Leitsatz (amtlich)
1. Die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Identitätssicherung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG endet nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags, sondern erstreckt sich dem Grunde nach auch auf die dem Asylverfahren zuzurechnende Phase bis zur Beendigung des Aufenthalts oder Entstehung eines asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrechts.
2. Die Befugnis des Bundesamts zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen greift nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme ihres Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird.
3. Die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen endet vorbehaltlich weitergehender Einschränkungen aus dem Unionsrecht jedenfalls mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels.
Verfahrensgang
VG Berlin (Urteil vom 27.04.2020; Aktenzeichen 33 K 395.19 A) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 27. April 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung.
Rz. 2
Der Kläger reiste 2011 unter falscher Identität in das Bundesgebiet ein und stellte im Oktober 2014 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - einen Asylantrag. Im September 2015 offenbarte er der Ausländerbehörde unter Vorlage eines im Januar 2014 ausgestellten portugiesischen Reisepasses seine wahre Identität. Nach Rücknahme des Asylantrags wurde das Asylverfahren im September 2015 eingestellt.
Rz. 3
Mit Bescheid vom 4. September 2019 ordnete das Bundesamt die nachträgliche Durchführung einer erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers an und drohte für den Fall des Nichterscheinens dessen Vorführung zur Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme eines digitalen Lichtbildes an.
Rz. 4
Das Verwaltungsgericht hat diesen Bescheid mit Urteil vom 27. April 2020 aufgehoben. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger sei als Unionsbürger nicht verpflichtet, die vorgesehenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden. Aufgrund seines Asylantrags habe er zwar den allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 15 AsylG unterlegen. Diese umfassten gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG auch das Dulden der nach § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen. Dies gelte nach § 15 Abs. 5 AsylG auch nach Rücknahme des Asylantrags. Der Durchführung der hier in Rede stehenden erkennungsdienstlichen Maßnahmen stehe jedoch der Umstand entgegen, dass der Kläger inzwischen Unionsbürger sei. Soweit § 16 AsylG der Umsetzung der Eurodac-Verordnung diene, setze das Erheben von Daten deren anschließende Speicherung voraus. Erwerbe eine Person vor Ablauf der Aufbewahrungsfrist die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, seien ihre Daten gemäß Art. 13 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 im Zentralsystem zu löschen. Dies gelte erst recht, wenn der Erwerb einer EU-Staatsangehörigkeit der (beabsichtigten) Erhebung vorausgehe. Nach dem Gebot der Datenminimierung in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DS-GVO sollten personenbezogene Daten auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt sein. Der Löschungsvorschrift sei zu entnehmen, dass der Verordnungsgeber die Daten nach Erwerb einer EU-Staatsangehörigkeit nicht mehr für erforderlich halte. Dies gelte auch für das Erheben und Übermitteln der Daten. Im nationalen Ausländerzentralregister dürften Daten von Unionsbürgern zwar gespeichert werden, dies gelte aber nicht für Fingerabdrücke und Lichtbilder. Dass die vom Bundesamt zur Identitätssicherung erhobenen Daten über das Bundeskriminalamt für Zwecke der Strafverfolgung verarbeitet werden könnten, begründe keine Kompetenz zur Datenerhebung.
Rz. 5
Die Beklagte macht mit der (Sprung-)Revision geltend, mit § 16 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG bestehe auch bei Unionsbürgern eine Rechtsgrundlage zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach Abschluss eines Asylverfahrens und eine damit korrespondierende Mitwirkungspflicht. Die gesetzlich vorgeschriebene Identitätssicherung in Form eines Abgleichs mit aus weiteren Asylverfahren vorliegenden biometrischen Daten setze zwingend die Erhebung der Fingerabdrücke und eines Lichtbilds voraus. Das diene nicht nur der Umsetzung der Eurodac-Verordnung, sondern unabhängig von der Staatsangehörigkeit eines um Asyl Nachsuchenden auch der Aufdeckung von Mehrfachanträgen und damit ggf. einhergehendem Mehrfachbezug von Sozialleistungen sowie der Gefahrenabwehr. Nach der Gesetzesbegründung sei eine erkennungsdienstliche Behandlung selbst bei Personen geboten, die bei Antragstellung einen echten Pass vorlegten. Es sei zu unterscheiden zwischen der Datenerhebung, für die in unterschiedlichem Maß nationale und/oder unionsrechtliche Vorgaben bestünden, und der (dauerhaften) Speicherung dieser Daten, weil eine Datenerhebung nicht zwingend eine anschließende Speicherung voraussetze. Die Erhebung biometrischer Daten, die nicht dauerhaft gespeichert werden dürften, sondern nach einem Abgleich umgehend zu löschen seien, sei zulässig und geboten. Mit einer Datenerhebung namentlich zur Feststellung etwaiger Mehrfachanträge werde das von Art. 13 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 bezweckte Regelungsziel nicht infrage gestellt.
