Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermessensfehlerhafte Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts des drittstaatsangehörigen Ehegatten einer Unionsbürgerin aus Gründen der öffentlichen Ordnung erfordert eine Ermessensentscheidung, in der sich die Ausländerbehörde auch mit der substantiiert vorgetragenen Gefahr von Nachteilen im Herkunftsstaat unterhalb der Schwelle im Asylverfahren zu prüfender Nachteile (hier: erneute Bestrafung in seinem Herkunftsland) auseinandersetzt.
Verfahrensgang
OVG der Freien Hansestadt Bremen (Urteil vom 30.09.2020; Aktenzeichen 2 LC 166/20) |
VG Bremen (Urteil vom 09.03.2020; Aktenzeichen 4 K 1863/18) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 30. September 2020 und des Verwaltungsgerichts Bremen vom 9. März 2020 geändert.
Die Verfügung der Beklagten vom 5. Juli 2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen Instanzen.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung der Beklagten, dass er sein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger von Unionsbürgern nach § 6 FreizügG/EU verloren habe, sowie eine damit verbundene Abschiebungsandrohung.
Rz. 2
Der 1966 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er führte ab 1992 in Deutschland erfolglos mehrere Asylverfahren durch. Im Jahr 2003 oder 2004 reiste er zuletzt erneut nach Deutschland und stellte einen weiteren Asylfolgeantrag, dessen Ablehnung durch Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom Oktober 2007 rechtskräftig bestätigt wurde. 2013 schloss der Kläger die Ehe mit seiner langjährigen Lebensgefährtin, einer rumänischen Staatsangehörigen. Aus der Beziehung sind drei in den Jahren 2001, 2005 und 2013 geborene Kinder hervorgegangen.
Rz. 3
Im Januar 2007 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Heroin) in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Im Januar 2014 wurde ihm eine für fünf Jahre gültige Aufenthaltskarte als Familienangehöriger von Unionsbürgern ausgestellt.
Rz. 4
Im März 2016 kam der Kläger erneut in Untersuchungshaft. Mit Urteil vom Januar 2017 verurteilte ihn das Landgericht Bremen wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und elf Monaten. Seine Strafhaft verbüßt der Kläger in der JVA Bremen, seit September 2019 im offenen Vollzug.
Rz. 5
Im Oktober 2017 hörte das Migrationsamt der Beklagten den Kläger zu einer beabsichtigten Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nebst Einziehung der Aufenthaltskarte, Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung und Anordnung der sofortigen Vollziehung an.
Rz. 6
Mit Schreiben vom 5. Juli 2018 teilte der Senator für Inneres der Beklagten dem Kläger die Übernahme der Zuständigkeit als Ausländerbehörde in seiner Sache mit. Mit Verfügung vom selben Tage stellte er den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Sinne des FreizügG/EU für die Dauer von vier Jahren fest (Ziff. 1), wies den Kläger auf seine Ausreisepflicht hin und drohte ihm ohne Fristsetzung unmittelbar aus der Haft die Abschiebung in die Türkei an (Ziff. 2). Für den Fall, dass zum Zeitpunkt der Haftentlassung eine Abschiebung nicht möglich sein sollte, drohte er dem Kläger die Abschiebung in die Türkei an, sofern er seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb eines Monats nach Entlassung nachkomme (Ziff. 3). Zur Begründung führte der Senator aus, die strafgerichtliche Verurteilung vom Januar 2017 und das im Urteil geschilderte Tatgeschehen ließen ein persönliches Verhalten erkennen, das die öffentliche Ordnung in erheblicher Weise gefährde. Das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln berge ein hohes Maß an Sozialschädlichkeit und sei im Bereich der Schwerkriminalität zu verorten. Aufgrund verschiedener Gesichtspunkte sei die Annahme begründet, dass der Kläger nach Haftende auch zukünftig im Bundesgebiet durch einschlägige Straftaten auffallen werde. Die danach eröffnete Ermessensentscheidung falle zulasten des Klägers aus. Nur seine längerfristige Fernhaltung aus dem Bundesgebiet könne eine Gefährdung der hiesigen Sicherheit und Ordnung durch ihn verhindern. Zwar stellten seine Ehe und die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Kindern gewichtige persönliche Belange dar. In der Abwägung überwiege jedoch das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung. Diese sei sowohl mit Art. 8 EMRK als auch mit Art. 3 Abs. 1 Europäisches Niederlassungsabkommen (ENA) vereinbar. Es sei auch verhältnismäßig, die Dauer der Wiedereinreisesperre auf vier Jahre zu befristen. Dauernde rechtliche Hinderungsgründe gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU (a.F.) i.V.m. §§ 60 und 60a AufenthG stünden der Abschiebung nicht entgegen. Dem Erlass der Abschiebungsandrohung stehe selbst das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU (a.F.) i.V.m. § 59 Abs. 3 AufenthG jedoch auch nicht entgegen.
Rz. 7
Im Oktober 2018 wurde die Ehefrau des Klägers unter Beibehaltung ihrer rumänischen Staatsangehörigkeit eingebürgert.
Rz. 8
Mit seiner fristgerecht erhobenen Klage machte der Kläger neben der Unzuständigkeit des Senators für Inneres unter anderem geltend, die mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot einhergehende Aufenthaltsbeendigung stelle eine unzulässige Doppelbestrafung dar. Ihm drohe gar eine "Dreifachbestrafung", weil bei Betäubungsmitteldelikten mit "Türkeibezug" eine erneute Strafverfolgung in der Türkei grundsätzlich in Betracht komme. Im Falle der Inhaftierung drohe ihm zudem mit Blick auf die Haftbedingungen in der Türkei eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.
Rz. 9
Mit Urteil vom 9. März 2020 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Im Berufungsverfahren hat die Beklagte geltend gemacht, das Vorbringen zu einer ("Dreifach-")Bestrafung unter unmenschlichen Haftbedingungen in der Türkei könne allenfalls ein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfendes Abschiebungsverbot begründen. Ein solches stehe im vorliegenden Verfahren weder der Verlustfeststellung noch - mit Blick auf § 59 Abs. 3 AufenthG - der Abschiebungsandrohung entgegen; zudem sei von einem solchen allein wegen einer etwaigen Doppelbestrafung auch nicht auszugehen.
