Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverzügliche Anzeige jeden Wechsels der Anschrift nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG
Leitsatz (amtlich)
1. Die "unverzügliche" Anzeige eines Wechsels der Anschrift im Sinne von § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG liegt vor, wenn der Ausländer den Anschriftenwechsel bei den im Gesetz genannten Stellen binnen zwei Wochen, gerechnet ab dem tatsächlichen Umzugstag, angezeigt hat.
2. Die Anzeige nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG ist formlos möglich.
Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 05.06.2020; Aktenzeichen 13 A 11315/19) |
VG Trier (Urteil vom 30.07.2018; Aktenzeichen 6 K 5482/17.TR) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Juni 2020 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
Rz. 1
Die Kläger machen die Feststellung von Abschiebungsverboten geltend.
Rz. 2
Die Kläger zu 1. und 2. - afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens - reisten mit ihren drei zwischen 2002 und 2006 geborenen Kindern - den Klägern zu 3. bis 5. - im August 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihren im September 2016 gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt mit an sie unter ihrer Anschrift in S. adressiertem Bescheid vom 6. März 2017 ab und forderte sie unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung, die keinen Hinweis auf eine mögliche elektronische Dokumentenübermittlung enthielt, hieß es u.a., dass die Klage in deutscher Sprache abgefasst sein müsse.
Rz. 3
Der am 6. März 2017 zur Post gegebene Bescheid des Bundesamtes konnte am 8. März 2017 nicht zugestellt werden, weil die Kläger am 1. März 2017 von S. nach B. umgezogen waren. Die von dem Kläger zu 1. unterschriebene Mitteilung über die Adressänderung ging am 14. März 2017 beim Bundesamt ein. Daraufhin stellte das Bundesamt den Klägern den Bescheid vom 6. März 2017 am 28. März 2017 abermals - nunmehr an die aktuelle Anschrift - zu.
Rz. 4
Auf die dagegen am 7. April 2017 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Kläger ihre Anträge auf die Zuerkennung von Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von subsidiärem Schutz zurückgenommen haben. Im Übrigen hat es die Klage als unzulässig abgewiesen, da sie nicht fristgerecht erhoben worden sei. Die zweiwöchige Klagefrist sei mit der ersten, fingierten Zustellung des Bescheides vom 6. März 2017 in Lauf gesetzt worden. Die Kläger hätten am 1. März 2017 die Wohnung gewechselt und seien in die im Rubrum benannte Anschrift gezogen. Dies hätten sie - obgleich sie vorab in ihrer Muttersprache (Dari/Farsi) u.a. auf die Zustellungsvorschriften und deren Bedeutung hingewiesen worden seien - erst am 14. März 2017 (Eingang beim Bundesamt) und damit nicht unverzüglich angezeigt.
Rz. 5
Auf Antrag der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen und diese Berufung sodann durch Beschluss zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage gegen den mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid des Bundesamtes vom 6. März 2017 sei mangels Einhaltung der zweiwöchigen Klagefrist unzulässig. Die Kläger seien ihrer Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige der Änderung ihrer Anschrift nicht nachgekommen. Dafür wäre eine Mitteilung binnen einer Woche nach dem Umzug erforderlich gewesen; eine solche sei aber nicht erfolgt. Die verspätete Mitteilung ändere nichts daran, dass die Zustellung des Bescheids kraft Gesetzes mit der Aufgabe zur Post als bewirkt gelte und die dadurch in Lauf gesetzte Klagefrist bei Klageerhebung abgelaufen sei. Die neuerliche Zustellung nach Bestandskraft habe die bereits abgelaufene Klagefrist nicht neu in Lauf setzen können. Den Klägern sei schließlich auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Rz. 6
Die Kläger rügen mit der Revision, dass sowohl nach nationalem Recht als auch nach Unionsrecht hinsichtlich der Anzeige des Wechsels der Anschrift keine nach Tagen zu bestimmende Frist, sondern nur eine Obliegenheit zum zügigen Handeln bestehe. Dafür sei regelmäßig eine Frist von zwei Wochen angemessen, aber auch ausreichend. Eine kürzere Frist überspanne die Anforderungen an einen sorgfältigen und gewissenhaften Schutzsuchenden. Auch wenn es keiner Bedenkzeit zur Anzeige des Anschriftenwechsels bedürfe, sei zu berücksichtigen, dass es sich bei den Asylsuchenden um Personen aus einem anderen Kulturkreis handele, die im Umgang mit Behörden nicht vertraut seien. Selbst wenn man eine kürzere Frist für die Mitteilung der geänderten Anschrift annehme, komme es bei einer ohne schuldhaftes Zögern gegenüber Abwesenden abzugebenden Erklärung nicht auf den Eingang, sondern auf die rechtzeitige Absendung an. Andernfalls müsste der Betroffene in der Belehrung darauf ausdrücklich hingewiesen werden.
