Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen die Aufklärungspflicht und den Überzeugungsgrundsatz;. Indizienbeweis und Nachforschung in Archiven. Unlautere Machenschaften bei Auflösung einer Wohnung von wegen Republikflucht Verurteilten und aus der DDR Abgeschobenen. Anweisung Nr. 30/58 des Ministeriums der Finanzen, für Wohnungsauflösungen bei Republikflucht
Leitsatz (amtlich)
Die Aneignung zunächst beschlagnahmter Sachen von Inhaftierten durch DDR-Stellen anstelle der gebotenen Aushändigung dieser Gegenstände zur Mitnahme in den Westen stellt einen rechtswidrigen manipulativen Eingriff in fremdes Vermögen i.S.v. § 1 Abs. 3 VermG dar.
Normenkette
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 108 Abs. 1; VermG § 1 Abs. 3; EntschG §§ 1, 5a Abs. 5
Verfahrensgang
VG Gera (Entscheidung vom 09.06.1999; Aktenzeichen 3 K 81/97) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 9. Juni 1999 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Kläger begehren Entschädigung für den Verlust ihrer Wohnungseinrichtung und eines Motorrades der Marke Jawa Typ 353.
1971 unternahmen die Kläger den Versuch, die DDR „ungesetzlich” über die Staatsgrenze zur Tschechoslowakei zu verlassen. Sie wurden auf tschechischem Gebiet festgenommen und mit Urteil des Kreisgerichts Jena-Land vom 17. Januar 1972 wegen ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Falle, der Kläger in Tateinheit mit Staatsverleumdung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und die Klägerin zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Die gemeinsame Wohnung der Kläger in Kahla wurde unmittelbar nach ihrer Inhaftierung versiegelt und erst im März 1973 in Gegenwart der Tochter der Klägerin entsiegelt. Um die Jahreswende 1972/1973 wurden die Kläger gemäß Staatsratsbeschluss vom 6. Oktober 1972 aus der Strafhaft entlassen, zur innerdeutschen Grenze verbracht und in die Bundesrepublik Deutschland überstellt. In dem Protokoll über die Abgangsverhandlung vor dem Grenzsicherungsorgan erklärte der Kläger, dass sein Eigentum ihm nicht vollzählig ausgehändigt worden sei und er sich nicht für abgefunden halte.
Mit Beschluss des Bezirksgerichts Gera vom 12. Dezember 1991 wurden die Urteile der DDR-Gerichte aufgehoben und die Kläger rehabilitiert. Zugleich wurden ihnen dem Grunde nach Ansprüche nach Maßgabe des Rehabilitierungsgesetzes zugesprochen. Im März 1992 beantragten die Kläger unter Hinweis auf diese Rehabilitierung eine Entschädigung für ihre in der DDR zurückgebliebenen Sachen, insbesondere für Möbel, Hausrat, Werkzeuge, Kleidung und das genannte Motorrad, deren Wert sie auf ca. 24 500 M schätzten. Zur Begründung des Antrages trugen sie vor, die Entsiegelung der Wohnung sei von der damaligen Leiterin des Standesamtes Kahla, Frau G., vorgenommen worden. Der Tochter der Klägerin sei der Zutritt zur Wohnung verwehrt worden.
