Entscheidungsstichwort (Thema)
Normenkontrolle. Antragsbefugnis. Nachteil. Rechtsverletzung. 6. VwGOÄndG. Änderung des Prozeßrechts. intertemporales Prozeßrecht. Vertrauensschutz. Rechtsmittelsicherheit. Verfahrensposition
Leitsatz (amtlich)
Die Neufassung der Antragsbefugnis in § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO (Gesetz vom 1. November 1996, BGBl I S. 1626) gilt nicht für Normenkontrollanträge, die vor dem 1. Januar 1997 gestellt worden sind.
Normenkette
VwGO § 47 Abs. 2 S. 1; 6. VwGOÄndG Art. 10; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 16.07.1997; Aktenzeichen 11a D 82/94.NE) |
Tenor
Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 1997 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Antragsteller sind Eigentümer von Einfamilienhäusern im Bereich eines im Jahre 1980 erlassenen Bebauungsplans. Mit ihrem im Juni 1994 eingegangenen Normenkontrollantrag wenden sie sich gegen den Bebauungsplan Nr. 14 „Südlich P. Straße” vom 18. November 1980 in der Fassung der 1. Änderung dieses Bebauungsplans vom Dezember 1993. Durch den Bebauungsplan werden im nordwestlichen Planbereich mehr Wohneinheiten als bisher zugelassen. Die Antragsteller machen geltend, die dadurch bedingte Zunahme des Kraftfahrzeugverkehrs beeinträchtige sie unzumutbar. Außerdem komme es durch die Verfüllung eines Grabens bei starken Regenfällen im einem Teilbereich ihrer Wohnstraße zu Überschwemmungen.
Das Normenkontrollgericht hat den Antrag durch Beschluß vom 16. Juli 1997 als unzulässig abgewiesen. Die Neuregelung der Antragsbefugnis in § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO durch das 6. Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung – 6. VwGOÄndG – vom 1. November 1996 (BGBl I S. 1626) sei auch auf solche – noch anhängige – Verfahren anwendbar, die vor dem 1. Januar 1997 eingeleitet worden seien. Das Vorbringen der Antragsteller ergebe nicht, daß der Änderungsplan ihr Eigentumsrecht oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletze. Die Verkehrsbelästigungen seien vom Umfang her zumutbar. Sie seien zudem überwiegend nicht durch die Festsetzungen des Bebauungsplans bedingt, sondern durch den schlechten Ausbauzustand der Straße und die Nichtverwirklichung der im Bebauungsplan vorgesehenen Anbindung der P.straße C an die P. Straße. Der Plan enthalte auch keine Festsetzung für die Verfüllung des Grabens, sondern gebe diesen nur nachrichtlich wieder.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Antragsteller hat der Senat die Revision zur Klärung der Frage zugelassen, ob § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO n.F. auch auf vor dem 1. Januar 1997 gestellte Normenkontrollanträge anwendbar ist.
Mit der Revision verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter, den Bebauungsplan in der Fassung der 1. Änderung vom 16. Dezember 1993 für nichtig zu erklären.
Die Antragsgegnerin tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
Über die Revision kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten damit einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Revision ist begründet. Der Beschluß des Normenkontrollgerichts beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht. Da für eine abschließende Entscheidung weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind, ist die Sache an des Normenkontrollgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Neufassung der Antragsbefugnis in § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO (Gesetz vom 1. November 1996, BGBl I S. 1626) gilt nicht für Normenkontrollanträge, die vor dem 1. Januar 1997 gestellt worden sind. Die gegenteilige Auffassung des Normenkontrollgerichts trifft nicht zu.
Das Normenkontrollgericht folgert aus dem Wortlaut von Art. 11 und Art. 10 Abs. 4 des 6. VwGOÄndG, daß über die Antragsbefugnis für vor dem 1. Januar 1997 erhobene Normenkontrollanträge nach Maßgabe der Neufassung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu befinden … 10 Abs. 4 des … 6. VwGOÄndG sei für die Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ausdrücklich eine Übergangsbestimmung getroffen worden. Da für die sachliche Antragsbefugnis eine Übergangsregelung fehle, folge daraus im Umkehrschluß der Wille des Gesetzgebers, die Antragsbefugnis auch für bereits anhängige Verfahren an die Voraussetzungen der Neufassung des § 47 Abs. 2 VwGO zu knüpfen. Diese sich aus dem Wortlaut der Übergangsvorschriften ergebende Regelung entspreche auch dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozeßrechts, wonach Änderungen des Verfahrensrechts mit ihrem Inkrafttreten grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten erfaßten. Die für Rechtsmittelverfahren aus Gründen des Vertrauensschutzes entwickelte Einschränkung dieses Grundsatzes – dazu nimmt das Normenkontrollgericht auf BVerfGE 87, 48 Bezug gelte hier nicht, weil das Normenkontrollverfahren kein Rechtsmittelverfahren sei.