Rz. 7
Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung. Die Klage sei verfristet. Der Lauf der Klagefrist sei durch die Zustellungsfiktion ausgelöst worden. Denn die spätere Anzeige über den Wechsel der Anschrift sei nicht unverzüglich erfolgt. Da die Anzeige für die Betroffenen von zentraler Bedeutung für ihre Rechtsverfolgung sei, müsse diese Obliegenheit auch aus laienhafter Sicht vordringlich erfüllt werden. Von besonderen Ausnahmen - wie etwa Erkrankungen - abgesehen, sei eine Anzeige nur unverzüglich, wenn sie binnen weniger Tage bis allenfalls einer Woche gemacht werde. Das Unionsrecht rechtfertige keine abweichende Betrachtung.
Rz. 8
Der Vertreter des öffentlichen Interesses beteiligt sich nicht am Verfahren.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die Revision der Kläger, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat Erfolg.
Rz. 10
Der auf der Grundlage von § 130a Satz 2 VwGO ergangene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 10 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 1 Halbs. 2 AsylG). Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, die Klage sei mangels Einhaltung der Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG unzulässig, tragend auf die in § 10 Abs. 2 Satz 1 und 4 AsylG geregelte Zustellfiktion gestützt, obgleich deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Da es an tatsächlichen Feststellungen zu den allein noch streitgegenständlichen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG fehlt, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 11
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist grundsätzlich das Asylgesetz in seiner aktuellen Fassung (derzeit in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 ≪BGBl. I S. 1798≫, zuletzt geändert durch den am 15. Juli 2021 in Kraft getretenen Art. 9 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 ≪BGBl. I S. 2467≫ - AsylG -). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts oder vorrangigen Unionsrechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Für die hier streitige Frage, ob die Klage fristgerecht erhoben worden ist, kommt es hingegen auf die seinerzeit maßgeblichen Bestimmungen an, die sich seitdem aber nicht geändert haben.
Rz. 12
2. Die Klage, die wegen der fehlerfrei erteilten Rechtsbehelfsbelehrung (2.1) binnen zwei Wochen (§ 74 Abs. 1 AsylG) zu erheben war, ist auch fristgerecht erhoben worden, weil die Klagefrist nicht mit dem erfolglosen Zustellungsversuch für den Bescheid des Bundesamtes vom 6. März 2017 und die daran anknüpfende Zustellungsfiktion (§ 10 Abs. 2 Satz 1 und 4 AsylG) in Gang gesetzt worden ist. Die Regelungen des § 10 Abs. 1 und 2 AsylG zur Geltung auch tatsächlich erfolglos gebliebener Zustellungsversuche begegnen grundsätzlich keinen durchgreifenden verfassungs- oder unionsrechtlichen Bedenken (2.2). Die Zustellung an die letzte bekannte Anschrift löst die Zustellungsfiktion indes nur dann aus, wenn der Ausländer gegen seine Obliegenheiten verstoßen hat, jeden Wechsel seiner Anschrift "unverzüglich", also innerhalb von zwei Wochen nach dem tatsächlichen Umzug anzuzeigen (2.3). Weil dies vorliegend erfolgt ist, kann dahinstehen, ob für den Eintritt der Zustellungsfiktion die Anzeigefrist bereits vor der Aufgabe zur Post abgelaufen sein muss (2.4).