Rz. 6
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung. Nach Rücknahme des Asylantrags und Einstellung des Asylverfahrens bestehe keine asylrechtliche Pflicht zur Duldung einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Außerdem verbiete Unionsrecht die Datenerhebung bei Unionsbürgern. Die Anordnung führe zudem zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist im Einklang mit dem Bundesrecht zu dem Ergebnis gekommen, dass der Bescheid des Bundesamts vom 4. September 2019 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO). Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger als Unionsbürger nicht verpflichtet ist, die vom Bundesamt nachträglich angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG zu dulden (1.). Zwar endet die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags (1.1). Sie greift aber jedenfalls nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme ihres Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird (1.2). Ob und inwieweit eine (nachträgliche) erkennungsdienstliche Behandlung durch das Bundesamt im Lichte des Unionsrechts - insbesondere der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) und der Verordnung (EU) Nr. 2016/679 (Datenschutzgrundverordnung) - weitergehenden Beschränkungen unterliegt, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner abschließenden Entscheidung (1.3); in jedem Fall endet die Anordnungsbefugnis des Bundesamts mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels (1.4). Besteht damit vorliegend schon wegen der Unionsbürgerschaft des Klägers keine Befugnis zur nachträglichen Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch das Bundesamt (1.5), gilt dies gleichermaßen für die an diese Grundverfügung anknüpfende Androhung der Vorführung zur Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme eines Lichtbildes (2.).
Rz. 8
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz (AsylG) in seiner aktuellen Fassung (derzeit: in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 ≪BGBl. I S. 1798≫, zuletzt geändert durch das am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Neunundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei Bildaufnahmen vom 9. Oktober 2020 ≪BGBl. I S. 2075≫). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht geändert. Die - im vorliegenden Verfahren ohnehin nicht entscheidungserhebliche - Herabsetzung des Alters für die Abnahme von Fingerabdrücken in § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylG von 14 auf 6 Jahre durch Art. 5 Nr. 2a des Zweiten Gesetzes zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken (Zweites Datenaustauschverbesserungsgesetz - 2. DAVG) vom 4. August 2019 (BGBl. I S. 1131) tritt erst zum 1. April 2021 in Kraft.
Rz. 9
1. Als Ermächtigungsgrundlage für die vom Bundesamt (nachträglich) angeordnete Durchführung einer - die Abnahme von Fingerabdrücken und die Aufnahme eines digitalen Lichtbildes umfassenden - erkennungsdienstlichen Behandlung kommt nur § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG in Betracht. Hierbei handelt es sich gegenüber (aufenthaltsrechtlichen) Maßnahmen der mit dem Vollzug des Aufenthaltsgesetzes betrauten Behörden zur Feststellung und Sicherung der Identität nach § 49 AufenthG um eine nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen speziellere Regelung für Ausländer, die um Asyl nachsuchen.
Rz. 10
Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Identität eines Ausländers, der um Asyl nachsucht, durch erkennungsdienstliche Maßnahmen zu sichern. Hierzu dürfen nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylG bei Ausländern, die das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, Lichtbilder und Abdrücke aller zehn Finger genommen werden. Die danach vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen hat ein Ausländer nach § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG zu dulden (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 - BVerwGE 147, 329 Rn. 20). Zuständig für Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG und damit auch für deren Anordnung und Vollstreckung ist nach § 16 Abs. 2 AsylG - neben möglichen weiteren Behörden - das Bundesamt als Asylbehörde.
Rz. 11
1.1 Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Identitätssicherung nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags endet (s.a. VG Leipzig, Beschluss vom 19. Juni 2018 - 7 L 647/18.A - juris Rn. 15; a.A. VG Lüneburg, Urteil vom 14. Mai 2019 - 4 A 189/19 - juris Rn. 17 ff.). Zwar müssen erkennungsdienstliche Maßnahmen des Bundesamts im Zusammenhang mit einem Asylverfahren stehen. Allein der Umstand, dass ein Ausländer in der Vergangenheit irgendwann einmal einen Asylantrag gestellt hat, rechtfertigt unter Berücksichtigung der allgemeinen Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde keine unbeschränkte Befugnis zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen durch das Bundesamt. Die dem Grunde nach noch einem konkreten Asylverfahren zuzurechnende Phase erfasst nach Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags aber den Zeitraum bis zur Beendigung des Aufenthalts oder der Entstehung eines asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrechts.
