Leitsatz (amtlich)
Bestandskräftig gewordene rechtswidrige Ruhensbescheide sind nicht nur im Fall bundesverfassungsgerichtlicher Nichtigerklärungen, sondern darüber hinaus auch bei Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts in der Regel ab dem Beginn des Kalendermonats nach der Entscheidung zurückzunehmen, aufgrund der sich das bisherige Verwaltungshandeln - eindeutig - als rechtswidrig erweist.
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 13.08.2019; Aktenzeichen 14 B 18.1276) |
VG Würzburg (Urteil vom 28.03.2017; Aktenzeichen W 1 K 16.978) |
Tenor
Auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. August 2019 dahingehend geändert, dass die erneute Entscheidung über den Antrag des Klägers vom 29. Dezember 2013 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts zu erfolgen hat.
Im Übrigen werden die Revisionen zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt die Aufhebung von Bescheiden, mit denen die Beklagte das Ruhen eines Teils seines Ruhegehalts wegen Versorgungsleistungen aus einer zwischenstaatlichen Verwendung festgestellt hat.
Rz. 2
Der im Jahr 1938 geborene Kläger ist Bundesbeamter im Ruhestand. Während seiner aktiven Dienstzeit war er von März 1971 bis Juli 1983 und von Mai 1992 bis Juli 1996 bei verschiedenen NATO-Organisationen tätig. Er war hierfür von der Beklagten jeweils beurlaubt und erhielt von der NATO als Versorgung Kapitalbeträge in Höhe von insgesamt umgerechnet 111 677,86 €.
Rz. 3
Die Beklagte versetzte den Kläger mit Ablauf des 30. September 2003 in den Ruhestand. Mit Bescheid vom 3. Januar 2005 stellte sie fest, dass die Versorgungsbezüge für die Zeit ab dem 1. Oktober 2003 in Höhe von monatlich 1 198,37 € ruhen. Der Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid blieb erfolglos.
Rz. 4
Mit Schreiben vom 29. Dezember 2013 bat der Kläger um Mitteilung, ob die Beklagte die Ruhensbescheide aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von Amts wegen überprüfen werde. Dies lehnte die Beklagte ab und wies den Widerspruch hiergegen zurück.
Rz. 5
Auf die Klage des Klägers hat das Verwaltungsgericht die Beklagte antragsgemäß verpflichtet, über den Antrag des Klägers vom 29. Dezember 2013 auf Änderung der Regelung des Ruhens seiner Versorgungsbezüge unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Der Kapitalbetrag sei zwischenzeitlich aufgezehrt worden und es fehle an einer gesetzlichen Grundlage für seine Dynamisierung. Wegen der Aufzehrung liege eine Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null vor.
Rz. 6
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die erneute Verbescheidung des Antrags vom 29. Dezember 2013 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu erfolgen habe. Der Kläger habe einen unerfüllten Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag. Der Bescheid sei in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts beruhe dies nicht auf dem Fehlen eines Endzeitpunkts für die Ruhensregelung. Rechtswidrig seien jedoch sowohl die Dynamisierung als auch die Verrentung des Kapitalbetrags. Die mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz eingeführten Regelungen für die Verrentung seien auf den Kläger nicht anwendbar und die Verwendung der geschlechtsspezifischen Verrentungsdivisoren sei unionsrechtswidrig.
Rz. 7
Hiergegen richten sich die wechselseitigen Revisionen des Klägers und der Beklagten.
Rz. 8
Der Kläger begehrt inhaltlich weiterhin die Neubescheidung seines Antrags unter Berücksichtigung seiner Rechtsauffassung und beantragt (sinngemäß),
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 28. März 2017 zurückzuweisen und das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. August 2019 aufzuheben, soweit es dem entgegensteht, sowie die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Rz. 9
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Klage vollständig abzuweisen und das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. August 2019 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 28. März 2017 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen, sowie die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Rz. 10
Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt den Antrag der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Rz. 11
Die zulässigen Revisionen des Klägers und der Beklagten, über die der Senat in sachdienlicher Auslegung ihres Begehrens (§ 88 VwGO) und gemäß § 101 Abs. 2, § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, sind jeweils zum Teil begründet.
Rz. 12
Die für die Zulässigkeit der Revision des Klägers erforderliche Beschwer ist gegeben, weil sich die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht mit der des Klägers deckt und für ihn insoweit ungünstig ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. Dezember 1981 - 7 C 30.80 u.a. - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 157 S. 51 f., vom 30. Mai 1984 - 4 C 58.81 - BVerwGE 69, 256 ≪258≫ und vom 18. Juli 2013 - 5 C 8.12 - BVerwGE 147, 216 Rn. 11 ff.). Maßgeblich ist insoweit insbesondere, dass das Berufungsgericht den Ruhensbescheid vom 3. Januar 2005 entgegen der Rechtsauffassung des Klägers nicht wegen der Aufzehrung des Kapitalbetrags und des damit verbundenen Fehlens einer zeitlichen Begrenzung als rechtswidrig angesehen hat.