Diese Auffassung wird dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht gerecht. Das Normenkontrollgericht übersieht insbesondere, daß dieser Vertrauensschutz nicht auf Rechtsmittel im engeren Sinn beschränkt, sondern ganz allgemein dann zu beachten ist, wenn der Gesetzgeber auf eine bislang gegebene verfahrensrechtliche Lage einwirkt, in der sich der Bürger befindet (vgl. BVerfGE 63, 343 ≪359≫). Die „Rechtsmittelsicherheit” – in engerem Sinn – ist nur eine, nicht aber die einzige mögliche Folge der Anwendung des allgemeineren Grundsatzes. Das wird auch in der vom Normenkontrollgericht erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich, in der wegen der konkreten Fallgestaltung zwar von Rechtsmittelsicherheit die Rede ist, die aber auf den o.g. allgemeineren Grundsatz des Vertrauensschutzes im Verfahrensrecht ausdrücklich Bezug nimmt (BVerfGE 87, 48 ≪63≫).
Entscheidend ist somit nicht, ob das Normenkontrollverfahren ein Rechtsmittelverfahren im engeren Sinn ist (so aber Jörg Schmidt in Eyermann, VwGO, 10. Aufl., Rn. 43 zu § 47), sondern ob und inwieweit auch die bereits erlangte Verfahrensstellung in einem Normenkontrollverfahren Vertrauensschutz dergestalt genießt, daß die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Einschränkung des allgemeinen Grundsatzes des intertemporalen Prozeßrechts – also: Entzug der Verfahrensstellung nur bei hinreichend deutlicher gesetzlicher Regelung – auch hier gilt (ebenso Beckmann/Kleefisch, NVwZ 1997, 1193/1195).
Für diese Frage kommt es nicht entscheidend darauf an, daß das Normenkontrollverfahren nicht – nur – der Durchsetzung einer materiellen Rechtsposition dient und daß die Verschärfung der Antragsbefugnis durch § 47 Abs. 2 VwGO n.F. nur die „nicht substantiell Normbetroffenen” (vgl. Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn. 45 zu § 47) oder nur einen „Randbereich der subjektiven Betroffenheit” (vgl. BayVGH, Urteil vom 4. Juni 1997 – Az. 26 N 96.2963 – BayVBl 1997, 591) berührt. Der das intertemporale Prozeßrecht modifizierende Grundsatz des Vertrauensschutzes hat seine Grundlage nämlich nicht in der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, sondern im Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 87, 48 ≪61≫).
Für den Vertrauensschutz kommt es daher nicht in erster Linie darauf an, ob ein Verfahren zur Gewährleistung des Rechtsschutzes unbedingt erforderlich oder nur hilfreich ist. Die Trennlinie verläuft vielmehr zwischen solchen Verfahrensbestimmungen, die lediglich einer Änderung der modalen Ausgestaltung des Verfahrens dienen und auf die sich der Betroffene einstellen kann (vgl. BVerfGE 63, 343 ≪359≫: technische Regelungen oder „Spielregeln”) und solchen Bestimmungen, die einen bereits eingeräumten „Anspruch” auf eine Sachentscheidung nachträglich beseitigen. Der – nachträgliche – Entzug einer solchen Verfahrensposition, die für den Bürger mit nicht unerheblichen Vorteilen verbunden war, mag unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes mehr oder weniger problematisch sein. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes tritt der Verlust einer solchen Verfahrensposition jedenfalls nur ein, wenn das die Änderung verfügende Gesetz selbst hinreichend deutlich diesen Verlust ausspricht. Der Gesetzgeber soll sich selbst Klarheit darüber verschaffen, ob und aus welchen Gründen er die mit der Beseitigung einer solchen Verfahrensposition verbundenen Folgen in Kauf nehmen will. In diesem Zusammenhang können auch Erwägungen zum Gleichheitssatz eine Rolle spielen: Die Antragsteller eines Normenkontrollverfahrens haben wenig Einfluß darauf, wann das Gericht über ihren Antrag entscheidet. Es erscheint deshalb auch unter diesem Aspekt zumindest begründungsbedürftig, ihnen eine Verfahrensposition zu entziehen, die bei anderen Antragstellern wegen einer zügigeren Bearbeitung durch das Gericht möglicherweise zu einem Verfahrenserfolg geführt hat.
