Entscheidungsstichwort (Thema)
Bundeswehr. Tiefflugübungen. FFH-Gebiet. anerkannte Naturschutzvereinigung. Mitwirkungsrecht. “Befreiung”. andere Entscheidung. habitatschutzrechtliche Ge- und Verbote. Verträglichkeitsprüfung. Abweichungsentscheidung. “aufgedrängte Prüfung”. fachrechtliches Trägerverfahren. Sicherheitsmindesthöhen. Mindestflughöhen. luftverkehrsrechtliche Abweichungsentscheidung. Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. Freistellung von habitatschutzrechtlichen Verfahrensanforderungen (verneint). Entscheidungskompetenz der Bundeswehr. Verteidigungsauftrag. verteidigungspolitischer Beurteilungsspielraum. behördeninternes Entscheidungsverfahren. “Sachverstandspartizipation”. naturschutzfachlicher Sachverstand. Ad-hoc-Entscheidung. Gefahr im Verzug. Geheimhaltungsinteresse. “Projekt”. wirkungsbezogener Begriff. eingrenzende Präzisierung. Grundentscheidung. Zurückverweisung
Leitsatz (amtlich)
Die Bundeswehr ist im Rahmen ihrer Befugnis, von den luftverkehrsrechtlich vorgegebenen Mindestflughöhen abzuweichen (§ 30 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 LuftVG), von den habitatschutzrechtlichen Verfahrensschritten gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 bis 5 BNatSchG nicht freigestellt.
Die Mitwirkung anerkannter Naturschutzverbände bei einer habitatschutzrechtlich erforderlichen Abweichungsentscheidung gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG ist verfahrensrechtlich auf die Vorbereitung der Entscheidung und inhaltlich auf die Einbringung naturschutzfachlichen Sachverstandes beschränkt.
Normenkette
FFH-RL Art. 6 Abs. 3-4; V-RL Art. 4 Abs. 4; GG Art. 87a Abs. 1; BNatSchG § 34 Abs. 1, 3-5, § 63 Abs. 2 Nr. 5; LuftVG § 30 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 2 S. 1; WaStrG § 48; VwVfG §§ 9, 28 Abs. 2 Nrn. 1-2, Abs. 3, § 29 Abs. 2
Verfahrensgang
OVG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 12.05.2011; Aktenzeichen 2 L 30/10) |
VG Magdeburg (Entscheidung vom 01.03.2010; Aktenzeichen 1 A 246/08 MD) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 12. Mai 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Rz. 1
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger – einem vom Land Sachsen-Anhalt anerkannten Naturschutzverband – vor der Durchführung von Tiefflugübungen der Bundeswehr über dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben ist.
Rz. 2
Die Bundeswehr nutzte den dortigen Luftraum in der Vergangenheit zur Durchführung militärischer Übungsflüge. In dem Gebiet halten sich in den Monaten März bis Juli zahlreiche Brutvögel unterschiedlicher Arten auf, deren Bruterfolg nach Ansicht des Klägers durch Tiefflüge gefährdet wird.
Rz. 3
Auf Antrag des Klägers untersagte das Oberverwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung die Fortsetzung der Übungsflüge in Höhen unter 600 m, bis der Kläger Gelegenheit erhalten hat, seine Mitwirkungsrechte wahrzunehmen.
Rz. 4
In der Hauptsache blieb die Klage in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg. Der Kläger habe – so das Oberverwaltungsgericht – keinen Anspruch, vor der Entscheidung der Beklagten über die Durchführung der Übungsflüge beteiligt zu werden. Die Beklagte bedürfe für diese Maßnahmen keiner “Befreiung” von den Verboten des § 34 BNatSchG bzw. des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL. Die Colbitz-Letzlinger Heide sei zwar in die FFH-Liste aufgenommen. Ob die Befreiungsvoraussetzungen vorliegen, insbesondere ob Übungsflüge unterhalb 600 m zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebiets führen können, lasse sich nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht abschließend beurteilen. Dies sei aber auch nicht erforderlich, weil eine Mitwirkung des Klägers auch für den Fall einer erheblichen Beeinträchtigung wegen § 30 Abs. 1 LuftVG ausgeschlossen sei. Nach dieser Vorschrift dürfe unter bestimmten Voraussetzungen von der luftverkehrsrechtlich vorgegebenen Mindestflughöhe abgewichen werden, wenn dies zur Erfüllung der besonderen hoheitlichen Aufgaben der Bundeswehr zwingend notwendig sei. Die Verwaltungszuständigkeiten würden von der Bundeswehr selbst wahrgenommen. Die Bestimmung nehme im Hinblick auf die mit Verfassungsrang versehenen Belange der äußeren Sicherheit und der Landesverteidigung im Regelungszusammenhang des Luftverkehrsgesetzes eine Sonderstellung ein. Sie ermögliche einen Dispens nicht nur von den materiellrechtlichen Vorgaben des Luftverkehrsrechts, sondern auch von der Einhaltung formeller Vorgaben anderer Fachgesetze. Die Bundeswehr habe die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzes in eigener Zuständigkeit zu prüfen. Ein wie auch immer geartetes Verfahren, an dem Verbände beteiligt werden könnten, finde deshalb nicht statt. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die Grundentscheidung des Gesetzgebers bestätigt, der Bundeswehr bei der Entscheidung darüber, was zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Verteidigungsaufgaben notwendig sei, einen weitgehenden Beurteilungsspielraum einzuräumen. Diese Grundentscheidung würde durch das Erfordernis, bei der zuständigen Naturschutzbehörde unter Mitwirkung anerkannter Naturschutzverbände eine naturschutzrechtliche Ausnahme zu beantragen, unterlaufen.
