Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege in der Familie der Großeltern. Großmutter, Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege in der Familie der –. Vollzeitpflege, Hilfe zur Erziehung in – durch Großeltern. Pflegeperson, Großmutter als – ihres Enkelkindes. Jugendhilfe, Nachrang der – gegenüber bürgerlich rechtlichen Unterhaltspflichten
Leitsatz (amtlich)
- Der Anspruch auf Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege steht dem Personensorgeberechtigten zu.
- Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (einschließlich der sie ergänzenden Leistungen zum Unterhalt nebst den Kosten der Erziehung) ist nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Betreuung durch die Großeltern in deren Familie erfolgt.
- Deckt ein Verwandter im Einvernehmen mit dem Personensorgeberechtigten den erzieherischen Bedarf des Kindes bzw. Jugendlichen unentgeltlich, scheitert ein Anspruch des Personensorgeberechtigten auf öffentliche Jugendhilfe am fehlenden Bedarf; Hilfe zur Erziehung ist nicht “notwendig” i.S. von § 27 Abs. 1 SGB VIII (wie BVerwGE 100, 178 ≪181≫).
- Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege durch die Großeltern besteht nur, wenn die Großeltern die Betreuung ihres Enkelkindes nicht in Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht leisten und zur unentgeltlichen Pflege nicht bereit sind.
Normenkette
SGB VIII (F. 1990) § 5; SGB VIII (F. 1990) § 10 Abs. 1 S. 1; SGB VIII (F. 1990) § 27; SGB VIII (F. 1990) § 33; SGB VIII (F. 1990) § 39; SGB VIII (F. 1990) § 93 Abs. 2 Nr. 2; SGB VIII (F. 1990) § 94 Abs. 2; BGB §§ 1603, 1606 Abs. 2-3, § 1607 Abs. 1, §§ 1615 a, 1631 Abs. 1
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 22.06.1995; Aktenzeichen 12 B 94.709) |
VG Augsburg (Entscheidung vom 10.12.1993; Aktenzeichen Au 3 K 93.204) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Juni 1995 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin begehrt vom beklagten Landkreis für ihre Tochter J… Leistungen zum Unterhalt gemäß § 39 Abs. 1 SGB VIII als ergänzende Leistungen zur Hilfe zur Erziehung.
Die 1971 geborene Klägerin ist Mutter zweier Kinder. Ihre im Februar 1988 geborene Tochter J… war seit Februar 1990 bei den Großeltern väterlicherseits untergebracht, weil die Klägerin zu einer dem Wohl des Kindes entsprechenden Erziehung nicht in der Lage war. Die Großeltern haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.
Am 21. November 1991 beantragte die Großmutter namens der Klägerin Hilfe zur Erziehung für das Kind J… durch Gewährung von Leistungen zum Unterhalt, und zwar rückwirkend zum 1. Januar 1991, weil sie bereits zu diesem Zeitpunkt mündlich einen entsprechenden Antrag beim Beklagten gestellt habe. Zu dieser Zeit hatten die Klägerin und J…'s Vater noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Danach trennten sie sich, und die allein sorgeberechtigte Klägerin zog nach A… um. Der Beklagte lehnte die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Pflegegeld mit Bescheid vom 31. März 1992 ab: Voraussetzung für die Hilfe zur Erziehung sei ein erzieherisches Defizit, das bei dem Kind J… jedoch wegen der von den Großeltern geleisteten Pflege nicht vorliege; losgelöst von pädagogischer Hilfestellung dürfe wirtschaftliche Hilfe nach § 39 SGB VIII nicht erbracht werden.
Auf die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1993) durch die Großmutter namens und in Vollmacht der Mutter erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis 28. Februar 1993 Hilfe zur Erziehung einschließlich von Leistungen für den Unterhalt des Kindes J… zu gewähren, wobei der Unterhalt an die Großmutter zu leisten sei.