Rz. 13
2.1 Die von den Klägern statthaft erhobene Verpflichtungsklage richtet sich mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 6. März 2017 gegen einen mit einer den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Verwaltungsakt. Die Rechtsbehelfsbelehrung gibt die nach § 58 Abs. 1 VwGO vorgesehenen Mindestangaben zutreffend wieder. Es sind dies die Angabe über den Rechtsbehelf, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, dessen Sitz und die einzuhaltende Frist. Der Senat hat bereits entschieden, dass der Zusatz in der Rechtsbehelfsbelehrung des Bundesamtes, dass die Klage "in deutscher Sprache abgefasst sein muss", die Belehrung nicht unrichtig macht (BVerwG, Urteil vom 29. August 2018 - 1 C 6.18 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 94 Rn. 14). Das "Abfassen" der Belehrung umfasst auch diesem Gesetz gleichgestellte elektronische Dokumente, ohne dass die Belehrung fehlerhaft wird, weil sie - wie hier - keinen Hinweis auf den durch § 55a VwGO in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung i.V.m. der Landesverordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in Rheinland-Pfalz vom 10. Juli 2015 (GVBl. S. 175) eröffneten elektronischen Rechtsverkehr enthält (BVerwG, Urteil vom 20. August 2020 - 1 C 28.19 - BVerwGE 169, 192 Rn. 31 f.).
Rz. 14
2.2 Die Obliegenheit zur unverzüglichen Mitteilung des Wechsels der Anschrift (§ 10 Abs. 1 AsylG) und zur Wirksamkeit eines Zustellungsversuchs bei deren Verletzung (§ 10 Abs. 2 AsylG) stehen mit höherrangigem Recht im Einklang.
Rz. 15
a) § 10 AsylG begründet keine Rechtspflichten, sondern besondere Vorsorge- und Mitwirkungsobliegenheiten, bei deren Verletzung der Ausländer mit für ihn nachteiligen rechtlichen Konsequenzen rechnen muss. Nach § 10 Abs. 1 AsylG hat er während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er diesen Stellen jeden Wechsel seiner Anschrift unverzüglich anzuzeigen. Verletzt der Ausländer diese - ihm auch in seinem Interesse an einer zügigen Bearbeitung seines Asylantrags auferlegten - Obliegenheit, muss er damit rechnen und über die Regelungen in § 10 Abs. 2 AsylG hinnehmen, dass ihm Mitteilungen im Asylverfahren normativ zugerechnet werden, die ihn tatsächlich nicht erreicht haben, ohne dass er sich hierauf berufen kann. Insbesondere muss er nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Das Gleiche gilt, wenn die letzte bekannte Anschrift, unter der der Ausländer wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist, durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist (Satz 2). Kann eine Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden, so gilt die Zustellung (rückwirkend) mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt (Satz 4). Betreiben - wie hier - Familienangehörige im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG ein gemeinsames Asylverfahren und ist nach § 10 Abs. 3 AsylG für alle Familienangehörigen dieselbe Anschrift maßgebend, können für sie bestimmte Entscheidungen und Mitteilungen in einem Bescheid oder einer Mitteilung zusammengefasst und einem Familienangehörigen zugestellt werden, sofern er volljährig ist (Satz 1). Dabei sind in der Anschrift alle volljährigen Familienmitglieder zu nennen (Satz 2). In der Entscheidung oder Mitteilung ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, gegenüber welchen Familienmitgliedern sie gilt (Satz 3).