Rz. 5
Der Kläger hat von dem vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Rechtsmittel der Revision Gebrauch gemacht. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass § 30 Abs. 1 LuftVG nicht von den Vorschriften des nationalen und europäischen Naturschutzrechts dispensiere, auch nicht von maßgeblichen Verfahrensvorschriften.
Rz. 6
Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
II
Rz. 7
Die zulässige Revision ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf einem Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz ist die Sache deshalb an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 8
1. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger habe unabhängig davon, ob die geplanten Tiefflugübungen der Bundeswehr über dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebiets führen können, keinen Anspruch darauf, vor der Entscheidung der Beklagten über die Durchführung dieser Tiefflugübungen beteiligt zu werden, verstößt gegen Bundesrecht.
Rz. 9
Als Rechtsgrundlage für einen Mitwirkungsanspruch des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG in der Fassung vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2542 – im Folgenden: BNatSchG) für einschlägig gehalten. Hiernach ist einer nach § 3 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) von einem Land anerkannten, landesweit tätigen Naturschutzvereinigung “vor der Erteilung von Befreiungen von Geboten und Verboten zum Schutz von Gebieten im Sinne des § 32 Absatz 2 (und) Natura 2000-Gebieten …, auch wenn diese durch eine andere Entscheidung eingeschlossen oder ersetzt werden”, Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben. Das Oberverwaltungsgericht ist ferner davon ausgegangen, dass unter dem Begriff der “Befreiung” auch Ausnahme- und Abweichungsentscheidungen nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG oder Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl L 103 vom 25. April 1979, S. 1), neu kodifiziert durch die Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl L 20 vom 26. Januar 2010, S. 7 – im Folgenden: V-RL), fallen. Schließlich hat es – für den Senat bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO) – festgestellt, dass die Colbitz-Letzlinger Heide durch Beschluss der Europäischen Kommission vom 22. Dezember 2009 in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl L 206 vom 22. Juli 1992, S. 7 – im Folgenden: FFH-RL) aufgenommen wurde, so dass § 34 BNatSchG in der Fassung vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2542 – im Folgenden: BNatSchG) anwendbar sei, und ferner, dass es im Hinblick auf das dort befindliche Vogelschutzgebiet an der erforderlichen Unterschutzstellung fehle, weshalb auch Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL unmittelbar Anwendung finde. Gleichwohl hat das Oberverwaltungsgericht nicht abschließend entschieden, ob eine Abweichungsentscheidung gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG erforderlich ist. Ob die hier in Frage stehenden Flugübungen unterhalb einer Flughöhe von 600 m zu einer erheblichen Beeinträchtigung des FFH-Gebiets führen können bzw. ob erhebliche Beeinträchtigungen und Störungen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Satz 1 V-RL zu erwarten sind, lasse sich nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht abschließend beurteilen. Das ist aber auch nicht erforderlich, weil eine Mitwirkung des Klägers wegen § 30 Abs. 1 LuftVG auch für den Fall einer erheblichen Beeinträchtigung ausgeschlossen sei. Dieser Rechtsstandpunkt ist mit Bundesrecht nicht vereinbar.