Rz. 12
Keine Beschränkung auf die Phase bis zur Bescheidung oder Rücknahme des Asylantrags folgt daraus, dass § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der Zeitform des Präsens ("nachsucht") formuliert ist. Auch der Wortlaut des § 1 Abs. 1 AsylG zum Geltungsbereich des Asylgesetzes ("Ausländer, die Folgendes beantragen") ist in dieser Zeitform formuliert, obwohl das Asylgesetz auch Regelungen für den Fall der Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags enthält. Dafür, dass jedenfalls allein die Rücknahme eines Asylantrags die Anordnungsbefugnis nicht entfallen lässt, spricht vor allem, dass mit der Anordnungsbefugnis nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine entsprechende Mitwirkungspflicht des Ausländers nach § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG korrespondiert und § 15 Abs. 5 AsylG klarstellt, dass die Mitwirkungspflichten nicht durch Rücknahme des Asylantrags beendet werden. Ob dies auch für Mitwirkungspflichten gilt, die ausschließlich dem eigentlichen Ziel des Anerkennungsverfahrens (Verifizierung des materiellen Asylvorbringens) dienen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls, soweit es - wie hier - um identitätssichernde Maßnahmen geht, ist zu berücksichtigen, dass das "Asylverfahren" im Abschnitt 4 des Asylgesetzes den Unterabschnitt "Aufenthaltsbeendigung" mitumfasst, sodass zum Asylverfahren systematisch auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen zählen, die an die Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags anknüpfen.
Rz. 13
Sinn und Zweck der Anordnungsbefugnis nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG und der damit korrespondierenden Mitwirkungspflicht des Ausländers nach § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG sprechen ebenfalls dafür, dass die Anordnungsbefugnis nicht automatisch mit dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens bzw. der Rücknahme eines Asylantrags endet. § 16 AsylG wurde durch das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 (BGBl. I 1126) in das Asylgesetz eingefügt mit der Zielsetzung, Mehrfachantragstellungen von Asylbewerbern unter Verwendung verschiedener Personalien zu verhindern. Mit der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine generelle erkennungsdienstliche Behandlung von Asylbewerbern durch das Bundesamt - auch bei Personen, die bei Antragstellung einen echten Pass vorgelegt und einen (ersten) Asylantrag unter ihren wirklichen Personalien gestellt haben - wollte der Gesetzgeber vor allem der Gefahr entgegenwirken, dass Antragsteller in Deutschland gleichzeitig oder nacheinander unter verschiedenen Namen und unter Verschweigen anhängiger oder abgeschlossener anderweitiger Asylverfahren weitere Asylanträge stellen (BT-Drs. 12/2062 S. 8 ff., 30 f.). Diese Gefahr endet nicht mit der Rücknahme eines Asylantrags, sondern besteht weiter, solange dem Betroffenen wegen der Erfolglosigkeit seines Asylantrags aufenthaltsbeendende Maßnahmen drohen. Hierfür bedarf es allerdings - entgegen dem Vorbringen der Beklagten - nicht nur eines Abgleichs, sondern einer dauerhaften Speicherung der bei der erkennungsdienstlichen Behandlung erhobenen biometrischen Daten. Denn ohne eine Speicherung dieser Daten stünden für einen Abgleich im Falle eines erneuten Asylantrags keine Vergleichsdaten zur Verfügung. Sie erfolgt nach § 16 Abs. 4 AsylG beim Bundeskriminalamt getrennt von anderen erkennungsdienstlichen Daten. Dort sind die Daten zehn Jahre nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu löschen (§ 16 Abs. 6 AsylG).