Auf Anfrage des Vermögensamtes teilte Frau G. im April 1995 schriftlich mit, sie erinnere sich nur daran, dass sie in amtlicher Eigenschaft verschiedene persönliche Schriftstücke der Kläger an die Tochter übergeben habe. Bei der Räumung der Wohnung sei sie jedoch nicht zugegen gewesen. Die Wohnungsbaugesellschaft Kahla teilte dem Vermögensamt im November 1994 mit, Zwangsräumungen seien nicht durch die kommunale Wohnungsverwaltung durchgeführt worden, sondern durch die Abteilung Inneres des Rates des Kreises Jena-Land. Der Wohnungsbaugesellschaft stünden keine Unterlagen über die Räumung der klägerischen Wohnung zur Verfügung. Das Stadtarchiv Kahla teilte 1994 mit, dass auch bei ihm keine Unterlagen über die Räumung vorhanden seien. Es sei aber davon auszugehen, dass die Räumung offensichtlich durch die genannte Abteilung Inneres oder Organe der Staatssicherheit oder durch die zuständige Kreisbehörde vorgenommen worden sei. In „derartigen Fällen” habe die Polizei zunächst die Wohnung versiegelt. Die Wohnungsauflösung selbst sei Angelegenheit der Abteilung Inneres gewesen. In der Regel sei eine Kommission gebildet worden, der auch Vertreter der Stadt angehörten. Diese habe das Gesamtinventar aufgenommen und später den Räumungsverkauf der Einrichtungsgegenstände eingeleitet. Der Erlös des Verkaufs sei in der Regel zur Deckung der offenen Kosten verwandt worden. Persönliche Dokumente seien bei der zuständigen Abteilung abgeliefert worden. Anfragen des Vermögensamtes nach weiteren einschlägigen Unterlagen bei der Polizeidirektion Jena und dem Landgericht Gera blieben erfolglos. Nach einer telefonischen Anfrage beim Kreisarchiv Jena wurde vermerkt, dass nach Auskunft einer Bediensteten des Kreisarchivs die Namen der Kläger nicht in den Büchern des Kreisarchivs festgehalten seien.
Mit Bescheid vom 31. Mai 1995 lehnte der Funktionsvorgänger des Beklagten den Antrag auf Entschädigung im Wesentlichen mit der Begründung ab, es liege keine schädigende Maßnahme im Sinne des Vermögensgesetzes vor. Ein Eingriff in das Vermögen der Kläger, etwa durch Beschlagnahme oder Verwertung, sei nicht feststellbar. Der Verbleib der abhanden gekommenen Sachen sei nicht aufklärbar. Eine Erlösauskehr sei nicht möglich, da keine Anhaltspunkte für eine Verwertung der Sachen feststellbar seien. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Kläger blieb erfolglos.
Ihre im Januar 1997 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 9. Juni 1999 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, eine schädigende Maßnahme sei nicht feststellbar. Die von den Klägern gewünschte Vernehmung der ehemaligen Standesamtsleiterin, Frau G., sei nicht erforderlich gewesen. Es genüge ihre schriftliche Äußerung, dass sie bei der Auflösung der Wohnung nicht anwesend gewesen sei. Vermutlich seien die persönlichen Unterlagen der Kläger dem Standesamt zur Verwahrung und zum Zwecke der späteren Aushändigung an diese übergeben worden. Eine Umkehr der Beweislast oder ein Anscheinsbeweis greife zugunsten der Kläger nicht ein, da schon keine ausreichende Tatsachenbasis dafür vorhanden sei, ob die Wohnung überhaupt auf staatliche Veranlassung hin aufgelöst worden sei. Trotz der Mitteilung des Stadtarchivs in Kahla über die Modalitäten bei einer Wohnungsauflösung sei der Verbleib der zu entschädigenden Sachen ungeklärt. Hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Wohnung in der Folgezeit staatlicherseits aufgelöst worden sei, fehlten. Möglich wären auch eine Übergabe der eingerichteten Wohnung an die vermietende kommunale Wohnungsverwaltung, eine von dort geleitete Verteilung der zurückgelassenen Einrichtungsgegenstände oder auch eine bloße Übernahme der Wohnungseinrichtung durch die Nachfolgemieter. Ebenso könnten private Dritte nach der Entsiegelung Teile der Einrichtung fortgenommen haben, ohne dass dies staatlichen Stellen zurechenbar gewesen sei. Mangels einer feststellbaren schädigenden Maßnahme i.S. des § 1 VermG komme ein Anspruch auf Entschädigung von vornherein nicht in Betracht.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügen die Kläger die Verletzung sachlichen Rechts. Die Vorinstanz habe gegen bundesrechtliche Grundsätze über den Anscheinsbeweis verstoßen. Es bestehe ein Anscheinsbeweis dafür, dass Wohnungen in Republikfluchtfällen der vorliegenden Art staatlicherseits aufgelöst und persönliche Dokumente bei dem zuständigen Standesamt abgeliefert worden seien. Das Verwaltungsgericht habe die Sache nicht ordnungsgemäß aufgeklärt, da es weder die Tochter der Klägerin noch Frau G. als Zeuginnen vernommen habe und auch den Erwerber des Motorrades und die näheren Umstände der Schädigung nicht ermittelt habe.
