Entscheidungsstichwort (Thema)
Tauglichkeitsstreit. Verpflichtungsklage auf Feststellung der Wehrdienstunfähigkeit. rechtliches Gehör. richterlicher Überzeugungsgrundsatz. falscher Sachverhalt. fehlender Nachweis der Ladung zu Nachuntersuchungen. Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung. Mitwirkungspflicht des Wehrpflichtigen. gerichtliche Einholung eines Sachverständigengutachtens
Leitsatz (amtlich)
Ein Tatsachengericht verletzt den grundrechtlich verbürgten (Art. 103 Abs. 1 GG) Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO), wenn es über entscheidungserhebliches Parteivorbringen hinweggeht ohne darzulegen, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Erwägungen es keiner Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen und keiner Sachaufklärung bedarf.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; VwGO § 108 Abs. 1-2, § 86 Abs. 1 S. 1; WPflG §§ 8a, 9, 17 Abs. 4, § 24 Abs. 6 Nr. 2
Verfahrensgang
VG Bayreuth (Entscheidung vom 27.03.1996; Aktenzeichen 1 K 95.732) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 27. März 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der am 23. Januar 1972 geborene Kläger wurde 1991 als „verwendungsfähig mit Einschränkung in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten” (Signierziffer 3) gemustert und zunächst bis 31. August 1992 (Ende seiner Ausbildung) und später wegen Unentbehrlichkeit im elterlichen Betrieb bis 30. September 1993 vom Wehrdienst zurückgestellt.
Im Sommer 1994 wurde der Kläger erneut zur fachärztlichen Untersuchung vorgeladen und mit Bescheid vom 17. Juni 1994 als „verwendungsfähig mit Einschränkung in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten” (Signierziffer 3) gemustert. Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Unter Hinweis auf ärztliche Atteste vom 5. Mai und vom 30. August 1993 machte er eine Skoliose nach überstandener Scheuermann-Krankheit mit Beckenschiefstand und Beinverkürzung links mit der Folge starker morgendlicher Schmerzen geltend. Er sei nicht in der Lage, Wehrdienst zu leisten.
Nachdem der Kläger sich für einen am 15. Dezember 1994 vorgesehenen Untersuchungstermin entschuldigt hatte, wurde er schließlich am 28. Dezember 1994 vom ärztlichen Dienst der Wehrbereichsverwaltung VI untersucht. Dabei wurde festgestellt, daß eine Zunahme der Rückenbeschwerden des Klägers nicht zu verzeichnen sei. Vom ärztlichen Dienst für erforderlich gehaltene weitere fachärztliche Untersuchungen im Bundeswehrkrankenhaus A. kamen nicht zustande, da der Kläger nach Angaben des ärztlichen Dienstes „die vereinbarten Termine trotz mehrfacher Terminvergabe” nicht wahrgenommen habe. In seiner Stellungnahme vom 30. März 1995 kam der ärztliche Dienst zu der Beurteilung, daß der Kläger „wehrdienstfähig (3) mit Einschränkung der Verwendungsfähigkeit in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten” mit dem Hauptfehler IV 42 nach der ZDv 46/1 sei.
Unter Hinweis auf diese wehrmedizinische Beurteilung wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben mit den Antrag, den Musterungsbescheid vom 17. Juni 1994 aufzuheben und festzustellen, daß er nicht wehrdienstfähig sei. Sein Gesundheitszustand habe sich gegenüber den letzten fachärztlichen Untersuchungen im Jahre 1993 weiter verschlechtert. Er sei, zumindest derzeit, nicht wehrdienstfähig. Zum Nachweis beantragte er die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Er habe auch keine fachärztlichen Untersuchungstermine schuldhaft versäumt. Bei der Untersuchung am 28. Dezember 1994 seien ihm zwar weitere fachärztliche Untersuchungen im Bundeswehrkrankenhaus A. angekündigt worden, doch hätten weder er persönlich, noch seine Prozeßbevollmächtigten hierzu jemals eine Vorladung erhalten.
Mit Urteil vom 27. März 1996 hat das Verwaltungsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Einstufung des Klägers als „wehrdienstfähig mit Einschränkung der Verwendungsfähigkeit in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten” (Signierziffer 3) sei rechtmäßig. Zwischen den seitens des Klägers geltend gemachten und den als Grundlage der Tauglichkeitsfeststellung dienenden Gesundheitsbeeinträchtigungen und der daraus resultierenden Tauglichkeitsgradfestsetzung bestehe kein Widerspruch. Die vom Kläger vorgelegten und die von der Beklagten eingeholten ärztlichen Gutachten seien in die Entscheidung der Beklagten im vollen Umfang eingeflossen. Als Hauptfehler sei für die stärkere Veränderung der Wirbelsäule mit mäßiger Funktionseinschränkung die Fehlerziffer 42 Gradation IV vergeben worden. Weder der behauptete „Morbus Bechterew” noch eine „radikuläre Läsion” seien ärztlicherseits festgestellt worden. Soweit der Kläger entsprechend den in den ärztlichen Unterlagen enthaltenen Nachweisen der Aufforderung zur Untersuchung am 15. Dezember und 28. Dezember 1994 nicht nachgekommen sei, könne dies der Beklagten nicht angelastet werden. Der Wehrpflichtige habe Vorsorge zu treffen, daß Mitteilungen der Wehrersatzbehörde ihn unverzüglich erreichten. Damit seien alle vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsbeeinträchtigungen Gegenstand gutachtlicher Würdigung gewesen und spätestens in die Widerspruchsentscheidung eingeflossen. Für eine von der Tauglichkeitsbeurteilung der Beklagten abweichende Feststellung oder gar die Einholung eines zusätzlichen fachärztlichen Gutachtens bleibe kein Raum.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers.