Rz. 16
b) Bei einer schriftlichen Mitteilung des Anschriftenwechsels kommt es auf den Eingang der Anzeige bei der jeweiligen Stelle - hier dem Bundesamt - an. § 10 Abs. 1 AsylG ist nicht zu entnehmen, auf welche Art und Weise die Anzeige zu erfolgen hat. Damit ist sie nicht an eine bestimmte Form gebunden. Geschuldet ist nur der Erfolg, also der rechtzeitige Eingang bei der jeweiligen Stelle (Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 10 AsylG Rn. 226). Insoweit unterscheidet sich die Anzeige als tatsächliche Handlung - entgegen der Auffassung der Kläger - von der Anfechtung einer Willenserklärung, für deren Unverzüglichkeit nach der Sonderregelung in § 121 Abs. 1 Satz 2 BGB gegenüber Abwesenden ein unverzügliches Absenden genügt. Damit trägt der Ausländer das Risiko, dass die Anzeige rechtzeitig eingeht; etwaige Verzögerungen oder sonstige bei der Übermittlung auftretende Probleme gehen zu seinen Lasten (Bergmann, in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 10 AsylG Rn. 7).
Rz. 17
c) Die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG dient der Vermeidung von Verzögerungen im Asylverfahren und der Behebung von Zustellungsschwierigkeiten bei unbekanntem Aufenthalt des Ausländers (BT-Drs. 9/875 S. 18 zur Vorgängerregelung in § 12 AsylVfG 1982). Die Regelungen sind im Grundsatz verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Betroffene über sie in qualifizierter Weise belehrt worden ist (BVerwG, Urteil vom 20. August 2020 - 1 C 28.19 - BVerwGE 169, 192 Rn. 19 unter Hinweis auf BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. März 1994 - 2 BvR 2371/93 - InfAuslR 1994, 324 zu den Vorgängerregelungen in § 17 Abs. 5 AsylVfG 1982 und § 10 Abs. 7 AsylVfG 1993).
Rz. 18
d) Die in § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG geregelte Zustellungsfiktion als solche entspricht auch den Vorgaben des Unionsrechts. Im Einklang mit den hier einschlägigen nationalen Regelungen können die Mitgliedstaaten nach Art. 13 Abs. 1 RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung, ABl. L 180 S. 60) - Asylverfahrensrichtlinie - den Antragstellern Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit den Behörden auferlegen, sofern diese Verpflichtungen für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sind. Insbesondere können sie nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. c Satz 1 RL 2013/32/EU festlegen, dass die Antragsteller verpflichtet sind, "so rasch wie möglich" die zuständigen Behörden über ihren jeweiligen Aufenthaltsort oder ihre Anschrift sowie sämtliche diesbezüglichen Änderungen zu unterrichten. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. c Satz 2 RL 2013/32/EU weiter bestimmen, dass "der Antragsteller an dem von ihm mitgeteilten letzten Aufenthaltsort erfolgte - bzw. an die mitgeteilte letzte Anschrift gerichtete - Mitteilungen gegen sich gelten lassen muss".
Rz. 19
2.3 Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts liegt eine "unverzügliche" Anzeige eines Wechsels der Anschrift im Sinne des § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG vor, wenn der Ausländer den Anschriftenwechsel bei den im Gesetz genannten Stellen binnen zwei Wochen, gerechnet ab dem tatsächlichen Umzugstag, angezeigt hat. Diese Frist folgt zwar weder aus dem Wortlaut (a) noch der Entstehungsgeschichte (b), die insoweit keinen klaren Aufschluss geben, noch aus systematischen Erwägungen (c), wohl aber aus dem Sinn und Zweck der Regelung, die Belange einer zügigen Durchführung von Asylverfahren mit den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 GRC; Art. 46 Abs. 4 RL 2013/32/EU) in Einklang zu bringen (d).
Rz. 20
a) Das Gesetz definiert den Begriff "unverzüglich" nicht. Der Gesetzeswortlaut ist auslegungsoffen, da der unbestimmte Rechtsbegriff "unverzüglich" zwar ein beschleunigtes Handeln vorgibt, aber keine feste Frist oder Fristberechnung fixiert.