Rz. 13
Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Rz. 14
Der Kläger hat einen Anspruch aus § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag vom 29. Dezember 2013 auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens. Der Bescheid vom 3. Januar 2005 ist bereits deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte die Kapitalbeträge des Klägers ohne ausreichende gesetzliche Grundlage dynamisiert und für die Zeit bis zum Ablauf des 27. März 2008 auch ohne ausreichende gesetzliche Grundlage verrentet hat (1.). Auch unter Berücksichtigung der am 28. März 2008 in Kraft getretenen gesetzlichen Grundlage für die Verrentung bleibt der Bescheid hinsichtlich der Verrentung des Kapitalbetrags rechtswidrig, weil der Regelungsinhalt des Bescheids den gemäß Art. 157 AEUV gewährleisteten Grundsatz der Entgeltgleichheit verletzt (2.). Ohne diese rechtswidrigen Grundannahmen wäre der Ruhensbetrag geringer gewesen (3.). Dass die Beklagte das teilweise Ruhen des Ruhegehalts des Klägers ohne zeitliche Begrenzung festgestellt hat, ist hingegen rechtmäßig (4.). In der Rechtsfolgeentscheidung ist das Rücknahmeermessen über das vom Verwaltungsgerichtshof angenommene Maß hinaus reduziert (5.).
Rz. 15
1. Der Bescheid vom 3. Januar 2005 ist rechtswidrig, weil die Beklagte die Kapitalbeträge des Klägers ohne ausreichende gesetzliche Grundlage dynamisiert hat. Außerdem fehlte bis zum Ablauf des 27. März 2008 die erforderliche gesetzliche Grundlage für die Verrentung des Kapitalbetrags.
Rz. 16
Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage richtet sich nach dem materiellen Recht (stRspr; vgl. BVerwG, Urteile vom 31. März 2004 - 8 C 5.03 - BVerwGE 120, 246 ≪250≫, vom 25. November 2004 - 2 C 17.03 - BVerwGE 122, 237 ≪241≫ und vom 13. Dezember 2007 - 4 C 9.07 - BVerwGE 130, 113 Rn. 10).
Rz. 17
Bei Ruhensbescheiden handelt es sich um feststellende Verwaltungsakte mit sich jeweils monatlich neu aktualisierender Wirkung, für die die im jeweiligen Monat geltende Sach- und Rechtslage maßgeblich ist. Dies folgt bereits daraus, dass das Ruhen kraft Gesetzes eintritt und Ruhensbescheide zwar zulässig, aber nicht erforderlich sind. Im Umfang des durch das Gesetz bestimmten Ruhens hat ein solcher Verwaltungsakt deshalb lediglich deklaratorische Bedeutung (BVerwG, Urteile vom 26. November 2013 - 2 C 17.12 - Buchholz 239.1 § 53 BeamtVG Nr. 27 Rn. 10 und vom 15. November 2016 - 2 C 9.15 - Buchholz 239.1 § 55 BeamtVG Nr. 30 Rn. 18 ff.). Diese Feststellung des Dienstherrn ändert nichts daran, dass sich die gesetzmäßige Höhe des Ruhensbetrags in jedem Monat aus dem in diesem Monat geltenden Recht und den jeweils vorliegenden Tatsachen ergibt.
Rz. 18
Ab dem Zeitpunkt der Zurruhesetzung des Klägers mit Ablauf des 30. September 2003 sind zunächst die Übergangsvorschriften des § 69c Abs. 5 Satz 2 und 3 des Beamtenversorgungsgesetzes (BeamtVG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3926) anzuwenden. Für Beamte, die - wie der Kläger - die Zeiten i.S.d. § 56 BeamtVG vor dem 1. Januar 1999 zurückgelegt haben, ist nach § 69c Abs. 5 Satz 2 BeamtVG 2001 § 56 BeamtVG in der bis zum 30. September 1994 geltenden Fassung anzuwenden, es sei denn, die Anwendung des § 56 BeamtVG in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung ist für den Versorgungsempfänger günstiger. Außerdem bleibt § 85 Abs. 6 BeamtVG nach § 69c Abs. 5 Satz 3 Halbs. 1 BeamtVG 2001 unberührt.
Rz. 19
§ 85 Abs. 6 BeamtVG 2001 hat keinen Einfluss auf das Ruhen des Ruhegehalts des Klägers. Sinn dieser spezielleren Übergangsvorschrift ist es, den jährlichen Satz für die zeitbezogene Berechnung des Mindestruhensbetrags im Rahmen von § 56 BeamtVG an den sich aus den Übergangsregelungen des § 85 BeamtVG ergebenden Ruhegehaltssatz anzupassen (vgl. zur wortgleichen Regelung des Soldatenversorgungsgesetzes ≪SVG≫ BVerwG, Beschluss vom 6. November 2018 - 2 B 10.18 - Buchholz 449.4 § 94b SVG Nr. 1 Rn. 16). Danach ist § 85 Abs. 6 BeamtVG im vorliegenden Fall nicht anzuwenden, weil der Ruhegehaltssatz des Klägers richtigerweise nicht nach § 85 Abs. 1 BeamtVG berechnet worden ist. Es war nicht veranlasst, den Kläger als am 31. Dezember 1991 bereits vorhandenen Beamten i.S.v. § 85 Abs. 1 BeamtVG zu begünstigen, weil er auch nach damals neuem Recht den Höchstruhegehaltssatz in Höhe von 75 Prozent erreichte. Auch auf der Grundlage von § 85 Abs. 1 BeamtVG hätte er lediglich diesen Satz erreichen können. Die Anwendung des § 85 Abs. 1 BeamtVG (und damit auch des § 85 Abs. 6 BeamtVG) ist somit nach § 85 Abs. 4 Satz 1 BeamtVG ausgeschlossen. Für eine Ergänzung des § 85 Abs. 6 BeamtVG um ein Günstigkeitsprinzip wie in § 69c Abs. 5 Satz 2 BeamtVG ist angesichts der ausdrücklichen Regelungen kein Raum. Außerdem gibt es hierfür angesichts des Normzwecks kein Bedürfnis (so zur Parallelregelung des SVG BVerwG, Beschluss vom 6. November 2018 - 2 B 10.18 - Buchholz 449.4 § 94b SVG Nr. 1 Rn. 16).
