Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch des unzuständigen Leistungsträgers gegen den zuständigen;. Leistungsträger. Erstattungsanspruch des unzuständigen – gegen den zuständigen –. Bedarf; fortbestehender Bedarf als Voraussetzung für Erstattungsanspruch gegen Sozialhilfeträger. Kenntnis vom sozialhilferechtlichen Bedarf als Voraussetzung für Erstattungsanspruch gegen Sozialhilfeträger
Leitsatz (amtlich)
Einem Sozialhilfeträger ist nicht im Sinne von § 105 Abs. 3 SGB X bekannt, daß die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht vorliegen, wenn und soweit der Hilfebedürftige Sozialleistungen von einem anderen Leistungsträger – aus welchem Grund auch immer – erhält und deshalb kein Bedarf (mehr) an den Sozialhilfeträger herangetragen wird.
Normenkette
SGB I § 16 Abs. 2 S. 2; SGB X § 105; RVO § 310 Abs. 2 a.F.
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 06.09.1999; Aktenzeichen 22 A 387/97) |
VG Düsseldorf (Entscheidung vom 29.10.1996; Aktenzeichen 22 K 8590/92) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. September 1999 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin verlangt als Rechtsnachfolgerin der AOK O. von der Beklagten Erstattung für Leistungen, welche die AOK O. für die Dialysebehandlung eines bei dieser freiwillig Versicherten in der Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August 1991 erbracht hat.
Der bereits damals nierenkranke Herr W. trat der AOK O. im Jahre 1984 als freiwilliges Mitglied bei. Mit Schreiben vom 17. Oktober 1984 teilte ihm die Krankenkasse mit, daß nach § 310 Abs. 2 RVO Erkrankungen, die beim Beitritt bereits bestünden, von der Leistungsverpflichtung ausgeschlossen seien. Deshalb seien Leistungen für seine Nierenerkrankung ausgeschlossen. Die Kosten der Dialysebehandlung für die Zeit bis zum 31. März 1990 wurden von der Beklagten getragen.
Mit Schreiben vom 27. April 1990 beantragte die Einrichtung, die seit dem 15. Januar 1990 die Dialysebehandlungen des Herrn W. durchführte, bei der AOK O. mit dem Zusatz „Wechsel des Kostenträgers” die Übernahme der Kosten der Dialysebehandlung ab 1. April 1990. Auf diesen Antrag bestätigte die Klägerin am 16. Mai 1990 der Einrichtung gegenüber: „Die Kosten der Behandlung werden von uns übernommen.” In der Folge bezahlte die Klägerin die Dialysekosten für die Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August 1991.
Mit Schreiben vom 27. August 1991, bei der Beklagten eingegangen am 28. August 1991, teilte die AOK O. der Beklagten mit, daß sie die Kosten der Dialysebehandlung irrtümlich übernommen habe. Zuständig für die Leistung sei das Sozialamt. Die von der Klägerin verlangte Erstattung ihrer Leistungen lehnte die Beklagte ab.
Die Klage der Klägerin gegen die Beklagte auf Erstattung der für die Dialysebehandlung in der Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August 1991 erbrachten Sozialleistungen in Höhe von 82 092 DM hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, der Leistungsausschluß nach § 310 Abs. 2 RVO sei in der fraglichen Zeit nicht mehr wirksam gewesen. Die Berufung der Klägerin hiergegen hat das Oberverwaltungsgericht mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Beklagte nicht zur Leistung von Sozialhilfe verpflichtet gewesen sei; denn der Bedarf der Dialysebehandlung sei bereits gedeckt gewesen, bevor die Beklagte Kenntnis von allen Voraussetzungen der Sozialhilfeleistungspflicht erhalten habe. Sozialhilfe könne nicht zur Behebung einer Notlage beansprucht werden, die im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung nicht mehr bestehe.
Mit ihrer Revision gegen dieses Urteil verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Sie rügt Verletzung des § 105 SGB X.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht. Zu Recht ist das Berufungsgericht zwar davon ausgegangen, daß als Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren allein § 105 SGB X in Betracht kommt, zu Unrecht aber hat es die (sozialhilferechtliche) Leistungszuständigkeit und -pflicht der Beklagten deshalb verneint, weil der (sozialhilferechtliche) Bedarf bereits gedeckt gewesen sei, bevor sie Kenntnis von allen Voraussetzungen der Leistungspflicht erhalten habe.