Die Beklagte ist der Revision nicht entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt in mehrfacher Hinsicht formelles Bundesrecht. Zur abschließenden Entscheidung bedarf es der verfahrensfehlerhaft unterbliebenen Sachaufklärung. Das zwingt zur Zurückverweisung (vgl. § 137 Abs. 1 und 3, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Die mit der Revision erhobenen Verfahrensrügen greifen sämtlich durch. Das angefochtene Urteil beruht auf allen gerügten Verfahrensmängeln. Es verletzt die §§ 86 Abs. 1, 108 Abs. 1 und 2 VwGO.
Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger das ihm grundrechtlich verbürgte (Art. 103 Abs. 1 GG) rechtliche Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO) versagt. Die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs gebietet dem Gericht, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. etwa BVerfGE 58, 353 ≪356≫ m.w.N.; 70, 215 ≪218≫; stRspr; BVerwG, Urteil vom 14. April 1989 – BVerwG 4 C 22.88 – Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 29 S. 4 ≪6≫ und Beschluß vom 28. Dezember 1988 – BVerwG 5 B 24.88 – Buchholz 424.01 § 59 FlurbG Nr. 10 S. 1 ≪2≫; stRspr). Zwar ist es dem Tatrichter nicht verwehrt, Parteivortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder gänzlich unberücksichtigt zu lassen (vgl. etwa BVerfGE 70, 93 ≪100≫; BVerwG, Urteile vom 21. November 1989 – BVerwG 9 C 53.89 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 213 S. 32 ≪33≫). Geht ein Tatsachengericht aber dem wesentlichen Inhalt der Tatsachenbehauptungen eines Beteiligten nicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO nach, so muß es aufgrund des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zumindest darlegen, welche rechtlichen oder tatsächlichen Erwägungen es veranlaßt haben, von einer Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen abzusehen, und aus welchen Gründen eine Sachaufklärung unterbleiben durfte (vgl. etwa Urteile vom 6. September 1988 – BVerwG 4 C 15.88 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 206 S. 38 und vom 18. Mai 1995 – BVerwG 4 C 20.94 – Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 25 S. 9 ≪12≫). Das läßt das angefochtene Urteil vermissen.
Der Kläger hat mit seiner Klagebegründung vorgetragen, weder er noch sein Bevollmächtigter hätten eine Mitteilung des Bundeswehrkrankenhauses über einen Termin zur orthopädischen Untersuchung des Klägers erhalten; er sei deswegen ohne Verschulden außerstande gewesen, sich zu dieser nach Einschätzung des ärztlichen Dienstes der Wehrbereichsverwaltung notwendigen zusätzlichen Untersuchung einzufinden. Der Tatbestand des angefochtenen Urteils gibt zwar die Behauptung des Klägers wieder, eine Vorladung zum Bundeswehrkrankenhaus habe er nicht erhalten. Die Entscheidungsgründe gehen jedoch auf dieses Vorbringen nicht ein. Dort heißt es lediglich: „Soweit der Kläger entsprechend den in den ärztlichen Unterlagen enthaltenen Nachweisen der Aufforderung zur Untersuchung am 15. Dezember 1994 (Bl. 72 f. d.A.) und 28. Dezember 1994 (Bl. 79 d.A.) nicht nachgekommen ist, kann dies der Beklagten nicht angelastet werden. Gemäß § 24 Abs. 6 Satz 1 WPflG haben Wehrpflichtige Vorsorge zu treffen, daß Mitteilungen der Wehrersatzbehörde sie unverzüglich erreichen.” Die beiden Vorladungen zum 15. und 28. Dezember 1994 betrafen keinen Untersuchungstermin im Bundeswehrkrankenhaus, sondern eine ärztliche Überprüfungsuntersuchung des Klägers bei der Wehrbereichsverwaltung VI. Diese Untersuchung fand auch entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts am 28. Dezember 1994 tatsächlich statt, und ihr Ergebnis führte erst zur Anordnung einer zusätzlichen fachärztlichen Untersuchung des Klägers im Bundeswehrkrankenhaus A. Das ist schon der dem Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 1995 beigefügten und zum Gegenstand der Widerspruchsentscheidung gemachten gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Wehrbereichsverwaltung VI vom 30. März 1995 zweifelsfrei zu entnehmen. Der Hinweis des angefochtenen Urteils auf § 24 Abs. 6 Satz 1 WPflG liegt neben der Sache. Ausweislich der vom Verwaltungsgericht beigezogenen Verwaltungsvorgänge hatte der Kläger nämlich die beiden an seine der Beklagten mitgeteilte Anschrift gerichteten Ladungen zu den Untersuchungsterminen am 15. und 28. Dezember 1994 tatsächlich erhalten. Seine Nichtwahrnehmung des Termins am 15. Dezember 1994 hatte er auch schriftlich auf dem von ihm zurückgesandten Empfangsbekenntnis mit seiner „Anwesenheitspflicht beim schulischen Praktikum” entschuldigt. Feststellungen, die die Annahme rechtfertigen könnten, der Kläger sei entgegen seinem ausdrücklichen Vorbringen in der Klagebegründung zu der vorgesehenen weiteren Untersuchung im Bundeswehrkrankenhaus ordnungsgemäß geladen worden, hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Über die nach seiner materiellen Rechtsauffassung entscheidungserhebliche Behauptung des Klägers, weder er noch sein Bevollmächtigter hätten eine Ladung zu dieser Untersuchung erhalten, durfte es ohne solche Feststellungen und ohne tragfähige Begründung nicht einfach hinweggehen.