Die Kläger beantragen,
unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Gera vom 9. Juni 1999 und des Bescheides des Saale-Holzland-Kreises vom 31. Mai 1995 sowie des Widerspruchsbescheides des Thüringer Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 10. Dezember 1996 den Beklagten zu verpflichten, die Entschädigungsberechtigung der Kläger hinsichtlich der Einrichtung ihrer damaligen Wohnung in Kahla, Alexanderstraße 6, und bezüglich des Motorrades der Marke „Jawa” festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und weist darauf hin, dass allein aus der Räumung der Wohnung und dem dadurch entstandenen Verlust von beweglichen Sachen noch nicht auf eine Schädigung im vermögensrechtlichen Sinne zu schließen sei. Eine unlautere Machenschaft setze eine Maßnahme voraus, die den Verlust des Vermögenswertes zielgerichtet bezweckt habe, wofür im Falle der Kläger nichts ersichtlich sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und mit dem Ergebnis der Zurückverweisung der Sache begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die von den Klägern geltend gemachten Verfahrensmängel liegen vor, da das Verwaltungsgericht den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und seine Pflicht zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat, indem es das Vorliegen einer schädigenden Maßnahme gemäß § 1 VermG ohne eine hinreichende Tatsachenermittlung verneint hat. Die angefochtene Entscheidung beruht auf diesen Verfahrensmängeln und stellt sich auch nicht im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Das Urteil unterliegt deshalb der Aufhebung, und die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Das Verwaltungsgericht hat gegen den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 VwGO verstoßen. Danach entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dabei ist das Tatsachengericht u.a. verpflichtet, bei Bildung der Überzeugung von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt auszugehen (stRspr des BVerwG, vgl. Urteil vom 18. Juli 1986 – BVerwG 4 C 40 – 45.82 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 181; Urteil vom 18. Mai 1990 – BVerwG 7 C 3.90 – BVerwGE 85, 155 ≪158≫). Das Gericht darf nicht so verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse bei der Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebende Umstände nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht in Erwägung zieht (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 – BVerwG 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200, 208 f.).
Eine solche Verkürzung der Tatsachenermittlung und der Entscheidungsbegründung liegt seitens des Verwaltungsgerichts vor. Seine Feststellung, es fehlten hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die damalige Wohnung der Kläger staatlicherseits aufgelöst worden sei, lässt sich anhand der getroffenen Ermittlungen nicht rechtfertigen. Das Verwaltungsgericht hat nämlich ihm bekannte Ermittlungsergebnisse nicht berücksichtigt, ohne darzulegen, weshalb diese Ergebnisse für seine Überzeugungsbildung nicht maßgebend waren. Aus den gesamten Umständen des Falles, nämlich der staatlichen Versiegelung der Wohnung, der ununterbrochenen Inhaftierung der Kläger bis zu ihrer Abschiebung und der offenbar amtlichen Übergabe einzelner persönlicher Dokumente an das Standesamt hat das Verwaltungsgericht nicht die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen. Diese Umstände, aber auch die Mitteilung des Stadtarchivs der Stadt Kahla vom 21. März 1995 