Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht. Widerruf eines gerichtlichen Vergleichs
Leitsatz (amtlich)
Der Widerruf eines vor einem Verwaltungsgericht abgeschlossenen Vergleichs muß im Geltungsbereich des Verwaltungsgerichtsgesetzes, wenn nichts anderes vereinbart ist, innerhalb der vorbehaltenen Frist dem Vergleichspartner zugehen.
Normenkette
BGB § 779; Hess. Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 31. Oktober 1946 (GVBl S. 194) i.d.F. des Gesetzes vom 30. Juni 1949 (GVBl. S. 137) § 99
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Entscheidung vom 15.01.1960; Aktenzeichen OS 11 140/55) |
VG Kassel |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. Januar 1958 wird aufgehoben.
Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 6. August 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Der Kläger ist Eigentümer des im Jahre 1924 erbauten, zum Gemeindegebiet H… gehörigen, jedoch 800 m von er bebauten Ortslage entfernt liegenden Wohngrundstücks L… Das Grundstück ist mit Zwangsmietern besetzt. Weil sich bei der Versorgung dieser Mieter mit Trink- und Gebrauchswasser Schwierigkeiten ergaben, beantragte der Kläger erstmals im Jahre 1952 sodann am 3. Februar 1954 bei der Beklagten Anschluß an die städtische Wasserleitung. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Februar 1954 ab. Der Einspruchs- und Beschwerdeausschuß des Landkreises Hinweis durch Beschluß vom 8. Juni 1954 (Bescheid vom 10. Juni 1954) die Beschwerde gegen den Bescheid der Beklagten zurück. Hiergegen erhob der Kläger Verwaltungsstreitklage, deren Antrag er in der mündlichen Verhandlung vom 24. September 1954 dahin abänderte, daß er Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 31. Oktober 1952, 13. Februar 1954 und das Bescheids des Einspruchs- und Beschwerdeausschusses des Kreises H… vom 10. Juni 1954 beantragte.
In der mündlichen Verhandlung vom 24. September 1954 schlossen die Parteien einen Vergleich, daß der Kläger an die Beklagte den Teil seiner Mietforderungen abtrat, der nach den gesetzlichen Vorschriften zur Deckung der Kosten der Wasserversorgung bestimmt war, wohingegen die Beklagte die Wasserversorgung der Bewohner des L… übernahm. Die Beklagte behielt sich einen Widerruf des Vergleichs bis zum 20. Oktober 1954 vor. Mit einem vom 18. Oktober 1954 datierten am 20. Oktober 1954 bei Gericht eingegangenen Schreiben widerrief die Beklagte den Vergleich. Der Kläger wurde von diesem – Widerruf erst durch Schreiben des Verwaltungsgerichts vom 6. Dezember 1954 unterrichtet. Daraufhin beantragte er, festzustellen, daß der Rechtsstreit der Parteien durch den Vergleich vom 24. September 1954 erledigt sei. Das Verwaltungsgericht entschied am 6. August 1955 nach dem Antrage des Klägers. Der Verwaltungsgerichtshof Kassel hob das erstinstanzliche Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurück.
In der Begründung des Urteils wird ausgeführt: Der Prozeßvergleich und sein Widerruf seien Prozeßhandlungen. Derartige Prozeßhandlungen hätten vielfach zugleich sachlich rechtliche und prozeßrechtliche Bedeutung. Die Form, in der sie vorzunehmen seien, richte sich jedoch ausschließlich nach Prozeßrecht. Die in Abweichung von der früheren Rechtsprechung vom VII. Senat des Reichsgerichts und vom Bundesgerichtshof vertretene gegenteilige Auffassung sei nicht überzeugend. Wenn aber für die rechtswirksame Vornahme von Prozeßhandlungen die Prozeßgesetze maßgebend seien, dann genüge in dem vom Grundsatz des Amtsbetriebs beherrschten Verwaltungsstreitverfahren für das rechtswirksame Zustandekommen und den rechtswirksamen Widerruf eines Prozeßvergleichs die Erklärung gegenüber dem Gericht. Das aber heiße im vorliegenden Falle, daß der vor Ablauf der vorbehaltenen Frist dem Gericht gegenüber erklärte Widerruf rechtsgültig sei. Infolgedessen müsse vom Gericht erster Instanz in der Sache entschieden werden. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Mit der zulassungsfreien Revision beantragt der Kläger die Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts und die Zurückweisung der Berufung gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz. Er trägt vor: Der Prozeßvergleich und sein Widerruf seien sowohl sachlich-rechtlich wie prozeßrechtlich von Bedeutung. Sie seien jedoch keine Prozeßhandlungen. Infolgedessen sei Voraussetzung ihrer Gültigkeit die Wahrung der vom bürgerlichen Recht vorgeschriebenen Form, das heißt die rechtzeitige Erklärung gegenüber dem Vertragspartner. Eine Erklärung gegenüber dem Gericht genüge nur, wenn die Parteien eine dahingehende Vereinbarung getroffen hätten. Diese Auffassung habe auch das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung vertreten. Da im vorliegenden Falle eine entsprechende Parteivereinbarung nicht vorliege, habe der Widerruf, wenn er rechtswirksam sein sollte, vor Ablauf der vorbehaltenen Frist dem Kläger gegenüber erklärt werden müssen. Da das nicht geschehen sei, sei der Widerruf unwirksam und der Vergleich verbindlich.