Rz. 10
Mit Urteil vom 30. September 2020 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Klägers für die Dauer von vier Jahren ab der Ausreise und die Androhung der Abschiebung in die Türkei seien formell und materiell rechtmäßig. Der Senat für Inneres sei nach § 1 Nr. 1, § 3 Abs. 4 BremAufenthZVO für den Erlass des Bescheides sachlich zuständig. Diese Regelungen seien mit höherrangigem Recht vereinbar. Sie seien mit § 79 Abs. 3 BremPolG (in Verbindung mit § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) auf eine hinreichende gesetzliche Grundlage zurückzuführen. Der Bescheid sei auch materiell rechtmäßig. Die Verlustfeststellung finde ihre Rechtsgrundlage in der - zumindest entsprechend anwendbaren - Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 FreizügG/EU. Die Umstände der Begehung der Straftaten, für die der Kläger in den Jahren 2007 und 2017 verurteilt worden sei, ließen ein persönliches Verhalten erkennen, das die Prognose rechtfertige, der Kläger werde mit hoher Wahrscheinlichkeit nach seiner Entlassung wieder mit Heroin handeln oder Heroin nach Deutschland einführen. Diese aktuell fortbestehende Gefahr begründe eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Die erhöhten Anforderungen, die § 6 Abs. 4 und 5 Satz 1 und 3 FreizügG/EU an eine Verlustfeststellung stellten, seien vorliegend nicht anwendbar, denn der Kläger habe kein Daueraufenthaltsrecht erworben. Die Beklagte habe ihr Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt. Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts sei auch mit Blick auf das nach Art. 8 EMRK, Art. 7 GRC geschützte Familienleben nicht unverhältnismäßig. Ein Überwiegen des Bleibeinteresses ergebe sich auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, ihm drohe in der Türkei eine erneute Verurteilung für die Lieferung von Heroin aus der Türkei nach Deutschland, für die er bereits vom Landgericht Bremen verurteilt worden sei, sowie anschließend Haft unter unmenschlichen Bedingungen. Die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung könne im ausländerrechtlichen Verfahren vorliegend nicht geprüft werden. Der Kläger mache damit materiell Gründe für subsidiären Schutz geltend. Für dessen Prüfung ebenso wie für die Feststellung von Abschiebungsverboten wäre im Fall des Klägers allein das Bundesamt zuständig, weil der Kläger bereits in der Vergangenheit Asylanträge gestellt habe. Bis zu einer anderen Entscheidung des Bundesamtes sei die Beklagte an die im letzten Asylverfahren getroffene negative Feststellung gebunden, wonach zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse für die Türkei nicht bestünden. Die Feststellung eines solchen Abschiebungsverbots hätte im Übrigen lediglich zur Folge, dass der tatsächliche Aufenthalt des Klägers in Deutschland nicht zwangsweise beendet werden dürfe, sie stehe aber der Verlustfeststellung - nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung - nicht entgegen. Allerdings sei in die Interessenabwägung bei einer Ausweisung oder Verlustfeststellung die drohende Beeinträchtigung von Belangen des Ausländers im Herkunftsstaat einzustellen, soweit sie unterhalb der Schwelle eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots liege. Bei Anwendung dieses Maßstabs - Unterstellung, dass die zielstaatsbezogenen Nachteile unterhalb der bezeichneten Schwelle verbleiben - stünde die Gefahr, dass der Kläger in der Türkei erneut bestraft und inhaftiert wird, der Verlustfeststellung nicht entgegen, auch wenn die Aufrechterhaltung der Kontakte zur Familie dadurch erschwert werde. Die Befristung der Dauer der Verlustfeststellung nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU auf vier Jahre sei nicht zu beanstanden; Gleiches gelte für die Abschiebungsandrohung. Der Umstand, dass sich der Kläger mit seinem Vortrag, er befürchte in der Türkei unmenschliche Behandlung durch eine erneute Bestrafung und die dortigen Haftbedingungen, der Sache nach auf Gründe für die Gewährung subsidiären Schutzes berufe, führe nicht zur Entstehung einer Aufenthaltsgestattung und damit nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung. Zwar dürfte es sich insoweit um ein Asylgesuch im Sinne von § 13 Abs. 1 letzte Alt., Abs. 2 Satz 2 AsylG handeln. Eine Aufenthaltsgestattung würde jedoch erst entstehen, wenn das Bundesamt auf den nach § 71 Abs. 2 AsylG gestellten Folgeantrag gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG entscheiden würde, dass ein neues Asylverfahren durchgeführt wird. Das letzte bestandskräftig abgelehnte Asylverfahren des Klägers habe sich auch bereits auf die Gewährung subsidiären Schutzes bezogen.
Rz. 11
Mit seiner Revision rügt der Kläger u.a., der Senator für Inneres habe als unzuständige Behörde entschieden, denn die Bestimmungen der BremAufenthZVO genügten nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Parlamentsvorbehalts und des Bestimmtheitsgebots aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG; es fehle bereits an einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Art. 80 Abs. 1 GG sei auch deshalb verletzt, weil mit der Zuständigkeitsbegründung des Senators für Inneres als oberste Landesbehörde das Widerspruchsverfahren in diesen Fällen faktisch abgeschafft werde. In materieller Hinsicht sei § 6 Abs. 1 FreizügG/EU verletzt. Der Kläger wiederholt insoweit sein Vorbringen zur Gefahr einer unzulässigen Doppel- oder Dreifachbestrafung in der Türkei und zu dort drohenden unmenschlichen Haftbedingungen, die Art. 3 EMRK verletzten. Zwar gehe die nationale Rechtsprechung bei Ausweisungen davon aus, dass zielstaatsbezogene Gefahren ausschließlich gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem Asylverfahren nach § 13 AsylG geltend zu machen sind. Für eine europäischem Recht unterliegende Verlustfeststellung könne dies aber nicht gelten. Über das in Art. 28 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) erwähnte Tatbestandsmerkmal "Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat" seien auch zielstaatsbezogene Gefahren jeglicher Art zu berücksichtigen. Es verletze daher § 6 FreizügG/EU und europäisches Recht, wenn das Berufungsgericht lediglich Benachteiligungen unterhalb der Schwelle des Art. 3 EMRK berücksichtige.