Zutreffend hat das Berufungsgericht ausgeführt, das Einsetzen der Sozialhilfe hänge davon ab, daß noch ein Bedarf als Grundvoraussetzung für die Hilfegewährung vorliege. Sozialhilfe könne nicht zur Behebung einer Notlage beansprucht werden, die im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung nicht mehr bestehe. Mit dieser für den Anspruch auf Sozialhilfe zutreffenden Aussage kann aber nicht die in § 105 SGB X für den Erstattungsanspruch gegen einen Träger der Sozialhilfe vorausgesetzte Leistungszuständigkeit von vornherein und damit jede Erstattung ausschließend eingeschränkt werden. Denn eine Erstattung zwischen Leistungsträgern setzt gerade voraus, daß der eine Träger bereits Leistungen erbracht und damit einen Bedarf gedeckt hat, den ein anderer Träger noch nicht gedeckt hat. Deshalb kann der für den Hilfeanspruch selbst wesentliche Bedarfsfortbestand für den Erstattungsanspruch wesensmäßig gerade nicht verlangt werden, sondern ist notwendig ausgeschlossen, soweit der Bedarf durch Leistungen des unzuständigen Leistungsträgers gedeckt worden ist, die Grundlage des Erstattungsverlangens nach § 105 SGB X sind. Dem stehen die Gesetzesmaterialien nicht entgegen. Zwar heißt es in der Begründung zu § 111 des Gesetzentwurfs (BTDrucks 9/95 S. 4, 25): „Der Sozialhilfeträger ist insoweit nicht zuständiger Leistungsträger, weil er in der Regel nicht für die Vergangenheit leistet.” Aber Gesetz geworden ist nicht ein solcher genereller Ausschluß einer Erstattung gegen den Sozialhilfeträger, sondern mit der Einfügung des Absatzes 3 in § 111 des Entwurfs (BTDrucks 9/1753 S. 14, 44) und damit in § 105 SGB X nur eine Einschränkung der Erstattung gegen den Sozialhilfeträger, nämlich abhängig von seiner Kenntnis in bezug auf die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht.
Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Unstreitig ist, daß die Klägerin mit der Übernahme der Dialysekosten in der Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August 1991 Sozialleistungen erbracht hat. Für diese Leistungen ist die Klägerin entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts unzuständiger Leistungsträger im Sinne von § 105 SGB X. Denn für diese Kosten waren Krankenkassenleistungen ausgeschlossen.
Herr W., dessen Dialysekosten Gegenstand des Erstattungsstreits sind, war bei der Klägerin seit 1984 nach § 176 RVO a.F. freiwillig versichert. Da seine Nierenerkrankung beim Beitritt zur Krankenkasse bereits bestand, war nach § 310 Abs. 2 RVO a.F. ein Anspruch auf Kassenleistungen für diese Krankheit ausgeschlossen. Die Frage, ob die Streichung des § 310 RVO durch Art. 5 Nr. 2 GRG vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S. 2477, 2552) in einem umfassenden Sinn bewirkt, daß ein bereits zuvor bestimmter und eingetretener Leistungsausschluß für eine bestimmte Erkrankung mit Inkrafttreten, d.h. ab 1. Januar 1989, entfällt, oder ob sie – ohne Übergangsregelung – nur bewirkt, daß die bisher eingetretenen Leistungsausschlüsse bestehen bleiben (so Landessozialgericht Berlin, Urteil vom 12. April 1989 – L 9 Kr 71/88 – ≪Die Leistungen 1990, 146≫ und Landessozialgericht Celle, Urteil vom 16. Juli 1997 – L 4 Kr 10/96 – ≪juris≫), neue aber nicht mehr hinzukommen können, hat das Bundessozialgericht (Urteil vom 17. Juni 1999 – B 12 KR 27/98 R – ≪SozR 3-2200 § 310 RVO Nr. 2≫) offengelassen. Sie ist auch im vorliegenden Rechtsstreit nicht zu entscheiden.