Die Beklagte hat Verwerfung, hilfsweise Zurückweisung der Revision beantragt. Die zulassungsfreie Revision sei schon deswegen unzulässig, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens nicht vorliege. Das Berufungsgericht habe nämlich keine das Verfahren betreffende Entscheidung getroffen, sondern nur die Unrichtigkeit der Rechtsauffassung des Gerichts erster Instanz festgestellt. Selbst wenn man aber unterstelle, daß das Berufungsgericht eine das Verfahren betreffende Entscheidung getroffen habe, liege ein Mangel im Verfahren nicht vor. Denn die Rechtsgültigkeit von Prozeßhandlungen, z.B. des Widerrufs eines gerichtlichen Vergleichs, könne sich nur nach Prozeßrecht bestimmen. Nach Prozeßrecht aber genüge die Erklärung des Widerrufs innerhalb, der vorbehaltenen Frist gegenüber dem Gericht.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision mußte Erfolg haben.
1) Eines sachlich-rechtliche Entscheidung des Revisionsgerichts kommt gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625). – BVerwGG – nicht in Betracht, weil für die sachliche Entscheidung ausschließlich Landesrecht maßgebend ist. Das Bundesverwaltungsgericht ist auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob der von den Parteien geschlossene Vergleich durch Erklärung gegenüber dem Gericht rechtswirksam widerrufen ist. Die Entscheidung hierüber ist eine das Verfahren betreffende Entscheidung. Denn nach ihr bestimmt sich, ob dem Verfahren Fortgang zu geben oder ob es als abgeschlossen anzusehen ist. Über Verfahrensfragen aber befindet das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 BVerwGG auch dann, wenn sie nach Landesrecht zu entscheiden sind.
Ein wesentliche Verfahrensmangel liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn die vorgebrachten Tatsachen, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, die Annahme eines Verfahrensmangels begründen und die Entscheidung beeinflußt haben können, das heißt wenn die vorgebrachten Tatsachen nicht offensichtlich die Annahme eines Verfahrensmangels ausschließen und die Entscheidung keinesfalls beeinflußt haben können (BVerwGE 1, 281; 39 324 [326]). So aber liegen die Dinge hier. Die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der Vergleich rechtsgültig widerrufen sei, betrifft das Verfahren. Sie hat die Entscheidung des Berufungsgerichts maßgeblich beeinflußt. Es kann zweifelhaft sein, ob sie zutreffend ist. Auch die zweite Voraussetzung für die zulassungsfreie Revision, daß nämlich einer der Zulassungsgründe des § 53 Abs. 2 BVerwGG vorliegt, ist gegeben. Denn es ist eine Frage von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung, deren Klärung im Revisionsverfahren erwartet werden kann, ob ein Prozeßvergleich durch Erklärung gegenüber dem Verwaltungsgericht rechtsgültig widerrufen werden kann. Hiernach ist die Revision gemäß § 54 Abs. 1 BVerwGG zulässig.
2) Daß auch im Verwaltungsstreitverfahren ein Vergleich zulässig ist, folgt aus § 68 der Verordnung Nr. 165 der Militärregierung Deutschland betreffend Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone (Amtsbl. MilReg. Deutschland – brit. Kontrollgebiet – S. 799) – MRVO 165 –, § 99 der Verwaltungsgerichtsgesetze der amerikanischen Zone einschließlich des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden-Württemberg (Verwaltungsgerichtsgesetz) in der Fassung des Gesetzes vom 12. Mai 1958 (GesBl. S. 140) e (GesBl. S. 140), § 90 des Landesgesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit für Rheinland-Pfalz vom 14. April 1950/12. Februar 1954 (GVBl. 1950 S. 103, 1954 S. 21), § 67 BVerwGG. Auch wo sich, wie in den Verwaltungsgerichtsgesetzen der amerikanischen Zone, die Bestimmungen über den Vergleich im Abschnitt „Parteistreitigkeiten” finden, ist unbestritten, daß sie auch im Anfechtungsverfahren angewendet werden können (Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. [1954] Anm. I 2 zu § 99 S. 278; Schunck-de Clerck, Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, Anm. 5 zu § 65 S. 175; Klinger, Verordnung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, 3. Aufl. [1954] Anm. 296 zu § 68 S. 408).