Das Verwaltungsgericht hat auch dadurch, daß es von einem teilweise aktenwidrigen und unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt und zugleich gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen (vgl. Urteile vom 2. Februar 1984 – BVerwG 6 C 134.81 – BVerwGE 68, 338 ≪339 f.≫, vom 3. April 1987 – BVerwG 4 C 30.85 – Buchholz 406.11 § 19 BBauG Nr. 50 S. 1 ≪2 f.≫, vom 25. Juni 1992 – BVerwG 3 C 16.90 – Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 68 S. 63 ≪64≫, vom 5. Juli 1994 – BVerwG 9 C 158.94 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 174 S. 21 ≪27≫ und vom 31. Oktober 1994 – BVerwG 9 C 25.94 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 261 S. 4 ≪5 ff.≫). Das in § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthaltene Gebot freier Überzeugungsbildung aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens verpflichtet das Tatsachengericht dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, die eine solche Überzeugungsbildung erst ermöglichen (vgl. Urteil vom 3. April 1987, a.a.O. S. 3). Dieser Pflicht aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO wird nur dann genügt, wenn das Vorbringen der Beteiligten und der entscheidungserhebliche Sachverhalt richtig und vollständig zugrunde gelegt werden (vgl. etwa Urteile vom 31. Oktober 1994, a.a.O. S. 5, 7). Denn nur vollständig und richtig festgestellte Tatsachen können auch zutreffend gewürdigt werden. Das erfordert namentlich eine dem Streitfall entsprechende gründliche Aufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) des entscheidungserheblichen Sachverhalts (vgl. etwa Urteile vom 18. Juli 1986 – BVerwG 4 C 40–45.82 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 181 S. 71 ≪73≫ und vom 3. April 1987, a.a.O. S. 3). Auch daran fehlt es hier.
Aus der unrichtigen tatsächlichen Annahme, der Kläger sei der Aufforderung zur ärztlichen Untersuchung am 28. Dezember 1994 nicht nachgekommen, hat das Verwaltungsgericht den – in seiner Folgerungsweise ebenfalls unzulässigen – unzutreffenden Schluß gezogen, „die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsbeeinträchtigungen” seien „vollumfänglich Gegenstand gutachtlicher Würdigung gewesen und spätestens in die Widerspruchsentscheidung eingeflossen”. Die dem angefochtenen Urteil entscheidungstragend zugrundeliegende Auffassung, für eine von der Tauglichkeitsbeurteilung der Beklagten abweichende Feststellung „oder gar die Einholung eines zusätzlichen Gutachtens” bleibe kein Raum, entbehrt jeglicher tragfähigen Grundlage. Dem Verwaltungsgericht hätte sich vielmehr die Notwendigkeit der Sachaufklärung durch die in der Klagebegründung zudem ausdrücklich angeregte Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens aufdrängen müssen. Die verfahrensfehlerhaft unterlassene gebotene Sachaufklärung wird es nunmehr unter Beachtung der vom erkennenden Senat zum Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht im Tauglichkeitsstreit aufgestellten und in ständiger Rechtsprechung bestätigten Grundsätze (vgl. Urteile vom 30. Januar 1987 – BVerwG 8 C 80.85 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 41 S. 1 ≪2≫, vom 25. November 1988 – BVerwG 8 C 42.87 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 45 S. 13 f., vom 19. Juli 1989 – BVerwG 8 C 33.88 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 48 S. 18 f. und vom 12. April 1991 – BVerwG 8 C 45.90 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 53 S. 26 ≪28 ff.≫; Beschluß vom 14. Oktober 1994 – BVerwG 8 B 108.94 – Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 55 S. 1) nachzuholen haben.
Unterschriften
Dr. Kleinvogel, Dr. Silberkuhl, Dr. Honnacker, Sailer, Krauß
Fundstellen