Auf die Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof – unter Zurückweisung der Berufung im übrigen – das Urteil des Verwaltungsgerichts dahin gehend abgeändert, daß die Verpflichtung des Beklagten festgestellt werde, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis 30. November 1991 und vom 1. März 1992 bis 28. Februar 1993 Leistungen zum Unterhalt des Kindes J… nach § 39 SGB VIII (F. 1991) zu gewähren, und daß im übrigen die Klage abgewiesen werde. Das Urteil ist im wesentlichen wie folgt begründet:
Für den Zeitraum 1. Dezember 1991 bis 29. Februar 1992 sei die Berufung wegen örtlicher Unzuständigkeit des Beklagten begründet, im übrigen habe sie keinen Erfolg. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin sei § 39 in Verbindung mit § 27 Abs. 1 und § 33 SGB VIII. Die Klägerin sei aktivlegitimiert. Das Gesetz knüpfe die wirtschaftliche Hilfe an die erzieherische; wenn erzieherische Hilfe nicht erforderlich sei, solle es keine wirtschaftliche Hilfe geben. Bleibe das Jugendamt jedoch – wie im vorliegenden Fall – untätig, obgleich der Hilfesuchende einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung habe, so sei wirtschaftliche Hilfe nicht ausgeschlossen. Die Klägerin habe einen Anspruch nach § 27 Abs. 1 und § 33 SGB VIII gehabt; denn sie sei im fraglichen Zeitraum zu einer dem Wohl des Kindes entsprechenden Erziehung nicht in der Lage gewesen. Allein dies sei entscheidend, weil der Anspruch aus § 27 Abs. 1 SGB VIII dem Personensorgeberechtigten und nicht etwa den Pflegeeltern zustehe. Die Gründe, die unter der Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes zu der Annahme geführt hätten, öffentliche Jugendhilfe sei nicht erforderlich, wenn das Kind bei seinen Großeltern in geordneten Verhältnissen aufwachse, ließen sich nach Inkrafttreten des Achten Buches des Sozialgesetzbuches nicht mehr anführen. Die begehrte Hilfe sei geeignet und notwendig gewesen. Die Vollzeitpflege J…'s bei den Großeltern (§ 33 SGB VIII) habe dem erzieherischen Bedarf entsprochen, und die Klägerin sei auf die Hilfe infolge ihrer instabilen Situation angewiesen gewesen.
Auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Bewilligung seien erfüllt gewesen. Der Beklagte habe Anfang 1991 von den Umständen zumindest soweit Kenntnis erhalten, daß weitere Ermittlungen wegen des Hilfebedarfs angezeigt gewesen wären. Daran, daß sich die Klägerin lediglich wegen wirtschaftlicher Hilfe an den Beklagten gewandt hatte, sei der Beklagte nicht gebunden gewesen. Denn Leistungen nach §§ 27 ff. SGB VIII seien keine Leistungen, die nur auf Antrag gewährt würden. Mit dem Ersuchen um wirtschaftliche Hilfe habe die Klägerin kein Desinteresse am erzieherischen Kern des Anspruchs bekundet, vielmehr nur an die unter Mithilfe des Landkreises N…-S… gefundene erzieherische Lösung des Falles angeknüpft.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten; er rügt Verletzung der §§ 27, 33, 39 SGB VIII.
Die Klägerin und der Oberbundesanwalt verteidigen das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig. Der Vertreter des Beklagten hat die Revision ordnungsgemäß schriftlich eingelegt. Für die eigenhändige Namensunterschrift genügt ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender individueller Schriftzug, der charakteristische Merkmale aufweist, sich als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen läßt (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 1993 – V ZR 112/92 – ≪NJW 1994, 55≫). Dem genügt der Schriftzug des Beklagtenvertreters im Revisionsschriftsatz über der maschinenschriftlichen Wiedergabe seines Namens.
In Streit ist, da die Klägerin gegen die Abweisung ihrer Klage für die Monate Dezember 1991 bis Februar 1992 keine Revision eingelegt hat, nur noch die Verpflichtung des Beklagten, für die Monate Januar 1991 bis November 1991 und März 1992 bis Februar 1993 Leistungen zum Unterhalt im Sinne des § 39 SGB VIII dem Grunde nach zu gewähren. Für diese Zeiträume ist das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Achte Buch Sozialgesetzbuch – SGB VIII – in der ursprünglichen Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG –) vom 26. Juni 1990 (BGBl I S. 1163) maßgeblich. Die Änderungen durch Art. 5 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27. Juli 1992 (BGBl I S. 1398) betrafen nur den hier nicht einschlägigen § 24 SGB VIII und Art. 10 KJHG. Art. 14 KJHG in seiner mit Wirkung vom 1. Januar 1991 geänderten Fassung durch Art. 2 Nr. 2 und Art. 7 Abs. 1 Satz 1 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl I S. 239) kommt im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, weil – wie das Berufungsgericht mit im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO bindender Wirkung festgestellt hat (Urteilsabdruck S. 11 f.) – die hier streitige Hilfe zur Erziehung am Tage des Inkrafttretens des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nicht bereits eingeleitet worden war.