3) Nach allgemeiner Auffassung hat der Prozeßvergleich sachlich-rechtliche und prozessuale Bedeutung. Zum Widerruf des Prozeßvergleichs haben das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof zunächst für das bürgerliche Recht und den Zivilprozeß insbesondere in den Entscheidungen RGZ 135, 338, RGZ 161, 253 [255], JR 1955, 179 [180] ausgeführt: Der Prozeßvergleich ist ein materiellrechtlicher Vertrag. Auch der Widerruf des Vergleichs ist als Vorgang des materiellen Rechts zu werten und gehört zum sachlich-rechtlichen Teil des Vergleichs. Infolge dessen ist der Widerruf eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die gemäß § 130 BGB innerhalb der vorbehaltenen Frist dem Vergleichspartner zugehen muß. Zwar steht es den Vergleichsparteien frei, die Erklärung des Widerrufs gegenüber dem Gericht zu vereinbaren. Aber nur wenn eine solche Vereinbarung getroffen ist, wird die Erklärung gegenüber dem Vergleichspartner durch die Erklärung gegenüber dem Gericht ersetzt. Dieser Auffassung haben sich der überwiegende Teil der Literatur und neuerdings das Bundessozialgericht angeschlossen (Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. [1956] § 128 III 2i S. 607, Schönke-Schröder-Niese, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. [1956] S. 245; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 25. Aufl. [1958] Anhang nach § 307, Anm. 3B S. 580/581; Zöller, Zivilprozeßordnung, 8. Aufl. [1957] Anm. 1f zu § 794 S. 553; Wieczorek, Zivilprozeßordnung, Bd. IV Teil I [1958] Anm. C IIIa 4 und C IVa 8 zu § 794 S. 442 und 446; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 17. Aufl. [1958] Anm. 9 zu § 779 S. 629; Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. Juni 1958, MDR 1958, 801; a.A. Stein-Jonas-Schönke, Komm. zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl. [1953] Anm. II zu § 54, Anm. VI 3b vor § 128, Anm. II 2d zu § 794). Der Auffassung ist beizutreten; denn der Vorbehalt des Widerrufs bestimmt, unter welchen Voraussetzungen der Vergleich wirksam oder unwirksam sein soll, gehört also zum sachlich-rechtlichen Teil des Vergleichs.
4) Das Berufungsgericht glaubt, zwischen der Entscheidung RGZ 135, 338 einerseits und den späteren Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs andererseits einen Bruch feststellen zu müssen. Es übersieht dabei, daß die Ausführungen in der Entscheidung RGZ 135, 338 darüber, daß für Prozeßhandlungen wie den Widerruf des Prozeßvergleichs nicht die Vorschriften des bürgerlichen Rechts, sondern ausschließlich die Vorschriften des Prozeßrechts maßgebend seien, sich auf den Fall beziehen, daß die Parteien die Einreichung der Widerrufserklärung zu den Gerichtsakten vereinbart haben. Bei Berücksichtigung dieses Umstandes ist die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Widerruf des Prozeßvergleichs einheitlich.
5) Auch die Besonderheiten des Verwaltungsstreitverfahrens rechtfertigen eine andere Rechtsauffassung nicht. Zwar ist es richtig, daß sich das Verwaltungsstreitverfahren vom Zivilprozeß u.a. durch den Amtsbetrieb unterscheidet. Das hat zur Folge, daß im Verwaltungsstreitverfahren alle Erklärungen gegenüber dem Gericht abzugeben sind, und daß für die Wahrung von Fristen der Eingang bei Gericht maßgebend ist. Dieser Umstand ist jedoch belanglos in Anbetracht der Tatsache, daß der Widerruf zum sachlich-rechtlichen Teil des Prozeßvergleichs gehört. (a.A. Ule, Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht [1952] Anm. II 1 zu § 67 S. 243).
6) Hiernach muß der Widerruf innerhalb der vorbehaltenen Frist dem Vergleichspartner zugehen, wenn nichts anderes vereinbart ist. Für den vorliegenden Fall heißt das, daß der Widerruf nicht rechtsgültig erklärt ist. Denn unstreitig ist eine Abgabe der Widerrufserklärung gegenüber dem Gericht nicht vereinbart worden und ist die Widerrufserklärung den Vertragspartner innerhalb der vereinbarten Widerrufsfrist nicht zugegangen. Infolgedessen war das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 65 Abs. 1 BVerwGG, die Festsetzung des Streitgegenstandes auf § 74 BVerwGG.
Fundstellen
Haufe-Index 613637 |
BVerwGE, 110 |