Rz. 14
Darüber hinaus dient § 16 AsylG der Erfüllung der unionsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Eurodac-Verordnung (BT-Drs. 14/7386 S. 59; allgemein S. 36). Nach Art. 9 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 (früher: Art. 4 VO ≪EU)≫ Nr. 2725/2000) haben die Mitgliedstaaten jeder Person, die internationalen Schutz beantragt und mindestens 14 Jahre alt ist, umgehend den Abdruck aller Finger abzunehmen und diesen zusammen mit weiteren Daten sobald wie möglich, spätestens aber 72 Stunden nach der Antragstellung an das Zentralsystem zu übermitteln. Die Nichteinhaltung der Frist von 72 Stunden entbindet die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 VO (EU) Nr. 603/2013 nicht von der Verpflichtung zur Abnahme der Fingerabdrücke und ihrer Übermittlung an das Zentralsystem. Diese vergleicht die Fingerabdrücke mit den von anderen Mitgliedstaaten übermittelten und in der zentralen Datenbank bereits gespeicherten Daten (Abs. 3), auf Wunsch auch mit früher übermittelten Fingerabdruckdaten des gleichen Mitgliedsstaats (Abs. 4). Auch diese Zweckbestimmung endet nicht automatisch mit der Rücknahme eines Asylantrags. Denn nach Art. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 besteht die Aufgabe des "Eurodac"-Systems darin, die Bestimmung des Mitgliedstaats, der nach den Dublin-Bestimmungen für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zu unterstützen und die Anwendung der Dublin-Bestimmungen zu erleichtern. Damit entfaltet die Speicherung von Fingerabdrücken im Eurodac-System über den Abschluss eines nationalen Asylverfahrens hinaus Wirkung, weil mit ihr eine unerwünschte (Sekundär-)Migration mit ggf. erneuter Asylantragstellung in einem anderen Mitgliedstaat verhindert werden soll.
Rz. 15
1.2. Die Befugnis des Bundesamts zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen gilt aber jedenfalls nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme eines Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird.
Rz. 16
In diesen Fällen scheidet eine Verpflichtung zur Erhebung und Übermittlung von Daten nach der Eurodac-Verordnung schon deshalb aus, weil deren Anwendungsbereich auf die Erfassung, Übermittlung und Speicherung der Daten von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen beschränkt ist. Erwirbt eine Person nachträglich die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, sind alle über sie im Zentralsystem gespeicherten Daten vorzeitig zu löschen (Art. 13 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 2 Buchst. c VO ≪EU≫ Nr. 603/2013).
Rz. 17
Allerdings verbietet die Eurodac-Verordnung den Mitgliedstaaten nicht, weitere biometrische Daten zu erheben und von ihnen erhobene Daten in ihren nationalen Datenbanken - auch zu anderen Zwecken - zu speichern (vgl. Art. 1 Abs. 3 VO ≪EU≫ Nr. 603/2013). Dabei ist bei Unionsbürgern aber zu berücksichtigen, dass sich nach Rücknahme des Asylantrags ihr (weiterer) Aufenthalt im Bundesgebiet nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU richtet. Danach besteht für Unionsbürger die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts, die durch eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU beseitigt werden muss (BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 - 1 C 48.18 - BVerwGE 166, 251 Rn. 13 m.w.N.). Diese unmittelbar unionsrechtlich begründete Rechtsposition erlischt nicht nach § 55 Abs. 2 AsylG mit der Asylantragstellung und steht dem Besitz eines Aufenthaltstitels i.S.v. § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gleich. Folglich scheiden bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf asylrechtlicher Grundlage von vornherein aus. Ihr Asylverfahren endet bei Rücknahme des Antrags mit der Einstellung des Asylverfahrens.
Rz. 18
Damit sind erkennungsdienstliche Maßnahmen bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern - jedenfalls nach Abschluss ihres Asylverfahrens - nur nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU und unter Beachtung des Diskriminierungsverbots für Unionsbürger nach Art. 18 AEUV zulässig. Die in § 49 AufenthG normierte Befugnis der Ausländerbehörden zur Feststellung und Sicherung der Identität findet auf sie keine entsprechende Anwendung (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Nichts Anderes gilt für die Befugnis zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen durch das Bundesamt auf asylrechtlicher Grundlage. Folglich können erkennungsdienstliche Maßnahmen nach Antragsrücknahme bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern nicht allein auf die mit § 16 Abs. 1 AsylG bezweckte Verhinderung von Mehrfachanträgen gestützt werden.
Rz. 19
1.3 Ob und inwieweit eine erkennungsdienstliche Behandlung durch das Bundesamt nach Rücknahme des Asylantrags im Lichte des Unionsrechts - insbesondere der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) und der Verordnung (EU) Nr. 2016/679 (Datenschutzgrundverordnung) - weitergehenden Beschränkungen unterliegt, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner abschließenden Entscheidung.
