Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausweisung. assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht. türkische Arbeitnehmer. gemeinschaftsrechtliche Verfahrensgarantien. Widerspruchsverfahren. Gesetzmäßigkeit. Zweckmäßigkeit. zweite Verwaltungsbehörde. “Vier-Augen-Prinzip”. Anordnung der sofortigen Vollziehung. dringender Fall
Leitsatz (amtlich)
- Die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
- Findet die in der Richtlinie geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle (“Vier-Augen-Prinzip”) nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein “dringender Fall” vor.
- Ein “dringender Fall” im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen.
Normenkette
AufenthG §§ 53-55; AuslG §§ 45, 47-48; VwGO §§ 68, 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 5, § 114; Richtlinie 64/221/EWG Art. 9
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 09.03.2004; Aktenzeichen 10 S 1302/03) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 30.04.2003; Aktenzeichen 16 K 5256/02) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 9. März 2004 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland.
Der im November 1975 in Deutschland geborene Kläger kehrte, nachdem er etwa neun Jahre in der Türkei gelebt hatte, mit seiner Familie Ende 1986 nach Deutschland zurück und erreichte hier den Hauptschulabschluss. Im September 1994 erhielt er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Von August 1994 bis Juli 1997 absolvierte er eine Lehre als Maurer und Zimmermann. Bis Ende 1999 war er weiter in seinem Ausbildungsbetrieb beschäftigt. Anschließend war er zunächst bei einer Zeitarbeitsfirma und später in einem Buchverlag tätig. Im Jahre 2001 bezog er etwa drei Monate lang Sozialhilfe.
Im Dezember 2001 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Ecstasy-Tabletten) in zwölf tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Durch Rechtsmittelverzicht des Klägers wurde das Urteil sofort rechtskräftig. Der Kläger befand sich – nach einer kürzeren Untersuchungshaft Mitte 2001 – ab Oktober 2001 in Haft.
Mit Verfügung vom 14. November 2002 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete die sofortige Vollziehung der Ausweisung an und drohte ihm – bezogen auf den Zeitpunkt der Haftentlassung – die Abschiebung in die Türkei an. Ein Antrag des Klägers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes blieb vor dem Verwaltungsgericht ohne Erfolg. Im April 2003 wurde der Kläger aus der Haft in die Türkei abgeschoben.
Die vom Kläger gegen die Ausweisungsverfügung erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Assoziationsrechtliche Vorschriften stünden der Ausweisung nicht entgegen. Es könne unterstellt werden, dass der Kläger Assoziationsberechtigter im Sinne der Art. 6 oder 7 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 sei. Denn seine Ausweisung sei auch nach Maßgabe des Art. 14 ARB 1/80 zulässig. Die vom Regierungspräsidium hilfsweise angestellten Ermessenserwägungen zu einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung des Klägers seien assoziationsrechtlich nicht zu beanstanden. Neue Gesichtspunkte – etwa seine eigene Drogenabhängigkeit – habe der Kläger erst nach Zustellung der Ausweisungsverfügung und damit erst nach dem für die Rechtmäßigkeit der Verfügung maßgeblichen Zeitpunkt vorgetragen. Dass ein Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden sei, sei unschädlich. Die Richtlinie 64/221/EWG sei auf türkische Staatsangehörige nicht anwendbar.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er verweist insbesondere auf die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften sowie auf das seiner Auffassung nach bisher ungeschriebene, nunmehr in der Richtlinie 2004/38/EG ausdrücklich verankerte Prinzip eines weiter erhöhten Ausweisungsschutzes nach längerem Aufenthalt des Ausländers.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist begründet.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Zu Unrecht hat es die Abweisung der Klage auch für den Fall bestätigt, dass sich der Kläger auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation – ARB 1/80 – berufen kann. Vor allem ist es rechtlich fehlerhaft davon ausgegangen, dass die Richtlinie 64/221/EWG – RL 64/221/EWG – unter den hier gegebenen Voraussetzungen keine Anwendung findet (1.). Außerdem hat es die Ausweisung des Klägers nicht an den materiellen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts gemessen, von denen nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und des erkennenden Senats auszugehen ist (2.). Das Berufungsgericht hätte deshalb nicht offen lassen dürfen, ob dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht. Da die Ausweisung im Übrigen nicht gegen innerstaatliches Recht verstößt (3.), kann der Senat in der Sache nicht abschließend zugunsten des Klägers entscheiden. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts nicht selbst beurteilen (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO), ob dem Kläger ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 zusteht. Allerdings hat er wohl in jedem Falle durch seine Lehre und seine weitere Beschäftigung in dem Ausbildungsbetrieb ein solches Recht aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Daneben kommt auch ein Aufenthaltsrecht des Klägers gemäß Art. 7 ARB 1/80 in Betracht. Das Berufungsgericht hat insoweit jedoch keine Feststellungen zur Beschäftigung der Eltern des Klägers im Bundesgebiet getroffen. Durch die Verbüßung seiner Untersuchungs- bzw. Strafhaft hätte er diese assoziationsrechtlich privilegierten Rechtspositionen nicht verloren (vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2004, Rs. C-467/02 – Cetinkaya – InfAuslR 2005, 13 und Urteile vom 7. Juli 2005, Rs. C-383/03 – Dogan – und Rs. C-373/03 – Aydinli –). Der Senat kann auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil auch nicht ausschließen, dass der Kläger aus anderen Gründen seinen assoziationsrechtlichen Status verloren hat.