Rz. 10
a) Gemäß § 34 BNatSchG sind Projekte vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Natura-2000-Gebiets (im Folgenden: FFH-Gebiet) zu überprüfen, wenn sie einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten oder Plänen geeignet sind, das Gebiet erheblich zu beeinträchtigen, und nicht unmittelbar der Verwaltung des Gebiets dienen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist im Rahmen einer Vorprüfung festzustellen (Urteil vom 17. Januar 2007 – BVerwG 9 A 20.05 – BVerwGE 128, 1 Rn. 61 f.; vgl. auch Storost, DVBl 2009, S. 673 ≪674≫; Wolf, in: Schlacke, GK-BNatSchG, 2012, § 34 Rn. 6). Vorprüfung und Verträglichkeitsprüfung sind naturschutzrechtlich obligatorische Verfahrensschritte (Ewer, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, 2011, § 34 Rn. 9 ff.; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Band II, Stand Juni 2012, § 34 BNatSchG Rn. 7). In der Verträglichkeitsprüfung muss der Träger des Vorhabens unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nachweisen, dass eine vorhabenbedingte Beeinträchtigung der Erhaltungsziele der betroffenen Gebiete ausgeschlossen ist. Bestehen nach Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen vernünftige Zweifel daran, dass das Vorhaben die Erhaltungsziele nicht beeinträchtigen wird, ist das Projekt gemäß § 34 Abs. 2 BNatSchG unzulässig (Urteile vom 17. Januar 2007 a.a.O. und vom 12. März 2008 – BVerwG 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 Rn. 67). Abweichend von Absatz 2 darf ein Projekt gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG nur unter strikter Wahrung der dort beschriebenen, eng auszulegenden Voraussetzungen (EuGH, Urteil vom 20. September 2007 – Rs. C-304/05 – Slg. 2007, I-7495 Rn. 83 = NuR 2007, 679) zugelassen werden. Die Zulassung im Rahmen des “Abweichungsregimes” (zum Begriff Wolf, a.a.O. § 34 Rn. 13 ff.) setzt ihrerseits voraus, dass zuvor eine den Anforderungen des § 34 Abs. 1 BNatSchG genügende Verträglichkeitsprüfung durchgeführt wurde, da diese die Informationen vermittelt, derer es bedarf, um das Vorliegen der Ausnahmevoraussetzungen festzustellen (Urteil vom 17. Januar 2007 a.a.O. Rn. 114). Wird eine Abweichungsentscheidung nicht getroffen oder liegen die materiellrechtlichen Voraussetzungen hierfür nicht vor, ist das Projekt entsprechend der Grundregel des § 34 Abs. 2 BNatSchG naturschutzrechtlich unzulässig. Etwaige Mängel der Verträglichkeitsprüfung schlagen auf die Abweichungsentscheidung durch (Ewer, a.a.O. § 34 Rn. 38).
Rz. 11
Sofern das Projekt einer fachrechtlichen Zulassung bedarf, bedient sich § 34 BNatSchG dieses Zulassungsverfahrens als Trägerverfahren. § 34 BNatSchG unterscheidet zwischen zulassungsbedürftigen und nicht zulassungsbedürftigen Projekten. Für den Fall, dass ein Projekt nach anderen fachrechtlichen Vorschriften einer behördlichen Zulassungsentscheidung bedarf und das Naturschutzrecht zum Prüfprogramm dieser Entscheidung gehört (vgl. hierzu Ewer, a.a.O. § 34 Rn. 80), findet die Verträglichkeitsprüfung im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens statt (“aufgedrängte Prüfung”). Die Verträglichkeitsprüfung ist in diesem Fall ein Verfahrensschritt innerhalb des die Zulassung des Projekts betreffenden behördlichen Entscheidungsprozesses. Zuständig ist diejenige Behörde, die nach den maßgeblichen fachrechtlichen Vorschriften über die Zulassung des Projekts zu befinden hat (allgemeine Meinung, vgl. z.B. Gellermann, a.a.O. § 34 Rn. 12 und 46, und Wolf, a.a.O. Rn. 5). Ihr obliegt es, innerhalb des fachrechtlichen Trägerverfahrens auch die FFH-Verträglichkeitsprüfung vorzunehmen und eine gegebenenfalls erforderliche habitatrechtliche Abweichungsentscheidung zu treffen. Diese Zuständigkeitskonzentration im jeweiligen fachrechtlichen Trägerverfahren ist in § 34 BNatSchG zwar nicht ausdrücklich geregelt. Sie ergibt sich jedoch aus § 34 Abs. 6 BNatSchG, wonach für den Fall, dass ein Projekt keiner behördlichen Entscheidung oder Anzeige bedarf (und auch nicht von einer Behörde durchgeführt wird), ein subsidiäres Anzeigeverfahren bei der für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörde vorgesehen ist (Gellermann, a.a.O. § 34 Rn. 12; Wolf, a.a.O. § 34 Rn. 19), um auch in dieser Situation ein zur Aufnahme der habitatschutzrechtlichen Prüfungen geeignetes Trägerverfahren verfügbar zu haben.
Rz. 12
Offen bleiben kann, ob vorliegend auch Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL unmittelbar anwendbar ist, weil es nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hinsichtlich des in dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide vorhandenen Vogelschutzgebiets bislang an einer entsprechenden Schutzerklärung fehlt. Denn nach dieser unionsrechtlichen Bestimmung gilt, wenngleich unter deutlich strengeren inhaltlichen Voraussetzungen, Entsprechendes.