Denn der auf die Nierenerkrankung des freiwillig Versicherten bezogene Leistungsausschluß nach § 310 Abs. 2 RVO war durch bindenden Bescheid vom 17. Oktober 1984 festgestellt worden. Würde die Aufhebung des § 310 Abs. 2 RVO bedeuten, daß auch für bereits vor dem 1. Januar 1989 bestehende Versicherungsverhältnisse der Leistungsausschluß nicht mehr gilt, so läge zwar eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse vor. Aber nicht bereits dadurch verliert der den Leistungsausschluß feststellende Bescheid seine Wirksamkeit, sondern erst dadurch, daß er deswegen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufgehoben wird (BSG, Urteil vom 17. Juni 1999 – B 12 KR 27/98 R – ≪a.a.O.≫). Aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts und den von ihm in Bezug genommenen Akten ergibt sich nicht, daß der den Leistungsausschluß feststellende Verwaltungsakt dem Versicherten gegenüber für die streitgegenständliche Zeit aufgehoben worden ist.
Der Senat kann über den Anspruch auf Erstattung nach § 105 SGB X nicht in der Sache selbst entscheiden. Zwar steht in bezug auf eine mögliche Sozialhilfeleistungspflicht der Beklagten im streitgegenständlichen Zeitraum fest, daß ein Anspruch auf Krankenkassenleistungen ausgeschlossen war und andere Mittel und Leistungen zur Bezahlung der Dialysebehandlung nicht zur Verfügung standen. Es fehlen aber Feststellungen dazu, ob und gegebenenfalls ab wann bzw. bis wann die Beklagte Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Dialysepatienten in bezug auf die Kosten der Dialysebehandlung in der Zeit vom 1. April 1990 bis einschließlich 26. August 1991 hatte (§ 105 Abs. 3 SGB X).
Die Kenntnis der Klägerin vom Leistungsbedarf der Beklagten entsprechend § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I zuzurechnen, scheidet im Rahmen des § 105 Abs. 3 SGB X schon deshalb aus, weil § 105 Abs. 3 SGB X für einen Erstattungsanspruch gegen einen Sozialhilfeträger die Kenntnis des unzuständigen Leistungsträgers vom Leistungsbedarf nicht genügen läßt, sondern ausdrücklich die Kenntnis des Sozialhilfeträgers verlangt.
Bei den Feststellungen des Berufungsgerichts zur Kenntnis bzw. Unkenntnis der Beklagten wird zu beachten sein, daß dem Streitfall eine atypische Konstellation zugrunde liegt. Während im Normalfall die Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit der Unkenntnis darüber zeitlich folgt (vgl. auch § 105 Abs. 3 SGB X: nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war), hatte die Beklagte als über längere Zeit leistendes Sozialamt vor der streitgegenständlichen Zeit Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Dialysepatienten, kann sie aber in der Folge dadurch verloren haben, daß für die Behandlungszeit nach dem 1. April 1990 bis zum 26. August 1991 kein Bedarf an Dialysebehandlungskosten mehr an sie herangetragen worden ist. Möglich und deshalb vom Berufungsgericht zu prüfen ist, ob die Beklagte, die durch die fortlaufende Bezahlung der Kosten für die Krankenbeförderung zur Dialysebehandlung die fortdauernde Hilfebedürftigkeit des Patienten im übrigen kannte, in bezug auf die Kosten der Dialysebehandlung selbst die Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Dialysepatienten dadurch verlor, daß insoweit kein Bedarf mehr geltend gemacht worden ist. Denn da hier für eine längere Zeit Rechnungen für die Dialysebehandlung selbst ausblieben und monatlich weiterhin nur noch die Kosten der Krankenbeförderung in Rechnung gestellt wurden, erscheint es möglich, daß die Beklagte davon ausgegangen ist, daß nunmehr ein anderer und damit (§ 2 Abs. 1 BSHG) vorrangiger Leistungsträger – aus welchem Grund auch immer – eingetreten und damit ihre Sozialhilfeleistungspflicht entfallen ist. Das zu klären, bedingt die Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Unterschriften
Dr. Säcker, Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 15.06.2000 durch Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 558309 |
NVwZ-RR 2000, 793 |
DÖV 2001, 1009 |
FEVS 2000, 445 |
SGb 2000, 678 |
ZfF 2002, 21 |
ZfF 2002, 93 |
BayVBl. 2001, 185 |
DVBl. 2000, 1694 |
GV/RP 2001, 16 |
FuBW 2001, 229 |
FuHe 2001, 405 |
NDS-RD 2000, 87 |
info-also 2001, 47 |