Rz. 21
b) Die entstehungsgeschichtliche Betrachtung belegt diesen Befund. In der Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG 1982 (BGBl. I S. 946 ___LT_ε_GT___), der Vorgängernorm des § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG, ist darauf hingewiesen worden, dass sich erhebliche Verzögerungen im Asylverfahren dadurch ergeben, dass häufig die Anschrift des Asylbewerbers unbekannt ist und Zustellungen an ihn deshalb nicht bewirkt werden können. Um Zustellungsschwierigkeiten zu beheben, ist deshalb eine Obliegenheit des Asylbewerbers gesetzlich normiert worden, seine Anschrift und Anschriftenänderungen den zuständigen Behörden und Gerichten mitzuteilen. Für den Fall, dass ein Schreiben den Asylbewerber an der angegebenen Anschrift nicht erreicht, wird angeordnet, dass er eine Zustellung an die zuletzt angezeigte Anschrift gegen sich gelten lassen muss (vgl. dort noch unter § 12 Abs. 3 des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 9/875 S. 18).
Rz. 22
c) Gesetzessystematisch ist zu berücksichtigen, dass der Begriff "unverzüglich" in zahlreichen Sachgebieten zur Bestimmung einer elastischen Frist genutzt wird, etwa in § 23 Abs. 2 Satz 3 VwVfG - unverzügliche Vorlage einer Übersetzung -, in § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - "unverzüglich geltend zu machen" und "unverzüglich beizubringen" - und in § 12 Abs. 3 AufenthG - "unverzüglich zu verlassen" -. Nach der grundsätzlich auch im öffentlichen Recht maßgeblichen Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt unverzüglich, wer "ohne schuldhaftes Zögern" tätig wird. Für ein Handeln "ohne schuldhaftes Zögern" muss zwar nicht "sofort", aber "alsbald" gehandelt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 - 9 C 35.96 - BVerwGE 104, 362 ≪367≫). Welche zeitlichen Vorgaben dabei einzuhalten sind, lässt sich nicht abstrakt bestimmen. Der im Einzelfall zu gewährende Zeitraum hängt vielmehr von der konkret geforderten Handlung ab. Die Anforderungen an eine "unverzügliche" Reaktionszeit sind - orientiert an der am jeweiligen Kontext der Begriffsverwendung gegebenen Interessenlage - zu konkretisieren. Dabei kann dem Betroffenen eine den Umständen des Einzelfalls angepasste Prüfungs- und Überlegungsfrist einzuräumen sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. März 2010 - 6 C 15.09 - Buchholz 310 § 106 VwGO Nr. 20 Rn. 21).
Rz. 23
Die vom Bundesgesetzgeber in § 17 Abs. 1 BMG in der Fassung vom 3. Mai 2013 (BGBl. I S. 1084) mit Wirkung vom 1. November 2015 vorgesehene Frist zur Anmeldung des Bezugs einer neuen Wohnung bei der Meldebehörde gibt als starre Zweiwochenfrist letztlich keinen klaren Aufschluss zur näheren Bestimmung des Begriffs "unverzüglich" in § 10 Abs. 1 AsylG. Danach hat, wer eine Wohnung bezieht, sich innerhalb von zwei Wochen nach dem Einzug bei der Meldebehörde anzumelden. Die Regelung des § 17 Abs. 1 BMG trifft zum einen alle Einwohner im Bundesgebiet, also auch Asylsuchende. Zum anderen liegt beiden Vorgängen im Hinblick auf den mit einem Wohnungswechsel regelmäßig verbundenen organisatorisch-logistischen Aufwand eine tatsächliche Gemeinsamkeit zugrunde. Anders als in § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG ist damit indes keine elastische Frist zur Anzeige des neuen Wohnungsbezugs normiert. Außerdem ist die Meldung nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG formlos möglich, während die Anmeldung nach § 17 Abs. 1 BMG die Nutzung eines Meldescheins (§ 23 Abs. 1 BMG) und regelmäßig die nach § 19 Abs. 1 Satz 2 BMG notwendige Bestätigung des Wohnungsgebers verlangt. Zudem ist die Frist zur Anmeldung einer neu bezogenen Wohnung nicht mehr auf ein beschleunigtes Handeln angelegt. In der Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 1 BMG heißt es vielmehr, dass mit der nunmehr vorgesehenen Zweiwochenfrist nach Einzug eine bürgerfreundliche Lösung gewählt wird, die sich in den Ländern, die eine solche Frist bereits geregelt haben, bewährt hat (BT-Drs. 17/7746 S. 38).