Rz. 13
b) Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts sind diese habitatschutzrechtlichen Verfahrensschritte auch im Rahmen der luftverkehrsrechtlichen Abweichungsbefugnis der Bundeswehr gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG geboten.
Rz. 14
§ 30 Abs. 1 Satz 1 LuftVG ermächtigt die Bundeswehr, von den Vorschriften des Ersten Abschnitts des Luftverkehrsgesetzes – ausgenommen die §§ 12, 13 und 15 bis 19 LuftVG – und den zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften abzuweichen, soweit dies zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben unter Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Von den Vorschriften über das Verhalten im Luftraum darf gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 LuftVG nur abgewichen werden, soweit dies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben “zwingend notwendig” ist. § 30 Abs. 2 Satz 1 LuftVG bestimmt, dass die Verwaltungszuständigkeiten aufgrund des Luftverkehrsgesetzes für den Dienstbereich der Bundeswehr durch die Dienststellen der Bundeswehr nach Bestimmungen des Bundesministeriums der Verteidigung wahrgenommen werden. Mit dieser Vorschrift räumt der luftverkehrsrechtliche Gesetzgeber der Bundeswehr im Hinblick auf die nach Art. 87a Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Belange der äußeren Sicherheit und der Landesverteidigung eine Sonderstellung ein (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1994 – BVerwG 11 C 18.93 – BVerwGE 97, 203 ≪LS 1 und S. 209≫).
Rz. 15
§ 6 Abs. 1 LuftVO, der Bestimmungen über die im Luftverkehr einzuhaltenden Mindestflughöhe (“Sicherheitsmindesthöhe”) enthält, ist eine Vorschrift über das Verhalten im Luftraum (Urteil vom 14. Dezember 1994 a.a.O. S. 208). Die Dienststellen der Bundeswehr sind deshalb auf der Grundlage des § 30 Abs. 1 Satz 1 und 3 LuftVG unter den dort geregelten Voraussetzungen befugt, von der vorgegebenen Sicherheitsmindesthöhe abzuweichen und Tiefflüge auch unterhalb dieser Höhe durchzuführen. Ob die Voraussetzungen hierfür vorliegen, entscheidet die Bundeswehr gemäß § 30 Abs. 2 Satz 1 LuftVG in eigener Verwaltungszuständigkeit. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 14. Dezember 1994 a.a.O. LS 1) ist geklärt, dass der Bundeswehr hierbei ein verteidigungspolitischer Beurteilungsspielraum zukommt. Die Verwaltungsgerichte können die luftverkehrsrechtliche Abweichungsentscheidung nur daraufhin überprüfen, ob das Bundesministerium der Verteidigung von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, den durch § 30 Abs. 1 Satz 3 LuftVG bestimmten Rahmen erkannt, sich von sachgerechten Erwägungen hat leiten lassen und die betroffenen Interessen in die gebotene Abwägung eingestellt und nicht unverhältnismäßig zurückgesetzt hat.
Rz. 16
Zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Bundeswehr bei der Entscheidung über die Durchführung von Tiefflügen nach § 30 Abs. 1 LuftVG zwar das Vorliegen der materiellrechtlichen Anforderungen des Naturschutzrechts selbstständig und in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist die Bundeswehr aber nicht von den Verfahrensanforderungen des § 34 BNatSchG freigestellt. Diese Auffassung verkennt den Regelungsgehalt des § 30 Abs. 1 LuftVG und steht auch mit § 34 BNatSchG nicht im Einklang.