Rz. 12
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil. Die Einwände gegen die Zuständigkeit des Senators für Inneres könnten der Revision schon deshalb nicht zum Erfolg verhelfen, weil eine landesrechtliche Verordnung nicht Gegenstand der Revision sein könne. Das Vorbringen des Klägers, ihm drohe in der Türkei aufgrund einer Doppelbestrafung und der Haftbedingungen unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. Art. 3 EMRK, sei allein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylverfahren zu prüfen. Wegen der in § 42 Satz 1 AsylG angeordneten Bindungswirkung sei der Kläger insoweit darauf zu verweisen, einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens beim Bundesamt zu stellen. Der Ausländer habe gerade kein Wahlrecht zwischen einer Prüfung eines derartigen Vorbringens durch die Ausländerbehörde und einer solchen durch das Bundesamt.
Rz. 13
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren; er unterstützt die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts und der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Rz. 14
Die zulässige Revision ist begründet. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, die angefochtene Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts sei ermessensfehlerfrei erfolgt, verletzt Bundesrecht. Die Verlustfeststellung ist vielmehr wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig, weil die Beklagte das Vorbringen des Klägers zu einer ihm in der Türkei möglicherweise drohenden Doppelbestrafung in ihren Ermessenserwägungen nicht zumindest nachträglich berücksichtigt hat.
Rz. 15
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 11). Insbesondere die Gefahrenbeurteilung hat damit Umstände mit in den Blick zu nehmen, die erst nach Erlass der Verfügung eingetreten sind (EuGH, Urteile vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16 [ECLI:EU:C:2018:256], Vomero - juris Rn. 89 ff. und vom 29. April 2004 - C-482/01, C-493/01 [ECLI:EU:C:2004:262], Orfanopoulos und Oliveri - juris Rn. 82). Etwas anderes gilt für Tatbestandsmerkmale, die - wie die Voraussetzungen des gesteigerten Ausweisungsschutzes nach § 6 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU - nach dem materiellen Recht bereits bei Verfügung der Verlustfeststellung vorliegen müssen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16 - juris Rn. 84 ff.; VGH Mannheim, Urteil vom 16. Dezember 2020 - 11 S 955/19 -). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 - Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 15 Rn. 15). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist daher das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950 ≪1986≫), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht vom 12. November 2020 (BGBl. I S. 2416), das am 24. November 2020 in Kraft getreten ist.
Rz. 16
1. Die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage gegen die Verlustfeststellung ist zulässig. Insbesondere bedurfte es nicht der vorherigen Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, weil der angefochtene Verwaltungsakt vom Senator des Innern in seiner Eigenschaft als oberste Landesbehörde erlassen worden ist (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO) und das Berufungsgericht zudem diesen ohne revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehler als zuständig gesehen hat.
Rz. 17
2. Die Klage ist auch begründet. Zwar ist die angefochtene Verfügung vom 5. Juli 2018 in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden (2.1). Vom Kläger geht auch eine Gefahr aus, die in materieller Hinsicht unter Berücksichtigung der konkret einschlägigen Gefahrenschwelle eine Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung grundsätzlich rechtfertigen kann (2.2). Die Verlustfeststellung der Beklagten leidet jedoch an einem Ermessensfehler, der zu ihrer Aufhebung führt (2.3). Damit können auch die Folgeentscheidungen keinen Bestand haben (2.4).
Rz. 18
2.1. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung (§ 6 Abs. 1 FreizügG/EU) wurde von der zuständigen Behörde erlassen (2.1.1). Sie ist auch im Übrigen formell rechtmäßig (2.1.2).
Rz. 19
2.1.1 Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, der Senator für Inneres sei nach § 1 Nr. 1, § 3 Abs. 4 der Verordnung über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden nach dem Aufenthaltsgesetz vom 28. November 2017 (Brem.GBl. S. 581, im Folgenden: BremAufenthZVO) für den Erlass des angefochtenen Bescheides zuständig, verletzt kein revisibles Recht.
Rz. 20
a) Nach den bundesgesetzlichen Vorgaben fällt die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 FreizügG/EU in die Zuständigkeit der Ausländerbehörde. Dies folgt sowohl aus § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als auch mittelbar aus § 7 Abs. 1 FreizügG/EU. Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sind für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen nach diesem Gesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen die Ausländerbehörden zuständig. Ausländerrechtliche Bestimmungen in anderen Gesetzen sind nach der Rechtsprechung des Senats insbesondere auch die Regelungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Dem steht nicht entgegen, dass das Aufenthaltsgesetz gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG grundsätzlich keine Anwendung findet auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Freizügigkeitsgesetz/EU geregelt ist. Denn dies gilt nach dem letzten Halbsatz der Vorschrift nur, soweit nicht "durch Gesetz etwas anderes bestimmt" ist. Eine solche anderweitige Bestimmung enthält § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, weil diese Regelung sich mit dem Zusatz "und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen" auch für den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU Geltung beimisst (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2011 - 1 C 18.10 - BVerwGE 140, 72 Rn. 9 ff.).