Rz. 20
Der danach gemäß § 69c Abs. 5 Satz 2 BeamtVG 2001 vorzunehmende Günstigkeitsvergleich führt zur Anwendung des § 56 in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 20. September 1994 (BGBl. I S. 2442). Diese ist für den Kläger günstiger, weil § 56 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG 1994 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG in seinem Fall zu einer Begrenzung der Höhe des Ruhensbetrags führt (siehe unten 3.).
Rz. 21
Der Bescheid der Beklagten vom 3. Januar 2005 war bei Anwendung des § 56 BeamtVG 1994 von Anfang an rechtswidrig, weil die Beklagte die Dynamisierung und die Verrentung der Kapitalbeträge ohne gesetzliche Grundlage durchgeführt hat. Diese Grundlage wäre jedoch erforderlich gewesen (BVerwG, Urteil vom 27. März 2008 - 2 C 30.06 - BVerwGE 131, 29 Rn. 24 ff.).
Rz. 22
Wegen der fehlenden gesetzlichen Grundlage für die Dynamisierung ist der Bescheid auch weiterhin rechtswidrig. Die mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160) eingeführte Regelung für die Dynamisierung von Kapitalbeträgen nach § 69c Abs. 5 Satz 5 BeamtVG 2009 i.V.m. mit § 55 Abs. 1 Satz 8 BeamtVG 2009 erfasst aufgrund ihres Wortlauts nur Kapitalbeträge von Beamten, die ab dem 28. März 2008 in den Ruhestand getreten sind (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 2 C 47.11 - Buchholz 239.1 § 56 BeamtVG Nr. 8 Rn. 12). Auf die Kapitalbeträge des bereits 2003 in den Ruhestand getretenen Klägers fand und findet die Regelung daher keine Anwendung.
Rz. 23
Für die Verrentung der Kapitalbeträge findet jedoch die diesbezügliche Neuregelung des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes für die Zeit ab dem 28. März 2008 Anwendung. Diese Neuregelung gilt anders als die Neuregelung für die Dynamisierung auch für die am 28. März 2008 vorhandenen Ruhestandsbeamten wie den Kläger (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 2 C 47.11 - Buchholz 239.1 § 56 BeamtVG Nr. 8 Rn. 13 ff.). Nach § 69c Abs. 5 Satz 5 BeamtVG 2009 i.V.m. § 55 Abs. 1 Satz 9 BeamtVG 2009 erfolgt die Verrentung in Fällen wie dem des Klägers mithilfe eines Verrentungsdivisors, der sich aus dem zwölffachen Betrag des Kapitalwertes nach Anlage 9 zum Bewertungsgesetz (BewG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944), für den hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 18 Nr. 10 des Gesetzes vom 13. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2878), ergibt. Der Bescheid der Beklagten vom 3. Januar 2005 ist insofern für die Zeit ab dem 28. März 2008 nicht mehr wegen des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage für die Verrentung des Kapitalbetrags rechtswidrig (vgl. insoweit OVG Münster, Urteile vom 20. Januar 2016 - 1 A 2021/13 - juris Rn. 49 und vom 7. Dezember 2016 - 1 A 707/15 - juris Rn. 48).
Rz. 24
Auf die Frage des maßgeblichen Rechts hat das Inkrafttreten des Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetzes (BesStMG) vom 9. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2053) keinen Einfluss. Gemäß § 69m Abs. 2 Satz 1 BeamtVG 2019 sind die für den Kläger maßgeblichen Regelungen in der bis zum 30. Juni 2020 geltenden Fassung weiter anzuwenden.
Rz. 25
2. Der Ruhensbescheid vom 3. Januar 2005 ist zudem wegen des Verstoßes gegen Art. 157 AEUV unionsrechtswidrig. Die Beklagte hat den Kapitalbetrag unter Berücksichtigung des Geschlechts des Klägers verrentet, indem sie für ihre Berechnung den Vervielfältiger der Anlage 9 zum Bewertungsgesetz (BewG a.F.) für einen Mann im Alter von 65 Jahren verwendete (vgl. Bescheid vom 3. Januar 2005, Anlage 1 S. 2). Diese Verrentung von Kapitalbeträgen unter Verwendung geschlechtsspezifischer Sterbetafeln verstößt gegen den gemäß Art. 157 AEUV gewährleisteten Grundsatz der Entgeltgleichheit, weil eine solche Verallgemeinerung der statistischen Lebenserwartung zu einer diskriminierenden Behandlung der Beamten gegenüber Beamtinnen führt (BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2020 - 2 C 19.19 - Rn. 18 ff. ≪zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen≫; vgl. insbesondere EuGH, Urteil vom 3. September 2014 - C-318/13 - VersR 2015, 349 Rn. 25 ff.). Dies führt entgegen der Annahme des Berufungsurteils aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben jedoch nicht zur Bildung eines Mittelwerts, sondern zur Anwendung des für Frauen geltenden Vervielfältigers (BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2020 - 2 C 19.19 - Rn. 31 ff.; vgl. insbesondere EuGH, Urteil vom 7. Oktober 2019 - C-171/18, Safeway - NZA 2020, 33 Rn. 17 f., 33 ff.). Zur näheren Begründung wird auf das vorstehend zitierte Urteil des Senats vom heutigen Tage Bezug genommen.