Rz. 17
Der Wortlaut des § 30 Abs. 1 LuftVG enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Bundeswehr über die Möglichkeit zur Abweichung von luftverkehrsrechtlichen Vorschriften hinaus auch von naturschutzrechtlichen Verfahrensanforderungen freigestellt sein soll. Auch die Gesetzesmaterialien (wiedergegeben z.B. bei Giemulla, in: Giemulla/Schmid, LuftVG, Stand November 2012, § 30 Rn. 4) lassen einen dahingehenden gesetzgeberischen Willen nicht erkennen. Andererseits verlangt § 30 Abs. 1 Satz 1 LuftVG bei der luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung ausdrücklich auch die “Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung”. Den Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat das Oberverwaltungsgericht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 48 WaStrG (Urteil vom 25. September 2008 – BVerwG 7 A 4.07 – Buchholz 445.4 § 48 WaStrG Nr. 1 Rn. 37) ausgelegt, wonach dieser Begriff nicht eingeengt auf das technische Sicherheitsrecht, sondern in dem überkommenen Sinne zu verstehen ist, den er im Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht erhalten hat. Neben dem Schutz zentraler Rechtsgüter umfasst die öffentliche Sicherheit auch die Unversehrtheit der Rechtsordnung. Demzufolge verlangt der Gesetzgeber mit der gesetzlich angeordneten Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dass neben den Vorschriften des Fachrechts auch sämtliche Vorschriften des formellen und materiellen Rechts außerhalb des betreffenden Fachrechts einzuhalten sind, die die Anforderungen der öffentlichen Sicherheit für ihren Sachbereich konkretisieren. Dementsprechend hat das Oberverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf seine eigene Rechtsprechung zu § 48 WaStrG (Urteil vom 28. Oktober 2008 – 2 M 195/08 – DVBl 2009, 133 = DÖV 2009, 213) im Grundsatz anerkannt, dass zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zu deren Berücksichtigung § 30 Abs. 1 LuftVG die Bundeswehr verpflichtet, auch die “Naturschutzgesetze” zählen. Dagegen gibt es aus bundesrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.
Rz. 18
Das Oberverwaltungsgericht hat sich allerdings auf den Standpunkt gestellt, dass sich diese Verpflichtung nur auf die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzrechts beziehe, deren Vorliegen die Bundeswehr bei der luftverkehrsrechtlichen Ausnahmeentscheidung nach § 30 Abs. 1 LuftVG in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe, während die Regelungen des Naturschutzrechts, die ein entsprechendes Verwaltungsverfahren vorsähen, neben § 30 Abs. 1 LuftVG nicht anwendbar seien. Diese Auffassung geht fehl. Aus der in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 25. September 2008 a.a.O.) lässt sich dafür nichts herleiten. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil angenommen, § 48 WaStrG, nach dessen Satz 1 allen Anforderungen der (öffentlichen) Sicherheit und Ordnung zu genügen ist, bedeute “in seiner Gesamtheit”, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes materiell umfassend an fachfremde Vorschriften gebunden, von formellen Erfordernissen dieser Fachgesetze aber freigestellt sei. Hintergrund dieser Annahme ist jedoch die in Satz 2 des § 48 WaStrG getroffene Regelung, dass es (sonstiger, in fachfremden Gesetzen wie etwa dem Bundesnaturschutzgesetz angeordneter) behördlicher Genehmigungen, Erlaubnisse und Abnahmen nicht bedarf. § 48 WaStrG ordnet mithin eine Freistellung von den formellen Erfordernissen anderer Gesetze ausdrücklich an. Eine entsprechende Freistellung ist in § 30 LuftVG aber gerade nicht vorgesehen. Es bleibt deshalb dabei, dass auch die in § 34 BNatSchG geregelten Verfahrensschritte über die in § 30 Abs. 1 LuftVG angeordnete Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zum Prüfprogramm der luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung gehören. Verträglichkeitsprüfung und eine gegebenenfalls erforderliche habitatschutzrechtliche Abweichungsentscheidung sind von der Bundeswehr in eigener Zuständigkeit vorzunehmende Verfahrensschritte innerhalb des luftverkehrsrechtlichen Trägerverfahrens.
Rz. 19
Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts lässt sich eine in § 30 Abs. 1 LuftVG nicht angelegte Freistellung der Bundeswehr von den habitatschutzrechtlichen Prüfpflichten auch nicht mit dem Verteidigungsauftrag der Bundeswehr oder gar mit Effektivitätsgesichtspunkten (so aber Kämper, in: Grabherr/Reidt/Wysk, LuftVG, Stand Juli 2012, § 30 Rn. 38, unter Bezugnahme auf das Berufungsurteil) begründen. Der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr wird durch eine habitatschutzrechtliche Verträglichkeitsprüfung und eine gegebenenfalls erforderliche Abweichungsentscheidung nicht in Frage gestellt. Ob ein Projekt, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung eines FFH-Gebiets führen kann und deshalb gemäß § 34 Abs. 2 BNatSchG unzulässig ist, dennoch zugelassen werden kann, hängt gemäß § 34 Abs. 3 BNatSchG davon ab, ob es aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses notwendig ist und zumutbare Alternativen nicht gegeben sind. Zwingende Gründe des öffentlichen Interesses sind auch die Belange der Landesverteidigung. Sie können gemäß § 34 Abs. 4 BNatSchG selbst dann eine Abweichung rechtfertigen, wenn prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten betroffen werden. Über das Vorliegen zwingender Gründe des öffentlichen Interesses entscheiden die Dienststellen der Bundeswehr in eigener Verwaltungszuständigkeit. Gleiches gilt für das Vorliegen zumutbarer Alternativen. Überdies kommt den Dienststellen der Bundeswehr hinsichtlich der Frage, welche Maßnahmen zur Konkretisierung des Verfassungsauftrags notwendig sind, aus den im Urteil vom 14. Dezember 1994 – BVerwG 11 C 18.93 – (BVerwGE 97, 203 ≪S. 209≫) genannten Gründen auch insoweit ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer verteidigungspolitischer Beurteilungsspielraum zu. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts (UA S. 30; anders noch im gerichtlichen Eilverfahren, Beschluss vom 21. April 2008 – 2 M 94/08 – NuR 2008, 517), die in Art. 87a Abs. 1 GG getroffene Grundentscheidung der Verfassung für die militärische Landesverteidigung würde durch das Erfordernis einer habitatschutzrechtlichen Abweichungsentscheidung unterlaufen, ist deshalb unberechtigt.