Rz. 21
Welche Behörden Ausländerbehörden im Sinne des Aufenthaltsgesetzes (und des Freizügigkeitsgesetzes/EU) sind, hat der Bundesgesetzgeber nicht selbst bestimmt. Die Bestimmung, welche konkreten (Landes-)Behörden als Ausländerbehörden anzusehen sind, fällt deshalb gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG in die Regelungskompetenz der Länder (vgl. näher BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2021 - 1 B 38.21 - Rn. 6; Gutmann, in: GK-AufenthG, § 71 Rn. 6 ff.). In welcher Rechtsform sie diese Bestimmungen treffen, ist zuvörderst eine Frage des (nicht revisiblen) Landesrechts. Geschieht dies - wie in Bremen - durch Rechtsverordnung, unterliegt es allerdings revisionsgerichtlicher Überprüfung, ob diese auf eine verfassungsgemäße gesetzliche Verordnungsermächtigung im Bundes- oder Landesrecht zurückzuführen ist, die Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt (zur Bindung auch der Landesgesetzgebung an den in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Grundsatz vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2000 - 6 P 1.99 - BVerwGE 110, 253 ≪255 f.≫; BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 1981 - 1 BvR 640/80 - juris Rn. 62).
Rz. 22
Daran gemessen begründet § 1 Nr. 1, § 3 Abs. 4 BremAufenthZVO in Einklang mit Bundesrecht für die streitgegenständliche Verlustfeststellung (und damit zusammenhängende Folgeentscheidungen) die Zuständigkeit des Senators für Inneres. § 1 BremAufenthZVO legt die Ausländerbehörden im Sinne des § 71 Abs. 1 AufenthG für den - aus den Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven bestehenden - Stadtstaat Bremen und deren örtlichen Wirkungsbereich fest: Ausländerbehörden sind danach 1. für die Freie Hansestadt Bremen der Senator für Inneres nach Maßgabe des § 3, 2. für die Stadtgemeinde Bremen das Migrationsamt und 3. für die Stadtgemeinde Bremerhaven der Magistrat der Stadt Bremerhaven. Die - gegenständlich beschränkte - Zuständigkeit des Senators für Inneres erstreckt sich nach § 3 Abs. 4 BremAufenthZVO unter anderem auf "Feststellungen des Verlusts des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU sowie weitere ausländerrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen (...), die im Zusammenhang mit der Beendigung des Aufenthalts stehen oder der Sicherung der Ausreise dienen".
Rz. 23
Diese Zuständigkeitsbestimmung beruht auf einer hinreichend bestimmten Verordnungsermächtigung im Bremischen Polizeigesetz (BremPolG); es kann deshalb auf sich beruhen, ob vorliegend auch die (bundes-)gesetzliche Verordnungsermächtigung in § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG einschlägig ist. Nach § 79 Abs. 3 BremPolG a.F. und dem wortgleichen § 141 Abs. 3 BremPolG in der am 8. Dezember 2020 in Kraft getretenen aktuellen Fassung des Gesetzes vom 24. November 2020 (Brem.GBl. S. 1486, 1568) kann der Senat durch Rechtsverordnung den Polizeibehörden Aufgaben übertragen, die sich aus Bundesgesetzen ergeben, welche die Länder als eigene Angelegenheiten oder im Auftrage des Bundes auszuführen haben. In dieser Regelung hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage (auch) für die in § 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Abs. 4 BremAufenthZVO getroffene Zuständigkeitszuweisung an den Senator für Inneres gesehen. Die dem Senator für Inneres damit zugewiesene gegenständlich beschränkte Zuständigkeit kann der Gefahrenabwehr zugeordnet werden; das gilt jedenfalls für die hier ergangene Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung gemäß § 6 FreizügG/EU. Bei dem Senator für Inneres handelt es sich auch um eine Polizeibehörde im Sinne des Bremischen Polizeigesetzes.
Rz. 24
Weitergehende Bestimmtheitsanforderungen sind an die Verordnungsermächtigung - auch unter dem Gesichtspunkt des Parlamentsvorbehalts - hier nicht zu stellen, weil es sich lediglich um eine Übertragung von Zuständigkeiten handelt, die als solche keine spezielle Grundrechtsrelevanz aufweist. Die weitergehende Interpretation des Klägers, der den die Zuständigkeit des Senators begründenden Normen offenbar (auch) eine materielle Eingriffsbefugnis entnimmt, ist rechtsirrig. Von einem solchen Verständnis, dem wegen der in materieller Hinsicht abschließenden Regelungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU und des Aufenthaltsgesetzes Bundesrecht entgegenstünde, sind ersichtlich auch weder das Oberverwaltungsgericht noch die Beklagte ausgegangen.
Rz. 25
b) Die die Zuständigkeit des Senators für Inneres begründenden Normen des Landesrechts verstoßen nicht deshalb gegen Bundesrecht, weil sie nach der für den Senat bindenden Auslegung des Landesrechts durch das Berufungsgericht eine zusätzliche Zuständigkeit des Senators begründen, die zu derjenigen der kommunalen Ausländerbehörde im Sinne einer Doppelzuständigkeit hinzutritt. Das Berufungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass hiergegen nach der konkreten Handhabung, die sowohl negative Kompetenzkonflikte als auch widersprüchliche Entscheidungen vermeidet, keine rechtsstaatlichen Bedenken bestehen (UA S. 10 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 5. Mai 1998 - 1 C 17.97 - BVerwGE 106, 351 ≪355≫).
Rz. 26
c) Die Zuweisung der Zuständigkeit an den Senator für Inneres als oberste Landesbehörde ist auch nicht deshalb mit Bundesrecht unvereinbar, weil gegen dessen Entscheidungen gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO kein Vorverfahren stattfindet. § 84 Abs. 2 AufenthG ist dadurch nicht verletzt, selbst wenn diese Vorschrift auf Verlustfeststellungen nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU Anwendung finden sollte. Denn § 84 Abs. 2 AufenthG regelt lediglich die Wirkung von Widerspruch und Klage im Falle von Ausweisungen und sonstigen Verwaltungsakten, die die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beenden. Damit ist keine Aussage darüber verbunden, dass gegen Ausweisungen in jedem Fall ein Widerspruch statthaft sein soll (BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2021 - 1 B 38.21 - Rn. 8). Das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), das allein einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verlangt, ist ebenfalls nicht tangiert.