Rz. 24
Ungeachtet der aufgezeigten Unterschiede handelt es sich bei beiden Vorgängen - bei der Anzeige des Anschriftenwechsels nach § 10 Abs. 1 AsylG ebenso wie bei der Anmeldung des Bezugs einer neuen Wohnung gemäß § 17 Abs. 1 BMG - um Tatsachenmitteilungen. Als reine Tatsachenmitteilung erfordern solche Anzeigen keine Überlegungsfrist. Insoweit unterscheidet sich die Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige eines Anschriftenwechsels auch von dem Erfordernis zur unverzüglichen Stellung eines Antrags auf Familienasyl nach § 26 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG 1992, bei dem das Bundesverwaltungsgericht wegen der den Eltern zuzubilligenden angemessenen Informations- und Überlegungsfrist eine Frist von zwei Wochen in der Regel für angemessen und ausreichend gehalten hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 - 9 C 35.96 - BVerwGE 104, 362 ≪367≫).
Rz. 25
d) Sinn und Zweck sowohl der Regelung der Anzeigenobliegenheit von Anschriftenwechseln im Asylverfahren - sowohl nach § 10 Abs. 1 AsylG als auch nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU - zielen auf eine stete Erreichbarkeit der Asylsuchenden. Deshalb obliegt es ihnen, während des Asylverfahrens jeden Anschriftenwechsel unverzüglich oder so rasch wie möglich - nach der englischsprachigen Richtlinienfassung "as soon as possible" und gemäß dem französischen Richtlinientext "le plus rapidement possible" - den zuständigen Stellen anzuzeigen. Die Aspekte einerseits der Verfahrensbeschleunigung und andererseits der Verfahrensfairness sind danach bei der Auslegung des Begriffs "unverzüglich" miteinander in Ausgleich zu bringen. Dabei ist zu beachten, dass die formlos mögliche Anzeige nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG in der praktischen Handhabung einfach, zweckmäßig und zügig (§ 10 Satz 2 VwVfG) sein muss. Denn nur dann ist das Anzeigeverfahren in der behördlichen und gerichtlichen Praxis - gerade wenn es, wie hier, um eine Vielzahl von Verfahren geht - wenig fehleranfällig.
Rz. 26
Entscheidend kommt es deshalb darauf an, den Begriff "unverzüglich" in § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 GRC) entsprechend auszulegen. Dabei ist der sowohl national als auch unionsrechtlich beabsichtigte Zweck, das Asylverfahren beschleunigt betreiben zu können, zu beachten.
Rz. 27
Zunächst ist festzustellen, dass eine Zustellungsfiktion, wie sie § 10 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 AsylG vorsieht, sowohl mit nationalem Verfassungsrecht (dazu BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. März 1994 - 2 BvR 2371/93 - InfAuslR 1994, 324) als auch mit Unionsrecht grundsätzlich vereinbar ist. Das Verbot einer in Art. 13 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU ausdrücklich zugelassenen Zustellungsfiktion folgt weder aus Art. 46 RL 2013/32/EU noch aus Art. 47 GRC. Gilt eine einer gerichtlichen Überprüfung zugängliche Entscheidung kraft Gesetzes als zugestellt, führt dies nicht zu einer Verkürzung der Rechtsbehelfsfrist, sondern handelt es sich - jedenfalls mittelbar - um eine Regelung, die den Beginn der Rechtsbehelfsfrist betrifft. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wird hierdurch aber de facto erschwert, weil die Klagefrist in aller Regel ohne Kenntnis des Betroffenen zu laufen beginnt. Die mit den Zustellungsfiktionen in § 10 Abs. 2 AsylG verbundenen Konsequenzen führen deshalb nur dann nicht zu einer übermäßigen Erschwerung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wenn die zu erfüllende Mitwirkungsobliegenheit, seine stete Erreichbarkeit zu gewährleisten, für den Schutzsuchenden zumutbar ausgestaltet ist.