sprachen für eine staatliche Beteiligung bei der Wohnungsauflösung, der Fortschaffung der Wohnungseinrichtung und ihrer Verwertung. Aus der Mitteilung des Stadtarchivs ging nämlich hervor, dass allgemein in „derartigen” (Republikflucht-)Fällen zunächst die Polizei die Wohnung versiegelt hat, die Wohnungsauflösung Angelegenheit der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises war, nach Bildung einer entsprechenden Kommission ein Räumungsverkauf eingeleitet und der Erlös zur Deckung offener Kosten verwandt worden ist. Hinzu kam die schriftliche Mitteilung der damaligen Leiterin des Standesamtes, Frau G., wonach verschiedene persönliche Schriftstücke aus der streitbefangenen Wohnung der Tochter der Klägerin übergeben worden sind. Angesichts dieser Mitteilungen hätte sich dem Verwaltungsgericht der Schluss aufdrängen müssen, dass weitere Tatsachenermittlungen geboten waren. Denn es liegt auf der Hand, dass derjenige, der die Wohnung aufgelöst hat, auch die persönlichen Schriftstücke dem Standesamt übergeben haben wird. Dass irgendein privater Dritter in die versiegelte Wohnung eingedrungen ist und dort die Schriftstücke an sich genommen hat, um sie anschließend einer staatlichen Stelle zu übergeben, scheidet nach der allgemeinen Lebenserfahrung nahezu aus. Bei lebensnaher Betrachtung des Vorgangs spricht damit vieles dafür, dass die Wohnung durch eine staatliche Stelle, nämlich den Rat des Kreises oder der Gemeinde geräumt worden ist, was das Verwaltungsgericht nicht hinreichend bedacht hat.
Das Verwaltungsgericht hat auch unter Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) unterlassen, eine erneute Überprüfung und Auswertung der im Kreisarchiv Jena vorhandenen Unterlagen zu veranlassen. Aus ihnen konnte sich Aufschluss über die Umstände der Räumung der Wohnung der Kläger ergeben. Zwar sind die Verwaltungsgerichte auch in vermögensrechtlichen Streitigkeiten grundsätzlich nicht verpflichtet, von sich aus ohne nähere Anhaltspunkte in Archiven nach Unterlagen zu forschen oder Nachforschungen bei Behörden zu veranlassen, bei denen unter Umständen im Zusammenhang mit dem streitbefangenen Vermögenswert Unterlagen entstanden und möglicherweise noch vorhanden sein könnten (Beschluss vom 24. Juli 1998 – BVerwG 8 B 22.98 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 292). Eine solche Beweisermittlung war im vorliegenden Fall aber angebracht, weil aus der bloßen telefonischen Auskunft des Kreisarchivs Jena nicht hervorging, warum angesichts des bisherigen Ermittlungsergebnisses, das für eine mögliche Räumung der Wohnung durch den Rat des Kreises oder der Gemeinde sprach, keine weiteren zielgerichteten Nachforschungen unter Sichtung des gesamten Aktenbestandes und Festlegung bestimmter Suchkriterien durchgeführt worden sind. Im Hinblick auf die Beweisnot der Kläger hätte sich das Verwaltungsgericht nicht mit der bloßen telefonischen Mitteilung seitens des Kreisarchivs begnügen dürfen, dass die Namen der Kläger „in den Büchern” des Kreisarchivs nicht auftauchen würden. Denn dadurch war kein Aufschluss darüber zu erlangen, aus welchen Gründen die Aktenrecherche erfolglos geblieben war und ob die Recherche unter allen denkbaren Suchkriterien durchgeführt worden ist. Eine präzisierte Nachfrage beim Kreisarchiv Jena war auch deshalb angebracht, weil aufgrund der Auskunft des Stadtarchivs der Stadt Kahla vom 21. März 1995 und der Wohnungsbaugesellschaft alles auf eine staatliche Beteiligung bei der Versiegelung und Wohnungsauflösung hindeutete.