Rz. 27
Eine zusätzliche Nachprüfung in einem behördlichen Verfahren ist auch nicht von Unionsrechts wegen vorgeschrieben. Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (Freizügigkeitsrichtlinie, im Folgenden RL 2004/38/EG) bestimmt, dass die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit einen "Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde" des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können müssen. Wie die Formulierung "gegebenenfalls" zeigt, ist es den Mitgliedstaaten freigestellt, ob sie zusätzlich zu dem verpflichtend vorgegebenen gerichtlichen Rechtsbehelf auch noch einen vorgeschalteten behördlichen Rechtsbehelf vorsehen. Ein "Vier-Augen-Prinzip" ist damit anders als noch nach der Vorgängerregelung nicht mehr verbindlich vorgeschrieben (vgl. etwa Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 104 ff.).
Rz. 28
d) Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge des Klägers, der Senator für Inneres habe sein ihm durch § 3 Abs. 4 BremAufenthZVO hinsichtlich der Inanspruchnahme der Zuständigkeit eingeräumtes "Entschließungsermessen" nicht ausgeübt. Das Berufungsgericht hat die Norm dahin ausgelegt, dass die Formulierung "kann" in § 3 Abs. 4 BremAufenthZVO lediglich eine Entscheidungskompetenz einräume, da sie in einer Zuständigkeitsverordnung stehe und keine materiellen Befugnisse verleihe. An diese Auslegung irrevisiblen Rechts ist der Senat gebunden; unabhängig davon ist diese ohne Weiteres nachvollziehbar.
Rz. 29
2.1.2 Der Bescheid ist auch im Übrigen formell rechtmäßig. Die nach § 6 Abs. 8 Satz 1 FreizügG/EU regelmäßig erforderliche Anhörung des Betroffenen, hier des Klägers, ist mit Schreiben des Migrationsamtes der Stadtgemeinde Bremen vom 6. Oktober 2017 erfolgt. Da der Senator für Inneres das - durch dieses Anhörungsschreiben in Gang gesetzte - Verlustfeststellungsverfahren mit der Anzeige seiner Übernahme in dem Stadium übernommen hat, in dem es sich befand, brauchte er den Kläger nicht erneut selbst anzuhören. Der - vom Kläger vermissten - Anhörung seiner Ehefrau bedurfte es nach den zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts nicht.
Rz. 30
2.2 Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verlustfeststellung liegen vor, namentlich geht vom Kläger eine Gefahr aus, die in materieller Hinsicht unter Berücksichtigung der konkret einschlägigen Gefahrenschwelle eine Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung grundsätzlich rechtfertigt.
Rz. 31
Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung ist § 6 i.V.m. § 12a FreizügG/EU. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) festgestellt und die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht oder die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte eingezogen werden. Diese Regelung findet auf den Kläger mit Blick auf seine Kinder möglicherweise schon unmittelbar, jedenfalls aber entsprechende Anwendung, wie § 12a FreizügG/EU in der Fassung des Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrechts vom 12. November 2020 (BGBl. I S. 2416) nunmehr ausdrücklich bestimmt. Denn er ist Ehegatte und damit Familienangehöriger einer Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht hat (zur entsprechenden Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG auf diese Fallkonstellation siehe bereits EuGH, Urteil vom 14. November 2017 - C-165/16 [ECLI:EU:C:2017:862], Lounes - Rn. 61).
Rz. 32
2.2.1 Die im Freizügigkeitsgesetz/EU selbst normierten Tatbestandsvoraussetzungen für eine Verlustfeststellung ergeben sich im Streitfall aus § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU (a); denn ein gesteigerter Ausweisungsschutz nach § 6 Abs. 4 oder 5 FreizügG/EU kommt dem Kläger nicht zu (b). Ob ergänzend auch die erhöhten Voraussetzungen, die § 53 Abs. 4 AufenthG an die Ausweisung von Asylantragstellern stellt, auf den Kläger Anwendung finden, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung (c).
Rz. 33
a) Gründe der öffentlichen Ordnung, die nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU eine Verlustfeststellung rechtfertigen, erfordern eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt damit für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt.
Rz. 34
b) Auf die in § 6 Abs. 4 oder 5 FreizügG/EU normierten gesteigerten Anforderungen an die vom Freizügigkeitsberechtigten ausgehende Gefahr kann sich der Kläger nicht berufen, weil er die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt. Nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Hat der Betroffene seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet gehabt, erfordert eine Verlustfeststellung zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit (§ 6 Abs. 5 FreizügG/EU). Diese Schutzstufe baut auf der vorangegangenen auf und setzt deshalb ebenfalls den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts voraus (vgl. EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/16 - juris Rn. 60 f.). Danach genießt der Kläger einen gesteigerten Ausweisungsschutz weder nach § 6 Abs. 4 noch nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, weil er - wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei entschieden hat - im Bundesgebiet kein Daueraufenthaltsrecht erworben hat. Der drittstaatsangehörige Familienangehörige einer Unionsbürgerin erwirbt nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, Art. 16 Abs. 2 RL 2004/38/EG ein Daueraufenthaltsrecht, wenn er sich seit fünf Jahren mit dem Unionsbürger ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) dürfen Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts nicht berücksichtigt werden. Diese unterbrechen zudem die erforderliche Kontinuität des - mindestens fünfjährigen - Aufenthalts (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014 - C-378/12 [ECLI:EU:C:2014:13], Onuekwere - juris Rn. 17 ff., 28 ff.). Diesen Zeiträumen hat das Berufungsgericht folgerichtig Zeiträume einer Untersuchungshaft gleichgestellt, sofern diese anschließend in eine Strafhaft mündet, weil der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. In Anwendung dieser Maßstäbe und auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen, an die der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist, hat sich der Kläger weder im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts noch gar bereits bei Erlass der angefochtenen Verfügung fünf Jahre lang ununterbrochen "mit" seiner Ehefrau (und den gemeinsamen Kindern) rechtmäßig in Deutschland aufgehalten.