Schließlich ist die Verfahrensposition eines Normenkontrollklägers, der sich „lediglich” auf einen Nachteil beruft, auch nicht von so geringem Gewicht, daß der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes völlig zurücktreten müßte. Gerade bei Bebauungsplänen kann der Grundstückseigentümer auf diesem Wege unter Umständen für die Nutzung seines Grundstücks wichtige planerische Vorgaben angreifen und Nachteile abwehren, auf deren Vermeidung er zwar möglicherweise keinen Rechtsanspruch hat, die aber gleichwohl dem Gebot planerischer Abwägung nicht entsprechen. Da ohnehin nur nicht geringfügige und schutzwürdige Belange des Grundstückseigentümers für die Begründung eines Nachteils im Sinne von § 47 Abs. 2 VwGO a.F. ausreichten, war auch die unterhalb der Schwelle der Rechtsbeeinträchtigung liegende Möglichkeit der Abwehr nachteiliger Planungen eine Position von nicht geringem materiellem Gehalt. Es besteht kein Grund, dieser Position keinen verfahrensrechtlichen Vertrauensschutz zukommen zu lassen (im Ergebnis ebenso: Lotz, BayVBl 1997, 257/266; Schmitz-Rode, NJW 1998, 415/417; Beckmann/Kleefisch, NVwZ 1997, 1193; OVG Lüneburg, NVwZ 1997, 1222; BayVGH, BauR 1997, 435; BayVGH, BayVBl 1998, 80).
Die Neufassung der Antragsbefugnis in § 47 Abs. 2 VwGO könnte deshalb auf Altfälle nur dann angewandt werden, wenn eine Übergangsregelung das mit der rechtsstaatlich gebotenen Eindeutigkeit bestimmen würde. Das ist nicht der Fall. Die Übergangsbestimmungen in Art. 10 des 6. VwGOÄndG enthalten keine ausdrückliche Regelung dieser Frage. Aus der Tatsache, daß Art. 10 Abs. 4 des 6. VwGOÄndG eine Übergangsregelung hinsichtlich der Antragsfrist des Art. 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO n.F. enthält, kann nicht – jedenfalls nicht mit hinreichender Deutlichkeit – der Umkehrschluß gezogen werden, daß im übrigen die Neufassung des § 47 Abs. 2 VwGO auch für Altfälle gelten soll. Die Gesetzesmaterialien enthalten hierzu keinerlei Ausführungen. Solche Ausführungen hätte man aber erwarten können, wenn der Gesetzgeber diesen nicht unerheblichen Eingriff in die Verfahrensposition der Normenkontrollkläger tatsächlich gewollt hätte. Es liegt deshalb die Annahme näher, daß der Gesetzgeber das Überleitungsproblem bei der Antragsbefugnis des § 47 Abs. 2 VwGO übersehen hat. Das hat zur Folge, daß auf die vor dem 1. Januar 1997 eingeleiteten Normenkontrollanträge hinsichtlich der Antragsbefugnis auf § 47 Abs. 2 VwGO a.F. abzustellen ist.
Das Normenkontrollgericht hat, von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht, nur geprüft, ob die Antragsteller eine Rechtsverletzung geltend gemacht haben. Die Verneinung dieser Frage schließt es nicht aus, daß die Antragsteller unter dem Gesichtspunkt des „Nachteils” im Sinne von § 47 Abs. 2 VwGO a.F. antragsbefugt sind. Zur Klärung dieser Frage ist die Sache daher an das Normenkontrollgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Hien, Heeren, Rojahn
Fundstellen
Haufe-Index 1474722 |
NJW 1998, 2991 |
BVerwGE |
BVerwGE, 237 |
BauR 1998, 637 |
NVwZ 1998, 731 |
DÖV 1998, 604 |
NJ 1998, 386 |
NuR 1998, 427 |
SGb 1999, 518 |
ZfBR 1998, 204 |
BayVBl. 1998, 473 |
DVBl. 1998, 775 |
UPR 1998, 270 |