Die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen ergab sich auch aus den bestehenden Vorschriften für die Verwaltungsorgane der DDR im Falle einer Wohnungsauflösung bei Republikflucht. Denn nach der „Anweisung Nr. 30/58 zur ‚Anordnung Nr. 2 vom 20. August 1958 über die Behandlung des Vermögens von Personen, die die Deutsche Demokratische Republik nach dem 10.06.1953 verlassen’ (GBl I, 1958 S. 664)” (abgedruckt in: Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Heft 10, Dok. 5) war die Räumung verlassener Wohnungen jedenfalls bei „Republikflüchtigen” durch die Räte der Städte und Gemeinden vorzunehmen (A, I, Nr. 4 der Anweisung) und aktenmäßig zu dokumentieren. Aus dem Abschnitt A, I, Nr. 4, 4. Absatz und B, II, Nr. 1 Buchst. c der Anweisung Nr. 30/58 geht hervor, dass nicht nur Unterlagen bei der Abteilung Inneres zu erstellen waren, sondern auch bei der Abteilung Finanzen, insbesondere beim Aufgabengebiet staatliches Eigentum, da dort alle Fälle aktenmäßig zu erfassen und zu kontrollieren und die bei der Räumung verlassener Wohnungen erzielten Erlöse abzuführen waren. Dem Rat des Kreises – Abteilung Finanzen – oblag die Anleitung und Kontrolle der Gemeinden, wozu die aktenmäßige Erfassung jeden Einzelfalls gehörte (B, II, Nr. 1 lit c der Anweisung). Nach der „Ordnung zur Führung von Akten, die mit der Durchführung der VO vom 11.12.1968 (GBl II/69 S. 1) im Zusammenhang stehen” (abgedruckt in: Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Heft 11, Dok. 41), war die Akte beim Rat des Wohnsitzkreises zu führen (I, Nr. 3 Abs. 1 und Abs. 2 der Ordnung). Nach I Nr. 4 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich der Ordnung hatte die Akte die Nachweise über die Ermittlung, Erfassung, Bewertung und Verwertung des Vermögens zu enthalten. Die Akten waren vom Aufgabengebiet staatliches Eigentum der Räte der Kreise zu verwalten und waren alphabetisch nach Gemeinden und innerhalb der Gemeinden alphabetisch nach den Namen der Eigentümer aufzubewahren (II, Nr. 1 Abs. 1 und 2 der Ordnung). Es war zu gewährleisten, dass durch eine Kerblochkartei oder eine Namenskartei eine Übersicht über alle vorhandenen Akten bestand (II, Nr. 1 Abs. 3 erster Spiegelstrich der Ordnung). Nach Abschluss der Akten und Übertragung sämtlicher beweiskräftiger Daten auf die Kerblochkarte waren die Akten zu archivieren (II, Nr. 1.1 Abs. 1 der Ordnung). Nach den „Erläuterungen zur Ausfertigung von Kerblochkarten für das Vermögen, für das aufgrund der Anordnung Nr. 2 vom 20.08.1958 staatliche Treuhandverwaltung angeordnet wurde” (abgedruckt in: Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Heft 11, Dok. 39), waren bei der Ausfüllung der Karteikarten u.a. die Bruttoverkaufserlöse aus der Verwertung von Möbeln, Maschinen, PKW und sonstiger Gegenstände einzutragen (V, zu 7 – S. 346 – der Erläuterungen). Denn nach der bereits erwähnten Anweisung Nr. 30/58 waren für Möbel, Hausrat und Gegenstände des persönlichen Bedarfs keine staatlichen Treuhänder einzusetzen, sondern diese Gegenstände waren nach vorheriger Inventarisierung und ordnungsgemäßer Schätzung zu veräußern (A Nr. 4 der Anweisung Nr. 30/58).
Selbst wenn diese Anweisungen in erster Linie für die „Republikflüchtigen”, also den Personenkreis, der die DDR „ungesetzlich” verlassen hatte, galten, besteht die nahe liegende Möglichkeit, dass diese Regelungen auch für die Verwertung des beweglichen Vermögens von solchen Personen herangezogen worden sind, die wegen Republikflucht verurteilt, in Haft genommen und unmittelbar im Anschluss daran in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben worden sind.