Die Revision hat auch Erfolg. Das angegriffene Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da jedoch eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch tatsächliche Feststellungen erfordert, die zu treffen dem Revisionsgericht verwehrt ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), muß die Sache zur weiteren Sachaufklärung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden.
Zu Recht hat das Berufungsgericht die Befugnis der Klägerin bejaht, den Anspruch aus § 39 in Verbindung mit § 27 Abs. 1, § 33 SGB VIII geltend zu machen. Denn der Anspruch auf Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege steht als “Annex-Anspruch” (vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf eines KJHG, BTDrucks 11/5948 S. 75 zu § 38 Abs. 1) zum Anspruch auf Hilfe zur Erziehung ebenfalls dem Personensorgeberechtigten (§ 27 Abs. 1 SGB VIII; vgl. Stähr, in: Hauck, SGB VIII, Std.: XII/96, § 39 Rn. 5; Münder u.a., Frankfurter LPK-KJHG, 2. Aufl. 1993, § 39 Rn. 6), nicht aber dem Kind bzw. dem Jugendlichen als dem auf Unterhalt Angewiesenen zu (so aber z.B. Wiesner, SGB VIII, 1995, § 39 Rn. 16). Zwar kommen auch Kinder als Leistungsberechtigte nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch in Betracht (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Soweit aber im Achten Buch Sozialgesetzbuch der Anspruchsberechtigte nicht ausdrücklich angegeben ist, ist zu berücksichtigen, daß Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind (§ 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Es ist deshalb davon auszugehen, daß Leistungen, die – wie die Leistungen zum Unterhalt – die Hilfe zur Erziehung ergänzen sollen (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII, § 27 Abs. 1 Nr. 4 SGB I), bei Fehlen einer anderweitigen ausdrücklichen Zuweisungsnorm ebenfalls den Personensorgeberechtigten zustehen.
Zutreffend ist das Berufungsgericht auch davon ausgegangen, dem Anspruch aus § 39 SGB VIII könne nicht entgegengehalten werden, daß der Beklagte keine Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27, 33 SGB VIII geleistet hat. Zwar setzt § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nach seinem Wortlaut voraus, daß Hilfe zur Erziehung nach den §§ 32 bis 35 gewährt wird. Dies kann jedoch nicht in den Fällen gelten, in denen der Träger der Jugendhilfe die Voraussetzungen für die Gewährung erzieherischer Hilfe verneint und mit Rücksicht darauf ein auf die Erziehung des Kindes oder des Jugendlichen gerichtetes Tätigwerden von vornherein ablehnt. In Fällen dieser Art hat der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung, wenn der Minderjährige die für erforderlich gehaltene erzieherische Hilfe tatsächlich von einem zur Tragung der hierbei anfallenden Kosten nicht bereiten Dritten erhalten hat, den zuständigen Jugendhilfeträger für verpflichtet gehalten, Jugendhilfe durch Übernahme der Kosten der Erziehungsmaßnahme und demzufolge auch “wirtschaftliche Jugendhilfe” zu leisten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung öffentlicher Jugendhilfe für die tatsächlich erhaltene Erziehung vorgelegen haben und diese Kosten nicht vom Minderjährigen oder seinen Eltern zu tragen sind (BVerwG, Beschluß vom 25. August 1987 – BVerwG 5 B 50.87 – ≪Buchholz 436.51 § 5 JWG Nr. 2≫ sowie Urteile vom 13. Juni 1991 – BVerwG 5 C 27.88 – ≪Buchholz 436.51 § 6 JWG Nr. 13 S. 13≫, vom 27. Mai 1993 – BVerwG 5 C 41.90 – ≪Buchholz 436.51 § 5 JWG Nr. 4 S. 8≫ und vom 8. Juni 1995 – BVerwG 5 C 30.93 – ≪Buchholz 436.51 § 6 JWG Nr. 15 S. 4≫). Die für diese Rechtsprechung maßgeblichen Erwägungen beanspruchen auch Geltung für das neue Jugendhilferecht (vgl. Urteil vom 8. Juni 1995 ≪a.a.O.≫ sowie BVerwGE 100, 178 ≪182≫).