Rz. 35
c) Der Senat kann im Ergebnis offenlassen, ob die erhöhten Anforderungen, die § 53 Abs. 4 AufenthG an die Ausweisung von Asylantragstellern stellt, auf den Kläger Anwendung finden. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder (gemeint offensichtlich: und) ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes abgeschlossen wird. Liegt - wie angesichts des zwischenzeitlich innegehabten Aufenthaltsrechts hier - keine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung (mehr) vor (Nr. 2), darf von der Bedingung nur abgesehen werden, wenn ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3 eine Ausweisung rechtfertigt (Nr. 1).
Rz. 36
aa) Es spricht viel dafür, dass dieser besondere Ausweisungsschutz für Asylbewerber nach der Meistbegünstigungsklausel des § 11 Abs. 14 FreizügG/EU auch auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen anwendbar ist. Zwar schließt § 11 Abs. 1 FreizügG/EU die Anwendung der allgemeinen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes für diesen Personenkreis grundsätzlich aus; zu den Normen, die auf diesen gleichwohl Anwendung finden, zählt § 53 AufenthG nicht. Soweit § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG für eine (bedingungslose) Ausweisung eine Gefahrenschwelle festlegt, die höher liegt als diejenige, die für eine Verlustfeststellung bei freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen von Unionsbürgern ohne Daueraufenthaltsrecht sonst gilt (dazu näher unten), handelt es sich bei dem so bewirkten besonderen Ausweisungsschutz aber um eine Vorschrift, die eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das Freizügigkeitsgesetz/EU. Dem steht nicht entgegen, dass bei der im Rahmen der Günstigkeitsklausel vorzunehmenden vergleichenden Betrachtung auf die jeweilige Rechtsstellung im Ganzen abzustellen ist und nicht einzelne Merkmale isoliert betrachtet werden dürfen. Denn bei Nichterfüllung der qualifizierten Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AufenthG wäre auch eine sich insgesamt nach den §§ 53 ff. AufenthG richtende Ausweisung nicht zulässig, sofern der Betroffene einen Asylantrag gestellt hat.
Rz. 37
bb) Ob der Kläger im Sinne von § 53 Abs. 4 AufenthG einen "Asylantrag gestellt" hat und der besondere Ausweisungsschutz somit eingreift, lässt der Senat offen. Ein Asylgesuch und damit einen Asylantrag im materiellen Sinne (vgl. § 13 Abs. 1 AsylG) hat der Kläger jedenfalls geäußert, wovon auch das Berufungsgericht ausgegangen ist. Denn er hat sich mit seiner Klage hinreichend substantiiert auf die Gefahr der Einleitung eines erneuten Strafverfahrens nebst Inhaftierung in der Türkei und eine in der Haft zu befürchtende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK berufen. Damit hat er sinngemäß Schutz vor Abschiebung in einen Staat begehrt, in dem ihm nach seinem Vorbringen ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht (§ 13 Abs. 1 AsylG); ein solches materielles Asylgesuch kann auch gegenüber der Ausländerbehörde geäußert werden. Einen förmlichen Asylantrag, bei dem es sich angesichts der vorangegangenen Asylverfahren um einen Folgeantrag handelt, hat er hingegen nach den dafür zwingend zu beachtenden Vorgaben des § 71 Abs. 2 AsylG bisher nicht gestellt. Eine Asylantragstellung im Sinne des § 53 Abs. 4 AufenthG läge daher nur vor, wenn dafür - grundsätzlich und auch bei einem Asylfolgebegehren - bereits das materielle Asylgesuch im Sinne des § 13 AsylG genügte und bei einem Asylfolgebegehren damit (erst recht) auch nicht weitergehend zu verlangen wäre, dass das Bundesamt bereits positiv entschieden hat, dass ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist. Diese im Einzelnen umstrittenen Fragen sind vorliegend nicht entscheidungserheblich, weil § 53 Abs. 4 AufenthG der Verlustfeststellung selbst dann nicht entgegensteht, wenn der Kläger als Asylantragsteller im Sinne dieser Vorschrift zu behandeln sein sollte, weil er die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG für eine bedingungslose Ausweisung bzw. Verlustfeststellung von Asylbewerbern erfüllt (dazu im Einzelnen unter 2.2.2 b). Eine solche Verlustfeststellung setzt voraus, dass "ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3 eine Ausweisung rechtfertigt." Dies ist hier im Ergebnis der Fall.
Rz. 38
Dabei kann die umstrittene Frage offenbleiben, auf welchen Maßstab diese - nur scheinbar klare - Vorschrift verweist. Nach einer verbreiteten Auffassung handelt es sich bei dem Verweis auf Absatz 3 um ein Redaktionsversehen: Der Gesetzgeber habe den Anpassungsbedarf offenkundig übersehen, der sich durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) aus der Einfügung der neuen Regelungen ergeben habe, die in Absatz 3a für die - zuvor in Absatz 3 mitbehandelten - anerkannten Asylberechtigten und Flüchtlinge und für die subsidiär Schutzberechtigten (erstmals) in Absatz 3b nunmehr jeweils besondere Gefahrenschwellen bestimmen. Für den Regelfall eines unbeschränkten Asylantrags wird daher angenommen, dass § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG in der Sache weiterhin auf die - nunmehr in Abs. 3a geregelten - Voraussetzungen für die Ausweisung eines anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtlings verweist, weil nicht erkennbar sei, dass der Gesetzgeber die herkömmliche ausweisungsrechtliche Gleichbehandlung von Asylbewerbern mit anerkannten Asylberechtigten und Flüchtlingen habe aufheben wollen (so etwa VGH Mannheim, Urteil vom 15. April 2021 - 12 S 2505/20 - juris Rn. 105 ff. [nicht rechtskräftig]; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 103; anders Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2021, § 53 AufenthG Rn. 248 f.). Doch selbst wenn es sich bei dem Verweis auf Absatz 3 um ein solches Redaktionsversehen handelte, wäre die einschlägige Gefahrenschwelle im vorliegenden Fall jedenfalls nicht § 53 Abs. 3a AufenthG, sondern § 53 Abs. 3b AufenthG zu entnehmen, dessen Voraussetzungen hier erfüllt sind (s.u.). Der Kläger macht mit seinem Asylgesuch offensichtlich und eindeutig keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung geltend, sondern beruft sich lediglich auf Gründe, die subsidiären Schutz zu begründen geeignet sind. In einem solchen Fall gibt es jedenfalls keinen Grund, ihn wie einen anerkannten Flüchtling zu behandeln, weil eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft danach nicht in Betracht kommt.