Rz. 26
3. Ohne diese rechtswidrigen Grundannahmen hätte der monatliche Ruhensbetrag unter dem Betrag gelegen, den die Beklagte mit Bescheid vom 3. Januar 2005 festgestellt hat. Die Beklagte hätte den von ihr festgestellten Mindestruhensbetrag in Höhe von monatlich 1 198,37 € nach § 56 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG 1994 i.V.m. § 69c Abs. 5 Satz 2 BeamtVG 2001 und § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG auf die von der NATO gewährte Versorgung deckeln müssen. Maßgeblich ist insoweit für jeden Monat die Höhe des verrenteten Kapitalbetrags (siehe unten 4.).
Rz. 27
Der verrentete Kapitalbetrag beträgt ohne die genannten Rechtsfehler für die Zeit ab dem 28. März 2008 monatlich 877,89 € (111 677,86 €/12/10,601). Der (nicht dynamisierte) Kapitalbetrag in Höhe von 111 677,86 € war nach § 55 Abs. 1 Satz 9 BeamtVG 2009 i.V.m. Anlage 9 zu § 14 BewG 2006 unter Heranziehung des Vervielfältigers für eine Beamtin im Alter von 65 Jahren (10,601) zu verrenten.
Rz. 28
Für die Zeit bis zum Ablauf des 27. März 2008 ergibt sich ein Betrag in Höhe von monatlich 511,21 € (111 677,86 €/12/18,205). Insoweit sind die Vorgaben des Senats in der Entscheidung zum Verfahren BVerwG 2 C 30.06 heranzuziehen und ist auf den Mittelwert der Lebenserwartung für 65-jährige Frauen und Männer im Jahr 2003 abzustellen (BVerwG, Urteil vom 27. März 2008 - 2 C 30.06 - BVerwGE 131, 29 Rn. 35).
Rz. 29
4. Der Bescheid vom 3. Januar 2005 ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte das Ruhen ohne zeitliche Begrenzung festgestellt hat.
Rz. 30
Art. 33 Abs. 5 und Art. 3 Abs. 1 GG stehen einer Ruhensregelung ohne zeitliche Begrenzung grundsätzlich nicht entgegen (BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2017 - 2 BvL 10/11 u.a. - BVerfGE 145, 249). Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass § 55b Abs. 3 Satz 1 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) in den Fassungen vom 5. März 1987 und vom 18. Dezember 1989 mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BVerfG, ebenda). Der Senat hat daraufhin bereits hinsichtlich dieser Fassungen der Ruhensvorschriften entschieden, dass er an seinen abweichenden Ausführungen in den Urteilen zu den Verfahren BVerwG 2 C 47.11 und 2 C 25.09 nicht mehr festhält (BVerwG, Beschlüsse vom 29. März 2019 - 2 B 50.18 - Buchholz 449.4 § 55b SVG Nr. 2 Rn. 12 und vom 29. August 2019 - 2 B 73.18 - Buchholz 239.1 § 56 BeamtVG Nr. 9 Rn. 11).
Rz. 31
Dass im Fall des Klägers § 56 BeamtVG Anwendung findet und es sich um spätere Fassungen der Norm handelt, führt zu keinem anderen Ergebnis. § 56 BeamtVG ist insoweit mit § 55b SVG identisch und auch die späteren Fassungen enthalten keine Regelung dahingehend, dass das Ruhen enden muss, sobald die Summe der Ruhensbeträge die Höhe des Kapitalbetrags erreicht (a.A. OVG Lüneburg, Beschluss vom 21. Mai 2019 - 5 LA 236/17 - juris Rn. 42; a.A. vor der genannten Entscheidung des BVerfG: OVG Münster, Urteile vom 20. Januar 2016 - 1 A 2021/13 - juris Rn. 33 ff. und vom 7. Dezember 2016 - 1 A 707/15 - juris Rn. 32 ff.).
Rz. 32
§ 56 Abs. 6 Satz 1 BeamtVG 2001 sieht zwar vor, dass der Ruhensbetrag die von der zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung gewährte Versorgung nicht übersteigen darf, doch bezieht sich dies allein auf den jeweiligen monatlichen Ruhensbetrag in Relation zur Höhe des verrenteten Kapitalbetrags.
Rz. 33
Dies ergibt sich daraus, dass es sich bei dem Ruhensbetrag i.S.d. § 56 Abs. 6 Satz 1 BeamtVG 2001 nicht um eine Summe von Ruhensbeträgen, sondern um den im jeweiligen Monat ruhenden Betrag handelt. Aus den gesamten Regelungen des § 56 BeamtVG 2001 geht hervor, dass sie jeweils der Berechnung von monatlichen Ruhensbeträgen dienen. So handelt es sich etwa auch bei den dort genannten Höchstgrenzen gemäß § 56 Abs. 1 BeamtVG 2001 i.V.m. § 54 Abs. 2 BeamtVG um monatsbezogene Werte. Bei der Versorgung mit Kapitalbeträgen ermöglicht es § 55 Abs. 1 BeamtVG 2009, mittels der Verrentung monatsbezogene Werte zu ermitteln, die dann über § 56 Abs. 3 Satz 3 BeamtVG 2009 zu monatsbezogenen Ruhensbeträgen führen. Dass dies auch den Begriff des Ruhensbetrags prägt, zeigt sich an § 56 Abs. 8 BeamtVG 2009, der sich auf den bei Anwendung der Absätze 1 bis 7 ergebenden Ruhensbetrag bezieht. Gemeint ist vom Gesetzgeber auch hier der im jeweiligen Monat ruhende Betrag.
