Verfahrensgang
OVG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 27.08.1997; Aktenzeichen A 3 S 271/96) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 27. August 1997 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der vorliegende Erstattungsstreit betrifft die Frage, ob und unter welchen Umständen Spätaussiedler in einem Übergangswohnheim einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 107 BSHG begründen können.
Im Juni 1993 reisten das Ehepaar F. sowie die mit ihm verwandten Familien F. und L. als Spätaussiedler bzw. deren Angehörige aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie erhielten vorläufige Unterkunft in einem Übergangswohnheim in der dem Beklagten angehörigen Stadt Ste. Ferner bezogen sie ab diesem Zeitpunkt Sozialhilfeleistungen vom Beklagten. Am 1. Juli 1994 verzogen sie in die dem Kläger angehörige Stadt Sta. Dort erhielten sie Sozialhilfe vom Kläger.
Mit Schreiben vom 3. November 1994 machte der Kläger gegenüber dem Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch nach § 107 BSHG im Hinblick auf die erbrachten Sozialhilfeleistungen geltend. Im November 1995 hat er Klage auf Erstattung der für die drei Aussiedlerfamlien aufgewendeten Sozialhilfeleistungen erhoben.
Das Verwaltungsgericht hat einen Kostenerstattungsanspruch verneint, da die betroffenen Personen keinen erstattungsrechtlich relevanten gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Beklagten begründet hätten. Es seien keine erkennbaren Umstände gegeben, die den Rückschluß zuließen, daß die miteinander verwandten Familien vorgehabt hätten, bis auf weiteres – und nicht nur vorübergehend – im Bereich des Beklagten zu verweilen und dort den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu begründen bzw. aufzubauen. Es sei davon auszugehen, daß von ihnen nur ein übergangsmäßiger Aufenthalt vorgesehen bzw. zwangsläufig in Kauf genommen worden sei.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht der Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils stattgegeben und dazu im wesentlichen ausgeführt:
Für die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in § 107 BSHG sei die Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I heranzuziehen. Die hier betroffenen Personen hätten in dem Übergangswohnheim ihren „gewöhnlichen Aufenthalt” im Sinne dieser Vorschrift begründet gehabt. Im Zeitpunkt der Aufenthaltsbegründung sei nicht absehbar gewesen, wann sie das Wohnheim wieder verlassen würden; die ihnen dort zugewiesenen Räume hätten ihnen als Wohnung dienen sollen. Bei dieser Sachlage habe es sich um einen Aufenthalt „bis auf weiteres” gehandelt. Subjektive Vorstellungen der Spätaussiedler stünden dem ebensowenig entgegen wie der Umstand, daß den Betroffenen keine andere Wahl geblieben sei, als sich bis auf weiteres in dem Übergangswohnheim aufzuhalten. Infolge der längeren Aufenthaltsdauer von im vorliegenden Fall neun bis zwölf Monaten hätten sich die im Zeitpunkt des Einzugs bestehenden Vorstellungen und Erwartungen bestätigt, denen zufolge es sich nicht um einen lediglich vorübergehenden Aufenthalt handeln würde. Auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Unterbringung von Aussiedlern und Spätaussiedlern in Übergangswohnheimen nach Maßgabe des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler und Übersiedler vom 6. Juli 1989 (VWG) ergebe sich kein anderes Ergebnis. Ein „Verziehen” im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG sei ebenfalls anzunehmen, da die in Rede stehenden Spätaussiedlerfamilien die Übergangsunterkunft mit ihrer gesamten Habe verlassen und wenige Tage später Mietwohnungen (im Zuständigkeitsbereich des Klägers) bezogen hätten.
Mit der vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Er rügt eine Verletzung des § 107 BSHG. Zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne dieser Vorschrift sei § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I unanwendbar. Deshalb spielt nicht die Verweildauer an einem bestimmten Ort, sondern die Willenskomponente die entscheidende Rolle. Dies entspreche der Rechtsprechung auch des Bundessozialgerichts (BSGE 26, 277 und Urteil vom 28. Juli 1977 – 4 RJ 201/66 –). Die entgegengesetzte Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 18. März 1999 – BVerwG 5 C 11.98 – NDV-RD 1999, 73 = DVBl 1999, 1126) negiere die freie Willensentscheidung des Spätaussiedlers, sich an einem Ort seines Willens aufzuhalten, führe auch zu einer überproportionalen Belastung des verpflichteten Landkreises, welcher ein Übergangswohnheim zu betreiben hat, und lasse unberücksichtigt, daß § 107 BSHG nach Sinn, Zweck und Entstehungsgeschichte ausschließen solle, daß Sozialhilfekosten durch Abschieben von Hilfeempfängern auf eine andere Gemeinde abgewälzt werden.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Oberbundesanwalt unterstützt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und dem Bundesministerium des Innern die Auffassung des Berufungsgerichts.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Beklagten, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat den Beklagten ohne Verstoß gegen Bundesrecht als nach § 107 BSHG kostenerstattungspflichtig angesehen.