Das Verwaltungsgericht wird zu diesem Fragenkreis zumindest eine Auskunft des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen einholen müssen. Selbst wenn aber die vorzunehmenden Nachforschungen bei dieser oder anderen Stellen fruchtlos sein sollten, werden die genannten Verwaltungsregelungen durchaus im Wege eines Indizienbeweises als Beleg für die staatliche Beteiligung an der Wohnungsauflösung und Veräußerung von Wohnungseinrichtungen auch für den vorliegenden Fall zu werten sein.
Weiterhin musste sich dem Verwaltungsgericht die Vernehmung der Frau G. und der Tochter der Klägerin aufdrängen. Die Kläger haben vorgetragen und hierfür die Tochter als Zeugin benannt, dass Frau G. in amtlicher Eigenschaft die Wohnung entsiegelt hat. Da Frau G. im Verwaltungsverfahren durch schriftliche Äußerung nur bestritten hat, bei der Räumung der Wohnung zugegen gewesen zu sein und diese nicht notwendigerweise mit einer Entsiegelung zusammenfallen muss, liegt es nahe, dass die gerichtliche Vernehmung der Frau G. als Zeugin weitere Aufschlüsse über den Ablauf von Wohnungsauflösungen erbringen könnte. Dies könnte wiederum weitere Anhaltspunkte für die anzustellende Archivrecherche mit sich bringen.
Bezüglich des vermissten Motorrades hätten sich dem Verwaltungsgericht auch im Hinblick auf die Kopien des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Außenstelle Magdeburg, von dem Zulassungsschein des Motorrades und der Kraftfahrzeug-Steuer- und –Versicherungskarte (vgl. Bl. 37 – 40 GA) weitere Ermittlungen aufdrängen müssen. Es lag nahe, die für das Fahrzeug bestehende Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung oder eine etwaige dafür bestehende Hausratversicherung zu ermitteln. Dabei hätte das Verwaltungsgericht möglicherweise Aufschluss darüber erlangen können, durch wen und wie das Motorrad erworben wurde und wie hoch sein Wert einzuschätzen war.
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruht auch auf diesen Verfahrensfehlern. Nach der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, die im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht, setzt der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Entschädigungsberechtigung voraus, dass der Vermögenswert einer schädigenden staatlichen Maßnahme unterworfen war, mithin ein Schädigungstatbestand des § 1 VermG vorliegt. Den Nachweis einer solchen staatlichen Schädigung hat das Verwaltungsgericht indes aufgrund seiner verkürzten Sachverhaltsaufklärung und verfehlten Tatsachenwürdigung verneint. Die Verfahrensmängel wirken sich damit unmittelbar auf das Ergebnis des Urteils aus. Der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Entschädigungsberechtigung hat dabei zur Voraussetzung, dass die Rückgabe der zu entschädigenden Sachen von der Natur der Sache her nicht mehr möglich ist (vgl. Urteil vom 19. November 1998 – BVerwG 7 C 40.97 – BVerwGE 107, 380 ≪385≫). Dabei ist anerkannt, dass diese Voraussetzung vorliegt, wenn der Verbleib einer beweglichen Sache trotz Ausschöpfung der gebotenen Ermittlungsmöglichkeiten nicht mehr geklärt werden kann (vgl. Urteil vom 19. November 1998, a.a.O., S. 384).