Rz. 34
Darüber hinaus zeigen auch die Gesetzesmaterialien, dass der Gesetzgeber die Regelung des § 56 Abs. 6 Satz 1 BeamtVG sowie die Vorgängerregelung in § 160b Abs. 1 Satz 3 BBG a.F. sowie später § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG nicht geschaffen hat, um das Ruhen im Falle der Versorgung durch Kapitalbeträge auf die Höhe des gesamten Kapitalbetrags zu begrenzen. § 160b Abs. 1 Satz 3 BBG a.F. bezog sich bei seiner Einführung mit dem Gesetz vom 19. Juli 1968 (BGBl. I S. 848) allein auf laufende Versorgungsleistungen der zwischen- oder überstaatlichen Einrichtungen. Die Regelung begrenzte die Höhe des monatlichen Ruhensbetrags auf die Höhe der laufenden Versorgungsleistung im jeweiligen Monat. Die Empfänger von Kapitalbeträgen erhielten diesen Schutz damals nicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2017 - 2 BvL 10/11 u.a. - BVerfGE 145, 249 Rn. 99). Sie schützte der Gesetzgeber durch die Möglichkeit, den Kapitalbetrag an den Dienstherren abzuführen und dadurch das Ruhen abzuwenden (vgl. BT-Drs. V/2251 S. 7).
Rz. 35
Mit dem Gesetz zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes, des Soldatenversorgungsgesetzes sowie anderer versorgungsrechtlicher Vorschriften vom 20. September 1994 (BeamtVGÄndG, BGBl. I S. 2442) erweiterte der Gesetzgeber den Schutz für die Empfänger von Kapitalbeträgen, indem er in § 56 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG 1994 auch auf § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG verwies. Durch die in § 56 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG 1994 erstmals vorgesehene Verrentung der Kapitalbeträge war es möglich geworden, den § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG, der dem § 160b Abs. 1 Satz 3 BBG a.F. entsprach (vgl. hierzu BT-Drs. 7/2505 S. 53), auch auf Kapitalbeträge anzuwenden. Bei der Anwendung des § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG 1994 war dabei nach § 56 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG 1994 der sich bei einer Verrentung des Kapitalbetrags ergebende Betrag zugrunde zu legen. Die Höhe des verrenteten Kapitalbetrags begrenzt seitdem für jeden einzelnen Monat die Höhe des Ruhensbetrags. Die Einführung der darüber hinaus gehenden, vom Kläger begehrten Begrenzung der Summe der Ruhensbeträge auf den Kapitalbetrag ist im Gesetz und in den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 12/5919) nicht erkennbar.
Rz. 36
Die Einführung des § 56 Abs. 6 Satz 1 BeamtVG 1998 mit dem Versorgungsreformgesetz 1998 vom 29. Juni 1998 (BGBl. I S. 1666) brachte ebenfalls nicht die vom Kläger gewünschte Begrenzung. Grund für diese "Verschiebung" des ansonsten unangetasteten § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG a.F. war nach der Begründung des Gesetzesentwurfs allein die systematische Zusammenfassung mit den neuen "Mindestbelassungsregeln" (BT-Drs. 13/9527 S. 41).
Rz. 37
Der Kläger wird durch die fehlende zeitliche Begrenzung entgegen seiner Auffassung auch nicht ungerechtfertigt oder unangemessen benachteiligt. Der wirtschaftliche Wert eines Kapitalbetrags wird nicht allein durch seinen Nennwert, sondern wesentlich durch das mit ihm verbundene Anlage- bzw. Nutzungspotenzial bestimmt (siehe auch insoweit BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2017 - 2 BvL 10/11 u.a. - BVerfGE 145, 249 Rn. 86). Einem Beamten oder Soldaten, der kein solches Anlage- und/oder Nutzungspotenzial für sich sieht oder der die mit dem Erhalt eines Kapitalbetrags verbundenen Risiken nicht eingehen möchte, hat der Gesetzgeber seit der ersten Fassung des § 56 BeamtVG stets die Wahlmöglichkeit eröffnet, den Kapitalbetrag abzuführen und dafür das volle Ruhegehalt zu erhalten. An dem einmal ausgeübten Wahlrecht muss sich der Beamte oder Soldat für die Dauer des Bezugs von Ruhegehalt festhalten lassen.
Rz. 38
Der Hinweis des Klägers, Empfänger von laufenden Versorgungsleistungen zwischenstaatlicher Einrichtungen profitierten davon, dass die laufenden Versorgungsleistungen erheblich höher als der Ruhensbetrag seien und auch laufend erhöht würden, ist nicht geeignet, ein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Die nationalen Regelungen für das Ruhen sind für laufende Versorgungsleistungen und einmalige Versorgungsleistungen - abgesehen von den Regelungen für den erforderlichen Zwischenschritt der Verrentung - identisch. Geringe Kapitalbeträge führen bei rechtmäßiger Verrentung ebenso wie geringe laufende Versorgungsleistungen zu einer Deckelung nach § 56 Abs. 1 Satz 3 BeamtVG oder § 56 Abs. 6 Satz 1 BeamtVG. Hohe laufende Versorgungsleistungen führen bei Anwendung der Höchstgrenzenberechnung ebenso zu höheren Ruhensbeträgen wie hohe Kapitalbeträge. In Fällen, in denen die laufende Versorgungsleistung oder der Kapitalbetrag weder so hoch sind, dass die Höchstgrenzenberechnung greift, noch so niedrig sind, dass sie zu einer Deckelung des Kapitalbetrags führen, greift der insoweit identische Mindestruhensbetrag. Sollte einem Beamten oder Soldaten der Kapitalbetrag, auf den der deutsche Gesetzgeber keinen unmittelbaren Einfluss hat, zu gering sein, hat er die bereits genannte Wahl, den Kapitalbetrag an den Dienstherren abzuführen und das volle Ruhegehalt zu erhalten.