Rz. 20
Der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass die Bundeswehr im Rahmen einer luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung nach § 30 Abs. 1 LuftVG zwar das Vorliegen der materiellrechtlichen Voraussetzungen des § 34 BNatSchG in eigener Verantwortung zu prüfen habe, aber von der Einhaltung der habitatschutzrechtlichen Verfahrensanforderungen freigestellt sei, ist auch mit § 34 BNatSchG unvereinbar. Formelles und materielles Recht sind im Rahmen des § 34 BNatSchG untrennbar miteinander verwoben. Die vom Oberverwaltungsgericht für erforderlich gehaltene Prüfung, ob die materiellrechtlichen Voraussetzungen des § 34 BNatSchG vorliegen, lässt sich nur auf der Grundlage der vorgegebenen Verfahrensschritte bewerkstelligen. Wie ausgeführt, muss der Träger eines Projekts in der Verträglichkeitsprüfung unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nachweisen, dass eine vorhabenbedingte Beeinträchtigung der Erhaltungsziele der betroffenen FFH-Gebiete ausgeschlossen ist. Die gewonnenen fachwissenschaftlichen Erkenntnisse sind zu dokumentieren, weil nur auf diesem Wege der Nachweis geführt werden kann, dass die erreichbaren wissenschaftlichen Erkenntnisquellen in vollem Umfang ausgeschöpft wurden und die Bewertungen den besten wissenschaftlichen Stand erreicht haben (Urteil vom 17. Januar 2007 – BVerwG 9 A 20.05 – BVerwGE 128, 1 Rn. 70). Wie ebenfalls ausgeführt, setzt auch die Zulassung einer habitatschutzrechtlichen Abweichung eine Verträglichkeitsprüfung voraus, weil diese die Informationen vermittelt, derer es bedarf, um das Vorliegen der materiellrechtlichen Abweichungsvoraussetzungen gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG festzustellen. Eine förmlich durchgeführte Verträglichkeitsprüfung einschließlich der Vorprüfung ist deshalb auch im Rahmen einer luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG unerlässlich, weil sich nur auf dieser Grundlage die habitatschutzrechtliche Zulässigkeit eines Projekts abschließend beurteilen lässt, wie auch der vorliegende Fall eindrücklich dokumentiert.
Rz. 21
c) Die weiteren Gründe, die das Oberverwaltungsgericht gegen ein Mitwirkungsrecht des Klägers in Stellung gebracht hat, stehen mit Bundesrecht ebenfalls nicht im Einklang.
Rz. 22
Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verkannt, dass eine Abweichungsentscheidung nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG unter den Begriff der “Befreiung” im Sinne des § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG fällt (vgl. z.B. Leppin, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG 2011, § 63 Rn. 26; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Band II, Stand Juni 2012, § 63 Rn. 27 m.w.N.). Auch ist es der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass das Mitwirkungsrecht gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG entfalle, wenn die habitatschutzrechtliche “Befreiung” – wie hier – durch eine andere behördliche Gestattung ersetzt wird, zu Recht entgegengetreten; dass eine Mitwirkung auch unter dieser Voraussetzung geboten ist, hat der Gesetzgeber in § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG nunmehr ausdrücklich klargestellt (Leppin, a.a.O.; Gellermann, a.a.O. § 63 Rn. 28). Dennoch hat das Oberverwaltungsgericht ein Mitwirkungsrecht des Klägers verneint, weil die Bundeswehr die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzgesetzes in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe und es deshalb keine andere Entscheidung gebe, an der der Kläger zu beteiligen wäre. Diese Auffassung geht bereits deshalb fehl, weil sich das Oberverwaltungsgericht – wie ausgeführt – von der unzutreffenden Vorstellung hat leiten lassen, dass die Bundeswehr nur an die materiellrechtlichen Vorgaben, nicht aber an die Verfahrensanforderungen des § 34 BNatSchG gebunden sei. Verträglichkeitsprüfung und eine gegebenenfalls erforderliche Abweichungsentscheidung sind gemäß § 34 BNatSchG vor der Zulassung eines habitatschutzrechtlich relevanten Projekts zwingend durchzuführende Verfahrensschritte; vor einer gegebenenfalls erforderlichen habitatschutzrechtlichen Abweichungsentscheidung ist den anerkannten Naturschutzvereinigungen gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben.