Rz. 28
Verfahrensrechtlich wird die für den Ausländer zumutbare Handhabung der Mitwirkungsobliegenheit nach § 10 Abs. 1 AsylG zunächst durch eine Reihe gesetzlicher Regelungen gesichert. Der Antragsteller ist bei Antragstellung schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis auf die Zustellungsvorschriften hinzuweisen (§ 10 Abs. 7 AsylG). Damit hat er es in der Hand, das Eingreifen der Zustellungsfiktion zu verhindern, indem er entweder einen Bevollmächtigten bestellt oder einen Empfangsberechtigten benennt oder entsprechend der in § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG normierten Mitwirkungsobliegenheit den dort aufgeführten Behörden jeden Wechsel seiner Anschrift unverzüglich anzeigt. Zudem ist ihm bei unverschuldeter Versäumung der Klagefrist unter den Voraussetzungen des § 60 VwGO Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu gewähren (BVerwG, Urteil vom 20. August 2020 - 1 C 28.19 - BVerwGE 169, 192 Rn. 26 f.).
Rz. 29
In zeitlicher Hinsicht liegt eine "unverzügliche" Anzeige eines Wechsels der Anschrift im Sinne von § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG vor, wenn der Ausländer den Anschriftenwechsel bei den im Gesetz "genannten Stellen" - hier dem Bundesamt - binnen zwei Wochen, gerechnet ab dem tatsächlichen Umzugstag, angezeigt hat. Denn nur eine solche Frist wird den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 47 GRC und Art. 19 Abs. 4 GG gerecht. Ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz setzt eine wirksame Gewährleistung des Zugangs zu einem Gericht voraus (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 - C-69/10 [ECLI:EU:C:2011:524] - Rn. 69; BVerfG, Beschluss vom 2. Dezember 1987 - 1 BvR 1291/85 - BVerfGE 77, 275 ≪284≫ stRspr.). Die der Rechtssicherheit sowie der Verfahrensfairness - und zugleich der Verfahrensbeschleunigung - dienende Festlegung angemessener Fristen für die Rechtsverfolgung ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar, wenn die Fristen nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte - gemessen an den unionsrechtlichen Grundprinzipien von Äquivalenz und Effektivität - praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. EuGH, Urteile vom 18. Oktober 2012 - C-603/10 [ECLI:EU:C:2012:639] - Rn. 30, vom 11. September 2014 - C-19/13 [ECLI:EU:C:2014:2194] - Rn. 58 und vom 9. September 2020 - C-651/19 [ECLI:EU:C:2020:681] - Rn. 34 und 47).
Rz. 30
Diesen Vorgaben ist bereits bei der Bestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffs "unverzüglich" in § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG Rechnung zu tragen. Zwar berührt der an den Ablauf der Unverzüglichkeitsfrist geknüpfte Eintritt der Zustellungsfiktion die Dauer der Klagefrist als solche nicht. Durch die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG wird aber die Klagefrist in Gang gesetzt. Bereits die nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG maßgebliche Frist ist deshalb bei einer wirksamen Zustellungsfiktion geeignet, über den Zugang zu einem Gericht und damit auch das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf abschließend eine negative Entscheidung herbeizuführen. Das ist mit den Grundsätzen eines effektiven und wirksamen Rechtsschutzes nur vereinbar, wenn auch die verwaltungsverfahrensrechtliche Frist nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG unter Beachtung des Beschleunigungsgebots für den Schutzsuchenden fair und zumutbar bemessen wird. Dem wird eine Zweiwochenfrist gerecht. Eine solche Frist vereint das Prinzip der Beschleunigung einerseits mit den Erfordernissen eines fairen und vor allem rechtssicher und einfach zu handhabenden Verwaltungsverfahrens andererseits. Die vom Berufungsgericht und in der instanzgerichtlichen Praxis sowie der Kommentarliteratur überwiegend vertretene Auffassung, für die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit des Ausländers nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG seien wenige Tage bis zu längstens einer Woche angemessen (vgl. etwa VG Halle, Urteil vom 11. Juni 2019 - 4 A 508/17 - juris Rn. 22; VG Kassel, Beschluss vom 16. Januar 2019 - 1 L 66/19.KS.A - juris Rn. 13; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Stand Juni 2018, § 10 Rn. 230; Hailbronner, AuslR, Stand April 2019, § 10 AsylG Rn. 26 und Preisner, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 31. Edition, Stand 01.10.2021, § 10 AsylG Rn. 11; a.A. und im Ergebnis wie hier: Bruns, in: Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 10 AsylG Rn. 7), wird den Geboten der Verfahrensfairness und der Rechtssicherheit nicht hinreichend gerecht. Sie lässt die Verfahrensbeteiligten über die genaue Dauer der Frist - längstens eine Woche - im unklaren und beachtet zudem nicht hinreichend die Gebote der Angemessenheit und Zumutbarkeit.
