlichkeit des Kindes sei in bestimmten genetischen Fallkonstellationen wie zum Beispiel balancierten Translokationen nur schwer prozentual erfassbar. Das betroffene Elternteil sei selbst nicht erkrankt. Es bestehe aber ein erhöhtes Risiko, Nachkommen mit einer unbalancierten Translokation und damit einer sehr schwerwiegenden Erkrankung zu zeugen (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drs. 17/6400 S. 14). Daraus kann abgeleitet werden, dass gegebenenfalls auch bei einem Risiko für eine schwerwiegende Erbkrankheit, das sich nicht mit mindestens 25 Prozent beziffern lässt, die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG erfüllt sein können. Das Risiko erweist sich in einem solchen Fall als ein "hohes", wenn es vom üblichen Risiko der Bevölkerung wesentlich abweicht (s.o.).
Rz. 50
6. Danach hat die Klägerin gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG, § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV einen Anspruch darauf, dass die Bayerische Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik ihren Antrag auf Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik zustimmend bewertet. Die Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG sind in ihrem Fall erfüllt. Dies lässt sich anhand der vom Verwaltungsgerichtshof getroffenen Tatsachenfeststellungen und weiterer Sachverhaltsumstände, die sich aus den Akten ergeben, abschließend beurteilen. Der Senat kann deshalb in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Rz. 51
a) Nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen besteht aufgrund der genetischen Disposition des Partners der Klägerin eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent und damit ein hohes Risiko, dass ihre Nachkommen an der klassischen Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 erkranken. Die Myotone Dystrophie Typ 1 ist eine monogen bedingte Erkrankung und somit eine Erbkrankheit im Sinne von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG.
Rz. 52
b) Die Krankheit rechtfertigt unter den hier gegebenen Umständen ihre Einstufung als schwerwiegend.
Rz. 53
aa) Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs handelt es sich um eine multisystemische Erkrankung, die neben der Skelettmuskulatur auch glatte Muskulatur, Auge, Herz, den Hormonhaushalt und das Zentralnervensystem betreffen kann. Im Bereich der Skelettmuskulatur führt sie zu einer Muskelschwäche und abnormen Muskelentspannbarkeit. Betroffen sind hauptsächlich die Gesichtsmuskeln, der Nackenbeuger sowie die distale Muskulatur der Extremitäten (Unterarme und Hände, Unterschenkel und Füße). Im Bereich des Herzens kann sich die Erkrankung in Form von Herzrhythmusstörungen und seltener in einer Herzmuskelschwäche (Kardiomyopathie) äußern. Am Auge entwickelt sich häufig eine Linsentrübung (Katarakt, Grauer Star). Hormonelle Störungen können sich z.B. in einem Diabetes mellitus zeigen. Typisch für die Erkrankung ist, dass die Patienten im Krankheitsverlauf an einer vermehrten Tagesmüdigkeit leiden (UA Rn. 101). Bei der klassischen Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 (200 bis 1 000 Repeats) manifestieren sich die ersten Krankheitssymptome in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter. Die Erkrankung verläuft progredient und führt bei den Betroffenen zu erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen und Beeinträchtigungen in der Lebensgestaltung. Sie haben zudem eine geringere Lebenserwartung. Sie müssen damit rechnen, dass sie (nur) das fortgeschrittene Erwachsenenalter erreichen (UA Rn. 105; vgl. auch die Feststellung im erstinstanzlichen Urteil, UA S. 14: "... zu einer geringeren Lebenserwartung von durchschnittlich 52-54 Jahren führt"). Diese nicht mit einer Verfahrens- oder Gegenrüge angegriffenen tatsächlichen Feststellungen sind für das Revisionsverfahren verbindlich (§ 137 Abs. 2 VwGO).
Rz. 54
bb) Ob bereits aufgrund dieser erwartbaren Krankheitsausprägung bei den Nachkommen der Klägerin und ihres Partners von einer schwerwiegenden Erbkrankheit auszugehen ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Die Voraussetzung ist jedenfalls erfüllt, weil im Fall der Klägerin erschwerend hinzukommt, dass ihr Partner selbst deutliche Symptome der Erkrankung zeigt. Das lässt sich den von ihr bei der Ethikkommission eingereichten Unterlagen entnehmen und ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Rz. 55
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Fundstellen
BVerwGE 2021, 273 |
DÖV 2021, 550 |
JZ 2020, 688 |
JZ 2021, 210 |
MedR 2021, 826 |
DVBl. 2021, 869 |
GesR 2021, 244 |
Jura 2021, 865 |
medstra 2021, 10 |
medstra 2021, 2 |
medstra 2021, 239 |