Das Berufungsgericht ist weiter der Ansicht, der Umstand allein, daß es sich bei der Pflegeperson um die Großmutter des Pflegekindes handelt, stehe Ansprüchen aus den §§ 27, 33, 39 SGB VIII nicht entgegen. Auch das entspricht dem neuen Jugendhilferecht. Der erkennende Senat hat bereits ausdrücklich entschieden (BVerwGE 100, 178 ≪182 f.≫): “Im Rahmen der Hilfe zur Erziehung ist der Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses (§ 39 Abs. 1 SGB VIII) auch dann sicherzustellen, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher von nahen Verwandten oder anderen Personen, die keiner Pflegeerlaubnis bedürfen …, betreut wird (vgl. BTDrucks 11/5948 S. 75).” Dazu gehören auch die Großeltern (§ 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB VIII; vgl. auch die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Vollzeitpflege/Verwandtenpflege, NDV 1992, 181 ≪182≫).
Aus der Erlaubnisfreiheit der Familienpflege durch die Großeltern (§ 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB VIII) folgt – entgegen der Auffassung der Revision – nichts Gegenteiliges. Denn Sinn der Befreiung von dem präventiven Kontrollinstrument des Erlaubnisvorbehalts ist die Einschätzung des Gesetzgebers, daß bei der Verwandtenpflege ein geringeres Gefahrenpotential für das Wohl des zu pflegenden Kindes zu besorgen ist (vgl. BVerwGE 52, 214 ≪217≫), nicht aber eine Inpflichtnahme der Großeltern zu (unentgeltlicher) Vollzeitpflege ihrer Enkelkinder unter Ausschluß öffentlicher Hilfe zur Erziehung.
Die Großeltern gehören auch nicht zur “Herkunftsfamilie” (§ 33 Satz 1 SGB VIII), aus der das Kind J… ursprünglich herkam (vgl. BVerwGE 100, 178 ≪179≫). Denn das war die zunächst aus ihren Eltern, ihrer Schwester und ihr bestehende Familie. Zu dieser Herkunftsfamilie gehörten unmittelbar vor dem Wechsel des Kindes J… zu den Großeltern nur noch ihre Mutter, ihre Schwester und sie. Bei den Großeltern lebt J… in einer “anderen Familie” i.S. des § 33 Satz 1 SGB VIII.
Zutreffend hat schließlich das Berufungsgericht den Anspruch aus § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII davon abhängig gemacht, ob die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27, 33 SGB VIII hatte. Hilfe zur Erziehung setzt nach § 27 SGB VIII allgemein und damit auch für die in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII voraus, daß eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende und für seine Entwicklung notwendige Erziehung nicht gewährleistet ist (§ 27 Abs. 1 SGB VIII), daß sein erzieherischer Bedarf (§ 27 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) ungedeckt ist. Das hat das Berufungsgericht unter tatrichterlicher Würdigung der Verhältnisse bei der Klägerin bejaht. Hierbei ist es davon ausgegangen, entscheidend seien allein die Verhältnisse bei dem Personensorgeberechtigten; die Erziehungstätigkeit der Großmutter (Großeltern) sei dagegen auszublenden. Dies wird den rechtlichen Grundlagen des neuen Jugendhilferechts nur teilweise gerecht.