Rz. 39
Nach § 53 Abs. 3b AufenthG darf ein Ausländer, der die Rechtsstellung eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG genießt, nur ausgewiesen werden, wenn er eine schwere Straftat begangen hat oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Mit dieser durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) neu geschaffenen Regelung hat der Gesetzgeber den Ausweisungsschutz subsidiär Schutzberechtigter entsprechend der Regelung des § 53 Abs. 3a AufenthG ausgestalten wollen, und zwar "entsprechend der Vorgaben der Richtlinie (EU) 2011/95/EU auf etwas niedrigerem Niveau" (BT-Drs. 19/10047 S. 34). Unionsrechtlicher Orientierungspunkt waren für den Gesetzgeber dabei erklärtermaßen die Gründe, aus denen der subsidiäre Schutzstatus gemäß Art. 19 Abs. 3 Buchst. a i.V.m. Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU beendigt werden kann, nämlich dann, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Betroffene "b) eine schwere Straftat begangen hat" oder "d) eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält." Der unionsrechtlich vorgesehenen Abstufung des Schutzniveaus zwischen Flüchtlingen gemäß Absatz 3a - für die die Gesetzesbegründung zuvor auf die sich aus Art. 33 Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b RL 2011/95/EU ergebenden Vorgaben verweist - und subsidiär Schutzberechtigten entspreche es, bei subsidiär Schutzberechtigten einen etwas niedrigeren Maßstab anzulegen (BT-Drs. 19/10047 S. 34).
Rz. 40
Zu dem für Flüchtlinge geltenden Schutzstandard nach § 53 Abs. 3a AufenthG wird allerdings mit beachtlichen Gründen auch die Auffassung vertreten, die dort definierten Anforderungen seien entgegen der Begründung des Gesetzentwurfs nicht mit den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b RL 2011/95/EU gleichzusetzen, die denjenigen für eine Durchbrechung des Refoulementverbots entsprechen (vgl. Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU, Art. 33 Abs. 2 GFK, § 60 Abs. 8 AufenthG), sondern kohärent mit denen nach Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU, wonach zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung eine Ausweisung gestatteten (so etwa VGH Mannheim, Urteil vom 15. April 2021 - 12 S 2505/20 - juris Rn. 110 ff.; Revision anhängig unter 1 C 20.21). Wäre dieser Auslegung zu folgen, könnte Entsprechendes auch für § 53 Abs. 3b AufenthG zu prüfen sein, weil der Maßstab, den Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU für die Verweigerung (und der Sache nach auch die Aufhebung) eines Aufenthaltstitels bei anerkannten Flüchtlingen bestimmt, nach Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU in gleicher Weise auch für subsidiär Schutzberechtigte gilt. Die damit aufgeworfene Frage, ob die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3b AufenthG ("wenn er eine schwere Straftat begangen hat oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt") im Einklang mit Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU auszulegen sind oder aber im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU, bedarf anlässlich des vorliegenden Falles aber ebenfalls keiner Entscheidung. Denn in der Person des Klägers liegen die Voraussetzungen der einen wie der anderen Vorschrift vor (siehe dazu 2.2.2).
Rz. 41
Die - bei wortgetreuem Verständnis des § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG - hier auch in Frage kommende Gefahrenschwelle des § 53 Abs. 3 AufenthG wäre ebenfalls überschritten, weshalb offenbleiben kann, ob sie die Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU überhaupt übersteigt. Ebenso wenig bedarf dann der Klärung, ob dem Kläger als türkischem Staatsangehörigen ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht und er (auch) deshalb unter § 53 Abs. 3 AufenthG fällt.
Rz. 42
2.2.2 Nach diesen Maßstäben liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Verlustfeststellung vor, weil von dem Kläger eine diese grundsätzlich rechtfertigende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (a) und die Gefahrenschwelle des § 53 Abs. 3b AufenthG überschritten ist (b).
Rz. 43
a) Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU rechtsfehlerfrei bejaht. Der Kläger ist zweimal, nämlich in den Jahren 2007 und 2017, wegen schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte zu langjährigen Freiheitsstrafen von jeweils mehr als sieben Jahren verurteilt worden. Beide Verurteilungen sind im Bundeszentralregister noch nicht getilgt bzw. zu tilgen. Das Berufungsgericht hat die Verlustfeststellung auch nicht allein mit diesen strafgerichtlichen Verurteilungen begründet (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es hat vielmehr auf der Grundlage der seiner Entscheidung zugrunde liegenden, das Bundesverwaltungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen rechtsfehlerfrei näher ausgeführt, dass die Umstände der Begehung dieser Straftaten ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das die Prognose rechtfertigt, dass der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Haftentlassung bzw. nach dem Erlass eines zur Bewährung ausgesetzten Strafrests wieder mit Heroin handeln oder Heroin nach Deutschland einführen werde. An dieser Prognose habe sich (auch) unter Berücksichtigung des Zeitablaufs und des Verhaltens des Klägers im Vollzug sowie seiner familiären Verhältnisse im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts nichts geändert. An diese tatrichterliche Würdigung, auf die hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen werden kann, ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden; der Kläger hat sich dagegen auch nicht substantiiert gewandt und namentlich keine Verfahrensrüge erhoben.