Rz. 39
5. Der Kläger hat nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 3. Januar 2005 für die Zeiträume und in dem Umfang, in dem die Beklagte rechtswidrig einen zu hohen Ruhensbetrag festgestellt hat.
Rz. 40
Ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG besteht nicht (a). Der Kläger hat grundsätzlich nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG. Dieses Ermessen ist jedoch bei Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts in so erheblichen Umfang verdichtet, dass rechtswidrige Ruhensbescheide in der Regel ab dem Beginn des Kalendermonats nach der Entscheidung zurückzunehmen sind, aufgrund der sich das bisherige Verwaltungshandeln - eindeutig - als rechtswidrig erweist (b). Im Fall des Klägers sind in dieser Hinsicht die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Verfahren C-318/13 und (letztlich eindeutig) C-171/18 sowie jene des Senats zu den Verfahren BVerwG 2 C 30.06 und 2 C 47.11 maßgeblich (c).
Rz. 41
a) Nachträgliche Änderungen der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sach- oder Rechtslage zugunsten des Klägers i.S.d. § 51 Abs. 1 Satz 1 VwVfG liegen im Streitfall nicht vor. Eine Gerichtsentscheidung stellt keine solche Änderung der Sach- oder Rechtslage dar (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Februar 1993 - 9 B 241.92 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 29 S. 15; Urteile vom 11. September 2013 - 8 C 4.12 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 48 Rn. 21 und vom 13. August 2020 - 1 C 23.19 - juris Rn. 13).
Rz. 42
b) Das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG steht grundsätzlich im Ermessen der Beklagten. Dies belegt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bildet. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich ist (BVerwG, Urteile vom 20. März 2008 - 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 5 Rn. 12 und vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11; vgl. auch Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 ≪92 f.≫). Ob ein solcher Ausnahmefall angenommen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab (BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13, vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11 und vom 13. August 2020 - 1 C 23.19 - juris Rn. 19).
Rz. 43
Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann schlechthin unerträglich, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich. Ferner kann in dem einschlägigen Fachrecht eine bestimmte Richtung der zu treffenden Entscheidung in der Weise vorgegeben sein, dass das Ermessen im Regelfall nur durch die Entscheidung für die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtmäßig ausgeübt werden kann, sodass sich das Ermessen in diesem Sinne als intendiert erweist (BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2004 - 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 ≪231≫; Urteile vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13 und vom 9. Mai 2012 - 6 C 3.11 - BVerwGE 143, 87 Rn. 51).
Rz. 44
Das Beamtenversorgungsrecht als hier maßgebliches Fachrecht kennt im Unterschied zum Sozialversicherungsrecht und Sozialverfahrensrecht - jenseits von § 48 VwVfG - keine speziellen Vorschriften für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts. Allerdings ist das Beamtenversorgungsrecht deshalb nicht frei von gesetzgeberischen Wertungen mit Einfluss auf das Rücknahmeermessen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 29).
Rz. 45
Insoweit ist zunächst zu beachten, dass auch im Beamtenversorgungsrecht nach dem Willen des Gesetzgebers gemäß § 3 BeamtVG eine strikte Gesetzesbindung der Verwaltung gilt (siehe hierzu BVerwG, Urteile vom 27. März 2008 - 2 C 30.06 - BVerwGE 131, 29 Rn. 25, vom 27. Januar 2011 - 2 C 25.09 - Buchholz 449.4 § 55b SVG Nr. 1 Rn. 11 und vom 31. Mai 2012 - 2 C 18.10 - Buchholz 449.4 § 53 SVG Nr. 1 Rn. 21). Nach § 3 Abs. 3 BeamtVG kann auf die gesetzlich zustehende Versorgung weder ganz noch teilweise verzichtet werden.
Rz. 46
Hinzu kommt die verfassungsrechtliche Verankerung des Versorgungsanspruchs. Durch die materiell-gesetzlichen Regelungen hat der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum ausgeübt, der ihm verfassungsrechtlich durch den Alimentationsgrundsatz eröffnet ist. Der sich daraus ergebende Versorgungsanspruch genießt verfassungsrechtlichen Schutz, weil der Versorgungsberechtigte ihn in der aktiven Dienstzeit erdient hat (BVerwG, Urteile vom 27. Januar 2011 - 2 C 25.09 - Buchholz 449.4 § 55b SVG Nr. 1 Rn. 22, vom 26. September 2012 - 2 C 48.11 - Buchholz 239.1 § 5 BeamtVG Nr. 21 Rn. 30 und vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 29; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2017 - 2 BvL 10/11 u.a. - BVerfGE 145, 249 Rn. 91). Die Rechtsnatur des Versorgungsanspruchs spricht deshalb dafür, dass der Anspruch der Ruhestandsbeamten auf Festsetzung und Auszahlung des Ruhegehalts in gesetzlicher Höhe auch durch die Aufhebung entgegenstehender Bescheide ab einem gewissen Zeitpunkt verwirklicht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 29). Der materiellen Gerechtigkeit kommt in der Abwägung mit der Rechtssicherheit im Rahmen des § 48 VwVfG von daher besonderes Gewicht zu.
Rz. 47
In dieselbe Richtung weist der bereits oben erwähnte Umstand, dass es sich bei Ruhensbescheiden um feststellende Verwaltungsakte mit sich jeweils monatlich neu aktualisierender Wirkung handelt (s.o. Rn. 17).