Der Umstand, daß ein Kind Eltern hat, die seinem Anspruch auf Pflege und Erziehung in eigener Person nicht gerecht werden, bewirkt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht notwendig, daß sein erzieherischer Bedarf ohne Hilfe zur Erziehung ungedeckt ist. Denn die erforderliche Betreuung und Erziehung minderjähriger Kinder kann – worauf der Senat bereits in seinem Urteil vom 15. Dezember 1995 (a.a.O.) hingewiesen hat – auch ohne öffentliche Jugendhilfe z.B. durch einen Vormund oder einen Verwandten geleistet werden. Deckt ein Verwandter im Einvernehmen mit dem Personensorgeberechtigten den erzieherischen Bedarf des Kindes bzw. Jugendlichen unentgeltlich, scheitert ein Anspruch des Personensorgeberechtigten auf öffentliche Jugendhilfe am fehlenden Bedarf; Hilfe zur Erziehung ist nicht “notwendig” i.S. von § 27 Abs. 1 SGB VIII (vgl. BVerwGE 100, 178 ≪181≫). Eine solche Situation war bei der Tochter der Klägerin infolge der Betreuung durch die Großmutter während des Jahres 1990 gegeben.
In Fällen dieser Art kann folglich ein erzieherischer Bedarf erst dann entstehen, wenn die Pflegeperson ihre Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege des Kindes zurückzieht und den Personensorgeberechtigten bzw. das Pflegekind ernsthaft vor die Alternative stellt, für seine, der Pflegeperson, Entlohnung zu sorgen oder auf seine Betreuungsdienste verzichten zu müssen. Erst dann stellt sich die Frage, ob der Personensorgeberechtigte für die Sicherstellung einer aus erzieherischer Sicht erforderlichen Pflege außerhalb des Elternhauses in Form der Verwandtenpflege öffentliche Jugendhilfe in Anspruch nehmen kann. Dies beantwortet sich nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, der die Verpflichtungen Dritter, insbesondere Unterhaltspflichtiger – gerade auch gegenüber Leistungen nach § 39 SGB VIII (vgl. BTDrucks 11/5948 S. 75 zu § 38 Abs. 1) – unberührt läßt.
Großeltern sind zwar zur Pflege und Erziehung ihrer Enkel weder verpflichtet noch – ohne Einwilligung der Eltern – auch nur berechtigt. Denn erst die Personensorge umfaßt das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen und zu erziehen (§ 1631 Abs. 1 BGB). Als in gerader Linie Verwandte sind die Großeltern aber gegenüber ihren unterhaltsbedürftigen Enkelkindern zum Unterhalt verpflichtet (§§ 1601, 1602, 1615a BGB), wenn auch nur nachrangig nach deren Eltern (§ 1606 Abs. 2, § 1607 Abs. 1 BGB). Wird ein Kind außerhalb des Elternhauses gegen Entgelt betreut und erzogen, wandelt sich der von der Mutter nicht durch Naturalunterhalt (vgl. § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB) befriedigte Betreuungsbedarf des Kindes durch die entgeltliche Betreuungsleistung des Dritten um in einen zusätzlichen Barbedarf des Kindes (vgl. KG, Urteil vom 8. Juni 1988 – 18 UF 5843/87 – ≪FamRZ 1989, 778/779 f.≫ und OLG Hamm, Urteil vom 27. Juni 1990 – 5 UF 431/89 – ≪FamRZ 1991, 104/105≫). Der Bedarf des Kindes richtet sich in diesen Fällen nach dem tatsächlich erforderlichen Aufwand für seine Pflege, Versorgung und Erziehung (vgl. Göppinger/Wax u.a., Unterhaltsrecht, 6. Aufl. 1994, Rn. 813). Für ihn haften, nachdem § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB nicht anwendbar ist, die Eltern anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen (§ 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB). Erst wenn und soweit die Eltern nicht leistungsfähig sind im Sinne des § 1603 BGB, haben die Großeltern – väterlicher – wie mütterlicherseits – nach § 1607 Abs. 1, § 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB den Unterhalt zu gewähren, wenn und soweit sie ihrerseits leistungsfähig sind.