Rz. 20
Nach Art. 13 Abs. 1 RL 2013/32/EU haben die Mitgliedstaaten die Antragsteller zu verpflichten, mit den zuständigen Behörden zur Feststellung ihrer Identität und anderer in Art. 4 Abs. 2 RL 2011/95/EU genannter Angaben (einschließlich der Identität und Staatsangehörigkeit≪en≫) zusammenzuarbeiten (Satz 1); sie können den Antragstellern weitere Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden auferlegen, sofern diese Verpflichtungen für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sind (Satz 2). Insbesondere können sie festlegen, dass die zuständigen Behörden ein Lichtbild des Antragstellers anfertigen dürfen (Art. 13 Abs. 2 Buchst. e RL 2013/32/EU). Damit sind erkennungsdienstliche Maßnahmen bei Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen unionsrechtlich nur zulässig, wenn und soweit sie entweder der Feststellung der Identität dienen oder für die Bearbeitung des Asylantrags erforderlich sind. Ob und inwieweit damit unionsrechtlich über die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach der Eurodac-VO hinaus auch erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig sind, die bei geklärter Identität nur der Aufdeckung von Mehrfachanträgen in Deutschland unter anderer Identität dienen, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Gleiches gilt für die Frage, ob und inwieweit die Verarbeitung biometrischer Daten durch das Bundesamt im Einklang steht mit der Datenschutzgrundverordnung, insbesondere mit Art. 9 Abs. 2 Buchst g DSGVO.
Rz. 21
1.4 Ungeachtet etwaiger weitergehender unionsrechtlicher Einschränkungen endet die Anordnungsbefugnis des Bundesamts nach § 16 AsylG - auch bei Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen - jedenfalls mit der Entstehung eines asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrechts. Denn ab diesem Zeitpunkt besteht - bis zur Stellung eines Folgeantrags oder im Falle der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft bis zur Einleitung eines Widerrufs- oder Rücknahmeverfahrens (vgl. § 73 Abs. 3a Satz 2 AsylG) - kein hinreichender Bezug (mehr) zu einem Asylverfahren. Mit Erlangung eines Aufenthaltsrechts auf ausländerrechtlicher Grundlage sind identitätssichernde erkennungsdienstliche Maßnahmen nach Maßgabe der allgemeinen ausländerrechtlichen Befugnisnorm des § 49 AufenthG durch die mit dem Vollzug des Aufenthaltsgesetzes betrauten Behörden zulässig und rechtfertigt allein die vom Gesetzgeber bezweckte Verhinderung weiterer Asylanträge unter anderer Identität keine fortbestehende Zuständigkeit des Bundesamts für Maßnahmen der Identitätssicherung auf asylrechtlicher Grundlage.
Rz. 22
1.5 In Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für die vom Bundesamt angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung nicht vor. Zwar hat der Kläger in Deutschland wirksam um Asyl nachgesucht (a). Nach Offenbarung seiner wahren Identität und Staatsangehörigkeit und bestandskräftigem Abschluss des Asylverfahrens besteht aber keine Befugnis zur Anordnung identitätssichernder Maßnahmen auf asylrechtlicher Grundlage (b).
Rz. 23
a) Der Kläger hatte bei Antragstellung im Oktober 2014 das 16. Lebensjahr vollendet und war damit nach § 12 Asyl(Vf)G in der seinerzeit maßgeblichen Fassung auch ohne Mitwirkung seines Vormunds handlungsfähig. Ausgehend von dem in seinem portugiesischen Reisepass eingetragenen Geburtsdatum (20. Januar 1994) war er bei Antragstellung im Oktober 2014 sogar schon volljährig. Unerheblich für die Wirksamkeit des von ihm gestellten Asylantrags ist, dass er wohl schon bei Antragstellung die portugiesische Staatsangehörigkeit besaß. Denn auch Unionsbürger sind Ausländer im Sinne des § 1 Abs. 1 AsylG (s.a. Protokoll vom 2. Oktober 1997 über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU ≪ABl. C 340 S. 103≫).
Rz. 24
b) Nach Klärung seiner Identität ist der Kläger als Unionsbürger grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt. Seine Fingerabdrücke sind nicht in die Eurodac-Datenbank aufzunehmen und sein (weiterer) Aufenthalt im Bundesgebiet richtet sich bis zu einer - bisher nicht erfolgten - Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach dem FreizügG/EU. Sein Asylverfahren endete mit der Antragsrücknahme und der anschließenden Einstellung des Asylverfahrens. Damit besteht keine Befugnis des Bundesamts zur Anordnung identitätssichernder erkennungsdienstlicher Maßnahmen.
Rz. 25
2. Ist die nachträgliche Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach den vorstehenden Ausführungen rechtswidrig, so gilt dies gleichermaßen für die daran anknüpfende Androhung der Vorführung zur Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme eines Lichtbildes.
Rz. 26
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Rz. 27
4. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
DÖV 2021, 648 |
JZ 2021, 374 |
VR 2021, 288 |
ZAR 2021, 17 |
ZAR 2021, 306 |
Asylmagazin 2021, 289 |