1. Stünde dem Kläger ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 7 ARB 1/80 zu, so dürfte er nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ausgewiesen werden. Die Bestimmung lautet:
“Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.”
Diese Vorschrift ist nach wie vor anzuwenden. Die Richtlinie 64/221/EWG wird durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30. April 2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) aufgehoben.
Die europarechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben. Der Senat folgt damit der neueren Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. C-136/03 – Dörr und Ünal – InfAuslR 2005, 289).
In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wird – außer in dringenden Fällen – Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO). Denn das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsschutzsystem sieht lediglich eine Kontrolle der “Gesetzmäßigkeit” der Ausweisungsverfügung, nicht jedoch eine Überprüfung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vor. Nach § 114 Satz 1 VwGO ist die gerichtliche Überprüfung von behördlichen Ermessenserwägungen darauf beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Eine Überprüfung der Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns ist den Gerichten danach nicht möglich. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften legt Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG aber dahin aus, dass das Eingreifen der in der Bestimmung genannten (zweiten) “zuständigen Stelle” – neben der “Verwaltungsbehörde” – ermöglichen soll, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme zu bewirken, ehe die Entscheidung endgültig getroffen wird (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 29. April 2004 – Rs. C-482/01 und C-493/01 – Orfanopoulos und Oliveri – Rn. 103 ff., InfAuslR 2004, 268 ≪276 f.≫ m.w.N.; vgl. auch Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. Dörr und Ünal, a.a.O.). Das kann nach der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs auch die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren sein; das deutsche Verwaltungsgericht kann diese Funktion nicht übernehmen. Beim Gericht wäre im Sinne der Rechtsprechung des EuGH nicht gewährleistet, dass eine erschöpfende Prüfung der Zweckmäßigkeit einer nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilenden Ausweisungsverfügung vorgenommen und damit den Erfordernissen eines hinreichend effektiven Schutzes im Sinne der Richtlinie genügt wird. Der EuGH hat dies in den genannten Entscheidungen sowohl für das deutsche als auch für das dem deutschen insoweit vergleichbare österreichische Rechtsschutzsystem ausgesprochen. Daraus folgt, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei Ausweisungen die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde (“Vier-Augen-Prinzip”) entfallen ist. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Ausweisungen sind daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es hätte ein “dringender Fall” im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen.
Nach den Feststellungen und Erläuterungen des Berufungsgerichts zum baden-württembergischen Landesrecht war auch im Falle des Klägers das Regierungspräsidium für die Ausweisung zuständig und ein Vorverfahren ausgeschlossen (UA S. 8). Damit war keine weitere unabhängige Stelle in der Verwaltung mit der Ausweisungsverfügung gegen den Kläger befasst. Die angefochtene Ausweisung wäre deshalb unter Verstoß gegen eine gemeinschaftsrechtliche Verfahrensgarantie ergangen, wenn der Kläger sich hierauf berufen könnte.
Ein Verfahrensfehler läge nur dann nicht vor, wenn ein “dringender Fall” im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gegeben war. In derart dringenden Fällen kann ausnahmsweise von der Beteiligung einer zweiten Stelle abgesehen werden.