Rz. 48
Zum Versorgungsfestsetzungsbescheid hat der Senat bereits entschieden, dass bei für nichtig erklärten Normen dem § 79 Abs. 2 Satz 1 und 2 BVerfGG die gesetzliche Wertung entnommen werden kann, dass bestandskräftige Dauerverwaltungsakte ab dem Zeitpunkt der Nichtigerklärung für die Zukunft aufzuheben sind (BVerwG, Urteile vom 26. September 2012 - 2 C 48.11 - Buchholz 239.1 § 5 BeamtVG Nr. 21 Rn. 24 ff. und vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 20, 27 ff. sowie Beschluss vom 8. Mai 2013 - 2 B 5.13 - NVwZ 2013, 953 Rn. 11).
Rz. 49
Die Nichtigerklärung einer gesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht stellt die zeitliche Grenze für den Geltungsanspruch der auf der für nichtig erklärten Vorschrift beruhenden unanfechtbaren Entscheidung dar. Bis zur Nichtigerklärung der gesetzlichen Regelung gebührt der Rechtssicherheit der Vorrang. Für den Zeitraum danach setzt sich demgegenüber das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit durch (BVerwG, Urteile vom 26. September 2012 - 2 C 48.11 - Buchholz 239.1 § 5 BeamtVG Nr. 21 Rn. 28 und vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 27; Beschluss vom 8. Mai 2013 - 2 B 5.13 - NVwZ 2013, 953 Rn. 11). Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend aus den Regelungen des § 79 Abs. 2 BVerfGG den allgemeinen Rechtsgedanken abgeleitet, dass einerseits zwar unanfechtbar gewordene fehlerhafte Akte der öffentlichen Gewalt nicht rückwirkend aufgehoben und die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangenen nachteiligen Wirkungen nicht beseitigt werden, andererseits jedoch zukünftige Folgen, die sich aus einer zwangsweisen Durchsetzung der verfassungswidrigen Entscheidung ergeben würden, abgewendet werden sollen (BVerwG, Urteil vom 26. September 2012 - 2 C 48.11 - Buchholz 239.1 § 5 BeamtVG Nr. 21 Rn. 28 mit Verweis u.a. auf BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 1905/02 - BVerfGE 115, 51 ≪63≫).
Rz. 50
Dieser Rechtsgedanke ist auf Versorgungsfestsetzungsbescheide zu übertragen, die zwar nicht im engeren Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vollstreckt werden, aber die Grundlage für monatlich im Voraus zu zahlende Versorgungsbezüge bilden. Ihre Bestandskraft wird nur für die Vergangenheit geschützt, sodass der Betroffene nicht unter Berufung auf die Nichtigerklärung einer gesetzlichen Regelung für die Vergangenheit höhere Leistungen beanspruchen kann. Demgegenüber gebührt für die Zukunft der materiellen Gerechtigkeit und nicht der Rechtssicherheit der Vorrang, sodass der Verwaltungsakt an die Rechtslage anzupassen ist. Andernfalls müsste Versorgungsfestsetzungsbescheiden zeitlich unbegrenzte Geltung beigemessen werden, obwohl ihre gesetzliche Grundlage wegen der Nichtigerklärung weggefallen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. September 2012 - 2 C 48.11 - Buchholz 239.1 § 5 BeamtVG Nr. 21 Rn. 29 und vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 27 f.).
Rz. 51
Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob ein Ruhensbescheid ein Dauerverwaltungsakt im Sinne der Kategorien des allgemeinen Verwaltungsrechts ist. Die fachrechtlichen Besonderheiten des Beamtenversorgungsrechts veranlassen den Senat vielmehr dazu, ihn - wie erwähnt - als feststellenden Verwaltungsakt mit sich jeweils monatlich neu aktualisierender Wirkung zu bezeichnen (s.o. Rn. 17).
Rz. 52
Dessen ungeachtet können die vorstehend dargestellten Wertungen auf Ruhensbescheide übertragen werden. Hiernach sind rechtswidrige Ruhensbescheide nicht nur im Fall bundesverfassungsgerichtlicher Nichtigerklärungen, sondern darüber hinaus auch bei entsprechend eindeutigen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts in der Regel ab dem Beginn des Kalendermonats nach der Gerichtsentscheidung zurückzunehmen, aufgrund der eine Rechtsfrage als abschließend geklärt angesehen werden kann (vgl. zur Bedeutung der Rechtsprechung dieser beiden Gerichte bereits BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2012 - 2 C 59.11 - BVerwGE 145, 14 Rn. 31 ff., Beschluss vom 12. Dezember 2012 - 2 B 90.11 - juris Rn. 15 f.; OVG Hamburg, Urteil vom 28. Februar 2013 - 1 Bf 10/12 - juris Rn. 29, 38 f., 43). Wegen der unterschiedlichen Verfahrensregelungen, wie Entscheidungen der hier angesprochenen Gerichte (EuGH, BVerfG, BVerwG) den Verfahrensbeteiligten gegenüber bekanntgegeben oder Dritten (z.B. der Fachwelt) gegenüber veröffentlicht werden, hält es der Senat aus Gründen der Praktikabilität für sachgerecht, auf den Beginn des Kalendermonats nach dem Entscheidungsdatum abzustellen, unter dem der Richterspruch ergangen ist, der die in Rede stehende Rechtsfrage - eindeutig - geklärt hat.