Rz. 31
Die Bemessung der Zeitgrenze für die Unverzüglichkeit der nach § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG mit einer Zweiwochenfrist gerechnet ab dem tatsächlichen Umzugstag verbürgt nämlich - ohne das Moment der Verfahrensbeschleunigung zu vernachlässigen - das jeder Person nach Art. 41 GRC garantierte Recht auf eine gute Verwaltung. Dieses Recht umfasst insbesondere das Recht einer jeden Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRC). Adressat der Norm sind zwar ausschließlich die Organe und Einrichtungen der Union. Indes ist der Anspruch, auch im Verwaltungsverfahren gehört zu werden, untrennbar mit der Wahrung der Verteidigungsrechte jeder Person verbunden. Die Wahrung dieses Verteidigungsrechts stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar. Dieser Anspruch garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung ergeht (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Boudjlida - Rn. 34 und 36 m.w.N.). Dazu gehört es auch, der Person einen je nach den Umständen angemessenen Zeitraum - hier zwei Wochen - einzuräumen, währenddessen sie sich zu äußern - hier einen Anschriftenwechsel anzuzeigen - hat, ohne dass ihr aus dem Ausschöpfen dieser Frist verfahrensrechtliche Nachteile - hier in der Form einer Zustellungsfiktion nach § 10 Abs. 2 AsylG - erwachsen dürfen.
Rz. 32
2.4 Nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts zu dem Ablauf des Umzugs und dem Eingang der Anzeige bei dem Bundesamt der Beklagten haben die Kläger den Umzug innerhalb der Frist von zwei Wochen und damit "unverzüglich" angezeigt, so dass sie den durch den Erstversand des Bescheids vom 6. März 2017 ins Werk gesetzten Zustellungsversuch nicht gegen sich gelten lassen müssen. Die zweiwöchige Klagefrist ist daher nicht nach § 10 Abs. 2 Satz 2 und 4 AsylG in Lauf gesetzt und durch die am 7. April 2017 erhobene Klage gewahrt worden. Nicht zu vertiefen ist daher, ob der Rechtsauffassung zu folgen ist, nach der die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 1 und 4 AsylG weitergehend voraussetzt, dass das Scheitern der Zustellung des Bescheids auf der Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit aus § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG beruht (so etwa VG Düsseldorf, Urteil vom 16. Januar 2006 - 25 K 6796/04.A - juris Rn. 22; VG Kassel, Beschluss vom 16. Januar 2019 - 1 L 66/19.KS.A - juris Rn. 11), und dies auch erfordert, dass die Frist zur unverzüglichen Anzeige bereits zum Zeitpunkt der Aufgabe des Bescheids zur Post, also dem Zeitpunkt, zu dem die Zustellung als bewirkt gilt, oder zumindest zum Zeitpunkt des tatsächlichen Zustellungsversuchs abgelaufen ist.
Rz. 33
3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 15127543 |
BVerwGE 2022, 261 |
DÖV 2022, 560 |
InfAuslR 2022, 233 |
VR 2022, 252 |
ZAR 2022, 19 |
ZAR 2022, 296 |
Asylmagazin 2022, 253 |
DVBl. 2022, 909 |