Unter welchen Voraussetzungen ein dringender Fall anzunehmen ist, ist bisher nicht geklärt. Die frühere Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, die Beurteilung, ob ein dringender Fall vorliege, sei allein Sache der Verwaltung und von den Gerichten nicht zu überprüfen (Urteil vom 5. März 1980, Rs. C-98/79 – Pecastaing – Slg. 1980, 691 Rn. 19 f.), ist nach dessen eigener Rechtsprechung überholt. Der EuGH hat in neueren Entscheidungen das Vorliegen eines dringenden Falles jeweils verneint, obwohl die Verwaltung die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hatte (vgl. etwa die Entscheidungen Orfanopoulos/Oliveri, a.a.O., Rn. 115 und Dörr/Ünal, a.a.O., Rn. 56). Der EuGH hat dabei allerdings bisher nicht näher erläutert, unter welchen Umständen ein dringender Fall zu bejahen und dementsprechend die Beteiligung einer zweiten Stelle nicht erforderlich ist.
Im System der durch die Richtlinie 64/221/EWG verbürgten Verfahrensgarantien stellt das Merkmal der Dringlichkeit einen Ausnahmetatbestand dar. Als Ausnahme damit auch vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist dieses Merkmal besonders eng auszulegen. Ein dringender Fall kann sich daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergeben, sondern kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten ist. Ein dringender Fall kommt demnach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des Hauptverfahrens realisieren. Dann ist auch eine Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar. Die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles ähneln damit den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. zuletzt etwa BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005 – 2 BvR 485/05 – NVwZ 2005, 1053 und ebenso schon Beschluss vom 4. März 1985 – 2 BvR 1642/83 – BVerfGE 69, 220 ≪227 f.≫, jeweils m.w.N.; vgl. auch die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackel vom 2. Juni 2005 in der Rs. C-441/02 Rn. 154 f., insbesondere 162 ff. sowie die Stellungnahme der Europäischen Kommission an die Bundesrepublik Deutschland vom 24. Juli 2000 in demselben Vertragsverletzungsverfahren, S. 15 ff.).
Ein dringender Fall ist danach nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt wird. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung schließt die Dringlichkeit im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vielmehr nur dann ein, wenn sie den in der Richtlinie vorausgesetzten und den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechenden Maßstäben gerecht wird. Die gerichtliche Bestätigung der Anordnung der sofortigen Vollziehung mit der Erwägung, das Rechtsmittel des Ausländers in der Hauptsache habe keine oder nur geringe Erfolgsaussichten, genügt daher nicht, um einen dringenden Fall im Sinne der Richtlinie zu belegen. Vielmehr muss ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt sein, das Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen.
Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen ist, muss nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung ist hierbei vorrangig die Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Diese wird in der Regel entfallen, wenn und solange der Ausländer sich in Haft befindet. Die Anordnungen der sofortigen Vollziehung und die Annahme eines dringenden Falles kommen unter solchen Umständen nur für den Fall infrage, dass der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll. Zu berücksichtigen ist ferner, ob die Ausländerbehörde selbst den Fall als dringlich erachtet und behandelt. Die Annahme eines dringenden Falles scheidet aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibt und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordnet oder von der Anordnung nicht unverzüglich – gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung – Gebrauch macht.
Der Senat kann die Frage der Dringlichkeit im Falle des Klägers nicht beurteilen. Das Berufungsgericht hat die Richtlinie 64/221/EWG für nicht anwendbar gehalten und daher keine entsprechenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dies wird es im erneuten Berufungsverfahren gegebenenfalls nachzuholen haben.
2. Das Berufungsurteil verstößt außerdem gegen materielles Gemeinschaftsrecht, wenn dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht.