Das Verwaltungsgericht wird im Rahmen der von ihm nachzuholenden Sachverhaltsermittlungen zu würdigen haben, ob das Eigentum der Kläger von einer schädigenden Maßnahme im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG betroffen war. Hier liegt eine vermögensrechtliche Schädigung in Form des Machtmissbrauchs nahe, wenn nämlich unter bewusst rechtswidrigem Einsatz des Machtapparates von Staat oder Partei gezielt auf Vermögenswerte zugegriffen wurde, um diese in Volkseigentum oder in das Eigentum eines Dritten zu überführen (Urteil vom 29. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – BVerwGE 100, 310 ≪312 f.≫). Die Aneignung zunächst beschlagnahmter Sachen von Inhaftierten durch die DDR-Stellen anstelle der gebotenen Aushändigung dieser Gegenstände zur Mitnahme in den Westen, die ohne weiteres möglich war (vgl. Urteil vom 2. Februar 2000 – BVerwG 8 C 29.98 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 10 ≪S. 39≫), stellt einen solchen rechtswidrigen manipulativen Eingriff in fremdes Vermögen dar. Bei der unter diesen Umständen erfolgten Veräußerung ist mithin, gemessen an den in der DDR gültigen Rechtsvorschriften und den sie tragenden ideologischen Grundvorstellungen, „nicht alles mit rechten Dingen zugegangen” (vgl. hierzu Urteile vom 29. Februar 1996 – BVerwG 7 C 59.94 – BVerwGE 100, 310 ≪312≫ und vom 18. Oktober 2000 – BVerwG 8 C 23.99 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Das Verwaltungsgericht wird zu prüfen haben, ob diese Voraussetzungen im Wege einer indiziellen Beweiswürdigung bejaht werden können. Es spricht vieles dafür, dass von einem solchen Verkauf der Wohnungseinrichtung und des Motorrades der Kläger durch den Rat des Kreises oder der Gemeinde nach deren Entlassung in die Bundesrepublik auszugehen ist.
Sollten die gebotenen Ermittlungen ergeben, dass bei der Auflösung der Wohnung wegen Republikflucht Verurteilter durch staatliche Stellen und der anschließenden Verwertung der Wohnungseinrichtung typischerweise das in der Anweisung Nr. 30/58 beschriebene Verfahren praktiziert wurde, kommt auch die Sachverhaltswürdigung im Wege eines Anscheinsbeweises in Betracht. Ein solcher setzt einen Sachverhalt voraus, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig auf einen bestimmten Verlauf hinweist und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falles in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen (stRspr, Senatsurteile vom 24. August 1999 – BVerwG 8 C 24.98 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 305 und vom 2. Februar 2000 – BVerwG 8 C 29.98 – a.a.O. S. 38 f.). Anhaltspunkte für eine derartige Typik können sich aus den oben genannten Verwaltungsanweisungen der DDR, der Auskunft des Stadtarchivs der Stadt Kahla und eine etwaige Verwaltungspraxis in den Fällen der Verurteilung wegen Republikflucht ergeben.
Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Klage auf Feststellung der Entschädigungsberechtigung ist nämlich nicht etwa deshalb unzulässig, weil bereits jetzt feststeht, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Entschädigungsgesetzes zur Gewährung einer Entschädigung nicht vorliegen. Insbesondere steht die Regelung des § 5 a Abs. 5 EntschG der Zulässigkeit nicht entgegen. Mit dieser Regelung ist der Gesetzgeber seiner Verpflichtung, eine gesetzliche Grundlage für eine konkrete Bemessung der Entschädigung zu schaffen, nachgekommen (vgl. hierzu Urteile vom 19. November 1998 – BVerwG 7 C 40.97 – BVerwGE 107, 380 ≪381≫ und vom 18. Oktober 2000 – BVerwG 8 C 23.99 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Für den Senat lässt sich nach den konkreten Umständen des Falles nicht feststellen, ob der begehrten Entschädigung die Regelung des § 5 a Abs. 5 EntschG entgegensteht, wonach eine Entschädigung nur gewährt wird, wenn der Verlust der beweglichen Sachen durch einen im zeitlichen Zusammenhang mit der Schädigung erstellten, schriftlichen Beleg nachgewiesen wird. Über das Vorhandensein eines derartigen zeitnahen schriftlichen Belegs sind bisher keine Feststellungen getroffen. Es erscheint aber nicht ausgeschlossen, dass die vom Gericht vorzunehmenden Nachforschungen auch diesbezüglich Erfolg haben können. Es bedarf daher keiner Entscheidung, welche Anforderungen im Einzelnen ggf. an das Vorliegen eines solchen zeitnahen Belegs zu stellen sind (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2000, a.a.O.).
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. Pagenkopf, Sailer, Krauß, Golze
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 13.12.2000 durch Grosser Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJ 2001, 277 |
ThürVBl. 2001, 247 |