Rz. 23
Der Umstand, dass das luftverkehrsrechtliche Trägerverfahren ein lediglich behördenintern wirkendes Entscheidungsverfahren ist, das ohne Inanspruchnahme einer besonderen Form erfolgen kann (Urteil vom 14. Dezember 1994 a.a.O. S. 210 f.), steht einer Mitwirkung des Klägers ebenfalls nicht entgegen. Die Mitwirkungsrechte des § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG hängen nicht davon ab, dass das Trägerverfahren, innerhalb dessen die naturschutzrechtlichen Verfahrensschritte abzuhandeln sind, ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG, mithin eine nach außen wirkende Tätigkeit der Behörde ist. § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG knüpft tatbestandlich an eine nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG zu treffende “Befreiung” an, die auch durch eine “andere Entscheidung” eingeschlossen oder ersetzt werden kann. Eine luftverkehrsrechtliche Abweichungsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG ist eine “andere Entscheidung” in diesem Sinne. Mitwirkungsrechte gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG sind damit ebenfalls bereits aufgrund naturschutzrechtlicher Anordnung in das bundeswehrinterne Trägerverfahren inkorporiert; einer zusätzlichen Bestätigung der naturschutzrechtlichen Mitwirkungsrechte im Luftverkehrsgesetz bedurfte es nicht.
Rz. 24
Unberechtigt ist schließlich die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, durch eine Mitwirkung von Naturschutzverbänden werde der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr gefährdet. Die Mitwirkung anerkannter Naturschutzvereinigungen nach § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG hat den Zweck einer die Behörden unterstützenden “Sachverstandspartizipation”. Sie soll Vollzugsdefiziten im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege entgegenwirken (Urteil vom 12. November 1997 – BVerwG 11 A 49.96 – BVerwGE 105, 348 ≪350≫). Entsprechend diesem generellen Zweck können anerkannte Naturschutzverbände grundsätzlich auch im Rahmen des § 30 Abs. 1 LuftVG die für eine sachgerechte habitatschutzrechtliche Abweichungsentscheidung erforderlichen Informationen ergänzen. Das Mitwirkungsrecht ist allerdings verfahrensrechtlich auf die Vorbereitung der Entscheidung und inhaltlich auf die Einbringung naturschutzfachlichen Sachverstandes beschränkt (vgl. Urteil vom 12. November 1997 a.a.O.). Die selbstständige Entscheidungskompetenz der Bundeswehr wird dadurch nicht unterlaufen, der der Bundeswehr zukommende Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung der zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags notwendigen Maßnahmen bleibt gewahrt.
Rz. 25
Für den Fall, dass eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug, wegen einer einzuhaltenden Frist oder sonst im öffentlichen Interesse erforderlich erscheint, sowie für die Fälle, in denen beispielsweise ein Geheimhaltungsinteresse als zwingendes öffentliches Interesse einer Verbandsbeteiligung entgegenstehen, kann die Bundeswehr gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 BNatSchG i.V.m. § 28 Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3 und § 29 Abs. 2 VwVfG von einer Verbandsbeteiligung absehen. Auch hierüber entscheidet sie auf der Grundlage des ihr zukommenden verteidigungspolitischen Beurteilungsspielraums in eigener Zuständigkeit mit nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle. Eine Gefährdung des Verteidigungsauftrags ist auch insoweit nicht zu besorgen.
Rz. 26
Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts (UA S. 29 ff.), dass die Beklagte im Rahmen einer luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG auch dann von den Verfahrensanforderungen des § 34 BNatSchG freigestellt und ein Mitwirkungsrecht des Klägers ausgeschlossen sei, wenn die Voraussetzungen des § 34 BNatSchG vorliegen, ist somit bereits aus Gründen des nationalen Rechts zu beanstanden. Die seitens des Klägers aufgeworfene Frage, ob eine Freistellung mit den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 und 4 der FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 4 der V-RL vereinbar wäre, bedarf deshalb keiner Entscheidung.
Rz. 27
2. Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Rz. 28
Ein Mitwirkungsrecht des Klägers scheitert vorliegend nicht an dem in § 34 BNatSchG verwendeten Projektbegriff. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht nicht in Zweifel gezogen, dass die über dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide geplanten Tiefflugübungen der Bundeswehr als Projekt im Sinne des § 34 BNatSchG zu qualifizieren sind.