Der Senat hat mit Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 29.02 – (BVerwGE 121, 315 = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 39) seine Rechtsprechung geändert und entschieden, dass die im alten, Ende 2004 außer Kraft getretenen Ausländergesetz (AuslG) geregelten Tatbestände einer zwingenden Ausweisung und einer Regelausweisung (§ 47 Abs. 1 und 2 AuslG; jetzt: §§ 53 und 54 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) als Rechtsgrundlagen für die Beendigung des Aufenthalts von türkischen Staatsangehörigen ausscheiden, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen. Der Senat hat damit die materiellrechtlichen Grundsätze, die aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 – Orfanopoulos und Oliveri –, a.a.O.) für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger abzuleiten waren (BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 30.02 – BVerwGE 121, 297 = Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 15), auf türkische Staatsangehörige übertragen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können. Auch diese dürfen nur nach den §§ 45 und 46 AuslG (jetzt: § 55 AufenthG) i.V.m. den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Zudem darf nach materiellem Gemeinschaftsrecht eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit – nur auf ein Verhalten des Betroffenen gestützt werden, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des Gemeinschaftsrechts darstellt. Daraus ergibt sich, dass für die gerichtliche Überprüfung der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 29.02 –, a.a.O.; ebenso EuGH, Urteil vom 11. November 2004, Rs. C-467/02 – Cetinkaya – InfAuslR 2005, 13).
Mit dieser geänderten Rechtsprechung ist das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts nicht zu vereinbaren. Zwar ist die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger auf der Grundlage der §§ 47 und 48 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54 AufenthG) hilfsweise auch auf Ermessenserwägungen gestützt. Mit gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ist es jedoch unvereinbar, die Ausweisung tragend oder auch nur – wie hier – mittragend auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des Ausländers liegende sog. generalpräventive Erwägungen zu stützen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 30.02 –, a.a.O.), wie es das Regierungspräsidium getan (vgl. S. 7 und 11 der Ausweisungsverfügung) und das Berufungsgericht im Ergebnis für unbedenklich gehalten hat (vgl. UA S. 16 und 18). Ungeachtet weiterer Einwände des Klägers ist das Berufungsurteil auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil das Berufungsgericht die Gefahr, dass der Kläger erneut Straftaten begeht, in Bezug auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung – hier: im November 2002 – beurteilt hat, ohne spätere Entwicklungen bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht – hier: im März 2004 – zu berücksichtigen. Der Hinweis auf die vom Kläger nachträglich vorgebrachte eigene Drogenabhängigkeit ändert hieran nichts; zumal der Verwaltungsgerichtshof diesen Vortrag zugleich wegen “ganz erheblicher Zweifel” an der Glaubhaftigkeit für unbeachtlich gehalten hat (UA S. 18). Im Übrigen erscheinen die behördlichen und vom Berufungsgericht letztlich nicht beanstandeten Ermessenserwägungen, ohne dass dies abschließender Prüfung bedarf, formelhaft und wohl nicht hinreichend.
3. Der Senat könnte danach nur dann in der Sache selbst abschließend entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), wenn die angefochtene Ausweisungsverfügung bereits nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Ausweisung des Klägers den rechtlichen Anforderungen der §§ 47 und 48 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54 AufenthG) an eine Regelausweisung gerecht wird.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers allenfalls dann wiederum offen lassen kann, wenn es einen dringenden Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sowie eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des Gemeinschaftsrechts durch den Kläger im Zeitpunkt seiner Entscheidung bejaht und der Beklagte im Rahmen des erneuten Berufungsverfahrens nunmehr aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 30.02 –, a.a.O.) eine aktuelle Ermessensentscheidung trifft, die den Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 entspricht. Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 29.02 – (a.a.O.) für Fälle wie den vorliegenden entschieden, dass mit Rücksicht auf die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausweisungsschutz auch für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige den Ausländerbehörden während eines Übergangszeitraums Gelegenheit zur Nachholung der Ermessensentscheidung zu geben ist, wenn die Ausweisung eines nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen als Ist- oder Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 oder 2 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54 AufenthG) ohne Ermessensausübung verfügt worden war. Außerdem sind die Verwaltungsgerichte stets verpflichtet, den Ausländerbehörden in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Aktualisierung der Ermessenserwägungen zu geben, soweit der gerichtlichen Kontrolle neue, nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens entstandene Tatsachen zugrunde zu legen sind.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Dr. Mallmann, Hund, Richter, Beck
Fundstellen
BVerwGE 2006, 217 |
DÖV 2006, 430 |
InfAuslR 2006, 110 |
ZAR 2006, 69 |
BayVBl. 2006, 253 |
DVBl. 2006, 372 |
NordÖR 2006, 102 |