Rz. 53
c) Nach diesen Maßstäben ist seit der Entscheidung des Senats zum Verfahren BVerwG 2 C 30.06 vom 27. März 2008 hinreichend geklärt, dass die Dynamisierung und die Verrentung der Kapitalbeträge zuvor ohne ausreichende gesetzliche Grundlage erfolgt war (BVerwG, Urteil vom 27. März 2008 - 2 C 30.06 - BVerwGE 131, 29 Rn. 24 ff.). Seit der Entscheidung des Senats zum Verfahren BVerwG 2 C 47.11 vom 5. September 2013 ist zudem geklärt, dass die nachträglich mit Rückwirkung ab dem 28. März 2008 erlassene Regelung für die Dynamisierung der Kapitalbeträge nach § 69c Abs. 5 Satz 5 BeamtVG 2009 oder § 56 Abs. 3 Satz 3 BeamtVG 2009 i.V.m. § 55 Abs. 1 Satz 8 BeamtVG 2009 aufgrund ihres Wortlauts nur Kapitalbeträge von Beamten erfasst, die ab dem 28. März 2008 in den Ruhestand getreten sind (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 2 C 47.11 - Buchholz 239.1 § 56 BeamtVG Nr. 8 Rn. 12). Soweit der mit den Ruhensbescheiden festgestellte Ruhensbetrag auf einer Dynamisierung des Kapitalbetrags beruht, ist das Rücknahmeermessen der Beklagten für den Zeitraum ab der Entscheidung vom 5. September 2013 hin zu einem Rücknahmeanspruch verdichtet. Hinsichtlich beider Rechtsfragen greift diese Ermessensreduzierung ab dem Folgemonat des Datums der jeweiligen Gerichtsentscheidung.
Rz. 54
Soweit Ruhensbescheide auf einer geschlechtsspezifischen Verrentung der Kapitalbeträge beruhen, ist seit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Verfahren C-318/13 vom 3. September 2014 hinreichend geklärt, dass die statistisch unterschiedlich lange Lebenserwartung von Männern und Frauen unionsrechtlich grundsätzlich keine Ungleichbehandlung rechtfertigt (vgl. EuGH, Urteil vom 3. September 2014 - C-318/13 - VersR 2015, 349 Rn. 25 ff.; Generalanwältin Kokott, Schlussantrag vom 15. Mai 2014 - C-318/13 - juris Rn. 50 ff.; vgl. nunmehr auch BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2020 - 2 C 19.19 - Rn. 18 ff. ≪zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen≫). Seit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Verfahren C-171/18 vom 7. Oktober 2019 ist zudem - eindeutig - geklärt, dass dies bis zu einer Herstellung der Gleichheit zur Anwendung des für Beamtinnen geltenden Vervielfältigers für Frauen führt (sog. Angleichung "nach oben", vgl. EuGH, Urteil vom 7. Oktober 2019 - C-171/18, Safeway - NZA 2020, 33 Rn. 33 ff.; BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2020 - 2 C 19.19 - Rn. 31 ff.). Hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Verrentung ist das Datum der letztgenannten Entscheidung des Gerichtshofs vom 7. Oktober 2019 maßgeblich für die Ermessensreduzierung (mit Wirkung ab dem Folgemonat).
Rz. 55
Für den Zeitraum vor diesen Entscheidungen ist das Ermessen der Beklagten jeweils nicht im obigen Sinne reduziert. Es ist insofern auch mit Hinblick auf das Fachrecht nicht "schlechthin unerträglich", wenn für diesen Zeitraum an der Bestandskraft der Ruhensbescheide im oben dargestellten Umfang festgehalten wird. Dies gilt auch, soweit der Ruhensbescheid wegen des Verstoßes gegen den nach Art. 157 AEUV gewährleisteten Grundsatz der Entgeltgleichheit teilweise unionsrechtswidrig war. Auch das Unionsrecht kennt den Grundsatz der Rechtssicherheit und verlangt grundsätzlich nicht, dass eine Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist (vgl. EuGH, Urteile vom 13. Januar 2004 - C-453/00, Kühne & Heitz - Slg. 2004, I-837 Rn. 24 und vom 19. September 2006 - C-392/04, i-21 Germany GmbH - und - C-422/04, Arcor AG & Co. KG - Slg. 2006, I-8559 Rn. 51; BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 16 und Beschluss vom 21. Juni 2013 - 3 B 89.12 - juris Rn. 8). Für eine Ausnahme von diesem Grundsatz (vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 13. Januar 2004 - C-453/00, Kühne & Heitz - Slg. 2004, I-837 Rn. 28 und vom 19. September 2006 - C-392/04, i-21 Germany GmbH - sowie - C-422/04, Arcor AG & Co. KG - Slg. 2006, I-8559 Rn. 52; BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 2013 - 3 B 89.12 - juris Rn. 9), die eine weitergehende Verpflichtung zur Aufhebung zur Folge haben könnte, ist vorliegend nichts ersichtlich.
Rz. 56
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dem Kläger ist ein Teil der Kosten aufzuerlegen, weil er teilweise unterlegen ist. Dies ist auch dann der Fall, wenn ein Kläger zwar nur einen Bescheidungsantrag gestellt hat, das Gericht jedoch in seinem Bescheidungsurteil mit seiner Rechtsauffassung auf eine geringere Bindung der Beklagten für dessen erneute Entscheidung erkennt, als der Kläger sie mit seiner Klage angestrebt hat (BVerwG, Urteile vom 24. September 2009 - 7 C 2.09 - BVerwGE 135, 34 Rn. 67 und vom 17. September 2015 - 2 C 27.14 - Buchholz 232.0 § 21 BBG 2009 Nr. 2 Rn. 42). Angemessen ist in Anbetracht der vom Kläger im Ergebnis begehrten Beschränkung der Summe der Ruhensbeträge auf den Kapitalbetrag, dass die beiden Hauptbeteiligten (Kläger und Beklagte) die Kosten des Verfahrens nach § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO je zur Hälfte tragen.
Fundstellen
BVerwGE 2021, 318 |
ZBR 2021, 271 |
DÖV 2021, 499 |
JZ 2021, 210 |
VR 2021, 179 |
BayVBl. 2021, 705 |
FSt 2021, 880 |