Dies bedeutet: Sind die Eltern leistungsunfähig, haben die Großeltern, soweit sie ihrerseits unterhaltspflichtig sind, Unterhalt zu gewähren, den sie auch dadurch erbringen können, daß sie das Kind mit Einwilligung der Eltern zu sich nehmen, versorgen und betreuen (vgl. LG Schweinfurt, Urteil vom 2. Oktober 1974 – 3 S 20/74 – ≪DAVorm 1974, 617 ff.≫). Verpflichtet sind sie hierzu nicht; wenn sie sich aber – im Interesse des Kindes und/oder aus Gründen der Kostenersparnis – dafür entscheiden, das Kind selbst zu versorgen und zu erziehen, können sie hierfür kein Entgelt verlangen. Denn insoweit erfüllen sie mit ihrer Betreuungsleistung ihre Unterhaltspflicht natural, für deren Erfüllung sie sonst, übernähme sie ein Dritter, Barunterhalt leisten müßten. Daß Großeltern nach den §§ 91 ff. SGB VIII nicht zu den Kosten der Jugendhilfe beitragen müssen und nach § 94 Abs. 2 SGB VIII auch Unterhaltsansprüche gegen sie nicht übergeleitet werden können, berührt ihre Unterhaltspflicht gegenüber ihren Enkeln nicht. Soweit Großeltern ihre Unterhaltspflicht statt durch Barunterhalt durch naturale Betreuung erfüllen, ist eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung gewährleistet und öffentliche Jugendhilfe nicht erforderlich (§ 27 Abs. 1 SGB VIII).
Sind die Eltern dagegen (ganz oder teilweise) leistungsfähig oder sind neben den betreuenden Großeltern weitere Großeltern anteilig unterhaltspflichtig, tritt insoweit eine Unterhaltspflicht der betreuenden Großeltern nicht ein. Eine durch sie geleistete Betreuung kann sich folglich insoweit auch nicht als naturale Erfüllung einer sie treffenden Unterhaltspflicht darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 1981 – IVb ZR 587/80 – ≪NJW 1981, 1559≫). Der Nachrang öffentlicher Jugendhilfe kann deshalb insoweit nicht durch Verweis auf die von den Großeltern erbrachten Betreuungsleistungen zum Tragen gebracht werden. Vielmehr ist Jugendhilfe – einschließlich der Leistungen nach § 39 SGB VIII – auf Kosten des Jugendhilfeträgers zu leisten. Der Nachrang öffentlicher Jugendhilfe kann, soweit eine unterhaltsrechtliche Leistungspflicht der Eltern besteht, nur durch Festsetzung eines Kostenbeitrags nach Maßgabe des § 92 Abs. 3 i.V.m. § 91 Abs. 1 Nr. 5, § 93 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII aktualisiert werden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – bisher die unterhaltsrechtliche Situation des Pflegekindes J… nicht aufgeklärt. Das nötigt zur Zurückverweisung an die Vorinstanz. Bei der erneuten Verhandlung der Sache wird der Verwaltungsgerichtshof auch der Frage nachgehen müssen, ob die Großmutter in dem oben beschriebenen Sinn ernsthaft ihre Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege ihrer Enkeltochter – wie sie nach der Lebenserfahrung aufgrund der engen familiären Verbundenheit zwischen Großeltern und ihren Enkeln regelmäßig erwartet werden kann – zurückgezogen oder nicht lediglich ihren Willen bekundet hat, in den Genuß wirtschaftlicher Jugendhilfe kommen zu wollen. Dabei wird das Berufungsgericht in tatrichterlicher Verantwortung zu bedenken haben, daß mit der ernsthaften Aufgabe des Willens, ein Enkelkind unentgeltlich zu pflegen, der Pflegefall der fürsorgenden Verantwortung des Jugendhilfeträgers unterstellt wird, auf die der Personensorgeberechtigte zwar nach Maßgabe des § 5 SGB VIII einwirken, die er aber dem Jugendhilfeträger nicht abnehmen kann. Der Jugendhilfeträger hat – dies werden Großeltern und Eltern in solchen Fällen ernsthaft in Betracht ziehen müssen – bei der Entscheidung über einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege auch zu prüfen, ob nicht die Unterbringung in einer anderen – nicht verwandten – Pflegefamilie dem Wohl des Kindes besser entspräche und für seine Entwicklung besser geeignet wäre als die Gewährung der Hilfe in einer Verwandtenpflegestelle (vgl. Urteil des Senats vom 15. Dezember 1995 ≪a.a.O.≫).
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Fundstellen