Rz. 29
Im Bundesnaturschutzgesetz ist der Projektbegriff gesetzlich nicht (mehr) definiert. Eine Legaldefinition fehlt auch in der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie. Der Europäische Gerichtshof (Urteile vom 7. September 2007 – Rs. C-127/02 – Slg. 2004, I-7405 Rn. 24 und vom 14. Januar 2010 – Rs. C-226/08 – Slg. 2010, I-131 Rn. 38 m.w.N.) orientiert sich deshalb am Projektbegriff der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl L 175 vom 5. Juli 1985, S. 40 – UVP-RL). Nach deren Art. 1 Abs. 2 sind Projekte “die Errichtung von baulichen und sonstigen Anlagen” sowie “sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen”. Die Gesetzesbegründung zu § 34 BNatSchG (BTDrucks 16/12274, S. 65) nimmt hierauf ausdrücklich Bezug. Dem UVP-rechtlichen Projektbegriff liegt ein wirkungsbezogenes Verständnis zugrunde (Frenz, NVwZ 2011, S. 275 ≪276≫ m.w.N. in Fn. 4), das nicht zwingend bauliche Veränderungen voraussetzt, sondern auch bei der Ausübung sonstiger das Schutzgebiet gefährdender Tätigkeiten erfüllt sein kann (OVG Münster, Beschluss vom 21. Februar 2011 – 8 A 1837/09 – NuR 2011, 591, juris Rn. 21 ff.).
Rz. 30
Offen bleiben kann im vorliegenden Zusammenhang, ob dieser wirkungsbezogene Projektbegriff insbesondere mit Blick auf die in § 33 BNatSchG geregelten allgemeinen Veränderungs- und Störungsverbote (zu den im Schrifttum angemeldeten Zweifeln an der Unionsrechtskonformität der in § 33 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG vorgesehenen Abweichungsmöglichkeit, die nach Art. 6 der FFH-RL allein auf Pläne und Projekte bezogen ist, siehe etwa Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Band II, Stand Juni 2012, § 33 Rn. 10) einer eingrenzenden Präzisierung bedarf, etwa dahingehend, dass Projekte im Sinne des § 34 BNatSchG ein planmäßiges Einwirken auf Schutzgebiete voraussetzen. Einzelne Tiefflüge, die ad hoc angeordnet oder durchgeführt werden, wären unter dieser einschränkenden Voraussetzung zwar von der Regelung des § 34 BNatSchG nicht erfasst und unterlägen deshalb auch nicht der Verbandsmitwirkung nach § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG. Für die streitgegenständlichen Tiefflüge über dem Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide spielen entsprechende Überlegungen indes ersichtlich keine Rolle. Das gilt auch dann, wenn – wie die Vertreter der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgetragen haben – über die dort durchzuführenden Tiefflüge zumindest teilweise ebenfalls tagesaktuell entschieden wird. Denn dem Kläger geht es – wie die Beklagte selbst einräumt – nicht um eine Mitwirkung bei der Entscheidung über die einzelnen Flüge, sondern um die dahinter stehende Grundentscheidung der Bundeswehr, das Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide wegen des dort angesiedelten Truppenübungsplatzes in bestimmter Regelmäßigkeit und Intensität für Tiefflugübungen zu nutzen. Diese Grundentscheidung ist von langer Hand geplant und einer habitatschutzrechtlichen Überprüfung unter Mitwirkung des Klägers ohne Weiteres zugänglich.
Rz. 31
3. Das Oberverwaltungsgericht hätte deshalb nicht offen lassen dürften, ob die geplanten Tiefflugübungen zu erheblichen Beeinträchtigungen des FFH-Gebiets Colbitz-Letzlinger Heide führen können. Es hätte insbesondere Feststellungen dazu treffen müssen, ob sich anhand objektiver Umstände ausschließen lässt, dass die geplanten Tiefflüge das dort vorhandene Schutzgebiet in seinen Erhaltungszielen beeinträchtigen. Mangels entsprechender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 VwGO). Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Unterschriften
Prof. Dr. Rubel, Dr. Gatz, Dr. Bumke, Petz, Dr. Decker
Fundstellen
BVerwGE 2013, 176 |
BauR 2013, 1660 |
BauR 2014, 312 |
DÖV 2013, 823 |
JZ 2013, 442 |
NJ 2013, 11 |
NuR 2013, 656 |
ZUR 2013, 541 |
ZfBR 2013, 696 |
BayVBl. 2013, 3 |
DVBl. 2013, 1047 |
DVBl. 2013, 3 |
NordÖR 2013, 296 |
BBB 2013, 60 |
SächsVBl. 2013, 4 |