Verzieht eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes, so ist gemäß der „Kostenerstattung bei Umzug” betreffenden Regelung des § 107 Abs. 1 BSHG in der Fassung des Art. 7 Nr. 26 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms – FKPG – vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) der Sozialhilfeträger des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf.
1. Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in § 107 BSHG ist die Vorinstanz zu Recht von der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ausgegangen und hat es rechtsfehlerfrei, auch auf die lange Dauer des Aufenthalts der Spätaussiedlerfamilien in dem Übergangswohnheim abstellend, für die Annahme eines „gewöhnlichen Aufenthalts” genügen lassen, daß der Betreffende sich am dem Ort oder in dem Gebiet „bis auf weiteres” im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Die allgemein anerkannte rechtliche Bewertung eines Aufenthalts „bis auf weiteres” als gewöhnlicher Aufenthalt im Rechtssinne (vgl. etwa Mergler/Zink, BSHG, 4. Aufl., Stand Juli 1998, § 103 Rn. 34 b, 35, 37; Schellhorn/Jirasek/Seipp; BSHG, 15. Aufl. 1997, § 97 Rn. 28; Knopp/Fichtner, BSHG 7. Aufl. 1992, § 103 Rn. 12, 17; Mrozynksi, SGB I, 2. Aufl. 1995, § 30 Rn. 20) wird auch vom Beklagten nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Er wendet gegen die hieraus gezogene und in dem Urteil des Senats vom 18. März 1999 (a.a.O.) im einzelnen dargelegte Schlußfolgerung, daß auch in einem Übergangswohnheim ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne eines Aufenthalts „bis auf weiteres” begründet werden kann, im wesentlichen nur ein, daß hierbei die subjektive Willensseite des Spätaussiedlers „unzureichend” berücksichtigt worden sei.
Dieser Einwand gibt dem Senat keine Veranlassung, von seinem oben genannten Rechtsstandpunkt abzurücken. Wenn der Senat in jener Entscheidung unbeanstandet gelassen hat, „daß die Vorinstanz entscheidungstragend auf das objektive Moment der (in jenem Fall) über ein Jahr währenden Aufenthaltsdauer in dem Übergangswohnheim abgestellt und die Wünsche, Pläne oder Vorstellungen der Familie … im Zeitpunkt der Aufenthaltsbegründung nicht konkret gewürdigt bzw. ermittelt hat” (S. 8 der Urteilsausfertigung), so hat er hierbei entscheidungstragend darauf abgehoben, daß die Fallumstände „Rückschlüsse auf einen der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in dem Übergangswohnheim entgegenstehenden Willen nicht zu(ließen)” (S. 9 oben der Urteilsausfertigung). Mit der Annahme der „rechtlichen Möglichkeit der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem Übergangswohnheim” (S. 9 Mitte der Urteilsausfertigung) ist somit nicht die Rechtserheblichkeit eines Willensmoments in Frage gestellt, sondern lediglich klargestellt worden, daß die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem Übergangswohnheim nicht – positiv – voraussetzt, „daß der Spätaussiedler bei Bezug der Unterkunft in dem Übergangswohnheim erklärt hat, auch nach Verlassen des Übergangswohnheims weiter am Zuweisungsort bleiben zu wollen” (S. 11 Mitte der Urteilsausfertigung).
Der Senat hat seine Auslegung von § 107 BSHG auch „unter dem Blickwinkel der Zielsetzung des Verteilung- und Zuweisungsverfahrens” sowie unter dem „Gedanken einer gleichmäßigen Lastenverteilung” vorgenommen (S. 9 unten der Urteilsausfertigung) und hierbei den „Schutz bestimmter Einrichtungsorte vor nicht gewollten finanziellen Belastungen” in seine Erwägungen einbezogen (S. 12 Mitte der Urteilsausfertigung). Diese rechtlichen Gesichtspunkte greift die Revision zwar auf, setzt sich mit der Sichtweise des Senats aber nicht weiterführend auseinander.
2. Zutreffend hat die Vorinstanz auch das Tatbestandsmerkmal des „Verziehens” im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG bzw. des „Umzugs” im Sinne der Überschrift dieser Bestimmung bejaht. Ein Umzug ist dann anzunehmen, wenn der Umziehende die bisherige Unterkunft und den gewöhnlichen Aufenthalt aufgibt und einen Aufenthaltswechsel in der Absicht vornimmt, an den bisherigen Aufenthaltsort (vorerst) nicht mehr zurückzukehren. Der Begriff bezeichnet eine Verlagerung des Mittelpunktes der Lebensbeziehungen und setzt neben der Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts am bisherigen Aufenthaltsort die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts am Zuzugsort voraus. Dies hat der Senat ebenfalls schon in seinem Urteil vom 18. März 1999 ausgeführt (S. 12/13 der Urteilsausfertigung). Zu weiteren Darlegungen besteht auch insoweit hier kein Anlaß.
Die Revision war sonach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Fundstellen
Haufe-Index 1377321 |
FEVS 2000, 385 |
ZfF 2002, 164 |