Rz. 44
b) An den weiteren in Betracht kommenden, ggf. qualifizierten Gefahrenschwellen hat das Berufungsgericht die vom Kläger ausgehenden Gefahren zwar nicht ausdrücklich gemessen. Die tatrichterlich getroffenen Feststellungen ermöglichen dem Senat hier aber auch die Subsumtion unter deren Voraussetzungen. Ist § 53 Abs. 3b AufenthG einschlägig und im Einklang mit Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und d RL 2011/95/EU zu verstehen, ist erforderlich, dass der Ausländer eine schwere Straftat begangen hat oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Anders als bei Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU (vgl. dazu etwa VGH Mannheim, Urteil vom 11. Dezember 2013 - 11 S 1770/13 - juris Rn. 82), der einen Ausschlussgrund wegen Unwürdigkeit regelt und insoweit auf das Ausweisungsrecht nicht unverändert übertragbar ist, bedarf es im Rahmen vom § 53 Abs. 3b AufenthG aber auch in der Variante der bereits begangenen schweren Straftat der Feststellung einer Wiederholungsgefahr (so im Ergebnis zutreffend auch BT-Drs. 19/10047, S. 35). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zudem betont, dass der subsidiäre Schutz nicht pauschal über ein bestimmtes Strafmaß als "schwere Straftat" ausgeschlossen werden kann, sondern immer der Einzelfall zu würdigen ist (EuGH, Urteil vom 13. September 2018 - C-369/17 [ECLI:EU:C:2018:713], Ahmed - Rn. 55 f.). Danach ging vom Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung aufgrund von ihm in der Vergangenheit begangener schwerer Straftaten, deretwegen er rechtskräftig verurteilt worden ist und deren Wiederholung wahrscheinlich ist, eine (auch hinreichend schwere) Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. Art. 17 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU aus. Die einzelfallbezogenen und konkreten Feststellungen des Berufungsgerichts zu den von ihm begangenen Betäubungsmittelstraftaten sowie der darin zum Ausdruck kommenden Verhaltensmuster und der Zukunftsprognose (UA S. 15 f.) tragen auch die Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 3b AufenthG. Die Schwere dieser Gefahr ergibt sich dabei auch aus der vom Berufungsgericht zu Recht hervorgehobenen Art der Straftaten und deren (auch) unionsrechtlicher Bewertung, denn Art. 83 AEUV zählt den illegalen Drogenhandel zur besonders schweren Kriminalität (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - C-145/09 [ECLI:EU:C:2010:708], Tsakouridis - Rn. 46 f.).
Rz. 45
Nichts anderes gilt für den Fall, dass der Gefahrenmaßstab des § 53 Abs. 3b AufenthG mit demjenigen des Art. 24 Abs. 2 letzter Halbs. RL 2011/95/EU gleichzusetzen sein sollte. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu der - im wesentlichen gleichlautenden - Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83/EG hat der Begriff der "zwingenden Gründe" im dort gemeinten Sinne eine weitere Bedeutung als der Begriff der "stichhaltigen Gründe" in Art. 21 Abs. 2 RL 2004/83/EG (entspricht Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU). Die Schwelle des Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU liegt also jedenfalls niedriger als diejenige des Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU, weil es anders als bei der letztgenannten Regelung nicht um eine Durchbrechung des Zurückweisungsverbots geht (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Juni 2015 - C-373/13 [ECLI:EU:C:2015:413] - Rn. 75). Bei subsidiär Schutzberechtigten dürften im Übrigen Art. 3 EMRK und Art. 19 Abs. 2 GRC einer Zurückweisung generell entgegenstehen. Im Gebrauch des Ausdrucks "zwingende Gründe" kommt allerdings zum Ausdruck, dass die Beeinträchtigung (hier: der öffentlichen Ordnung) einen besonders hohen Schweregrad aufweist (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Juni 2015 - C-373/13 - Rn. 78, in Anlehnung an seine Rechtsprechung zu Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG). Gleichwohl spricht viel dafür, dass hieran geringere Anforderungen zu stellen sind als an die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU für einen Ausschluss vom subsidiären Schutz. Denn die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 24 Abs. 2 letzter Halbs. RL 2011/95/EU ändert - anders als bei Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 Buchst. a RL 2011/95/EU - wohl nichts daran, dass der Betroffene weiterhin Schutzberechtigter im Sinne der Richtlinie ist (so für Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU EuGH, Urteil vom 24. Juni 2015 - C-373/13 - Rn. 95).
Rz. 46
Auch "zwingende Gründe" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU liegen nach den tatrichterlichen Feststellungen hier jedenfalls vor, ohne dass abschließend geklärt werden muss, wie sich diese Schwelle zu derjenigen des Art. 17 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU verhält. Diese Feststellungen erlauben den Schluss, dass der Kläger mit Blick auf die beiden Verurteilungen zu langjährigen Freiheitsstrafen wegen schwerer Straftaten, die Art der begangenen Delikte, die darin zum Ausdruck gekommene erhebliche kriminelle Energie und Rückfallgefahr sowie seine Persönlichkeit eine besonders schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne der EuGH-Rechtsprechung darstellt. Aus den genannten Erwägungen überschreitet die vom Kläger ausgehende Gefahr zudem jedenfalls auch die Schwelle des § 53 Abs. 3 AufenthG.
Rz. 47
2.3 Die Verfügung der Beklagten leidet jedoch an einem Ermessensfehler, der zu ihrer Aufhebung führt (§ 114 VwGO). Die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts ist mit § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU unvereinbar.
Rz. 48
2.3.1 Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU steht die Verlustfeststellung im pflichtgemäßen Ermessen (§ 40 BremVwVfG) der Ausländerbehörde, wie sich aus der Formulierung "kann" ergibt. Daran hat der nationale Gesetzgeber auch nach der Umgestaltung des nationalen Ausweisungsrechts, das die Ausweisung jetzt als gerichtlich unbeschränkt überprüfbare Abwägungsentscheidung ausgestaltet hat, festgehalten. Der Vorrang des Unionsrechts steht dem nicht entgegen. Auch wenn das Unionsrecht in Gestalt der Freizügigkeitsrichtlinie eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 40 VwVfG nicht verlangt (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 22), hindert es den nationalen Gesetzgeber doch nicht daran, eine solche vorzusehen. Die - zwingend vorgegebene - Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 27 Abs. 2 RL 2004/38/EG) ist auch bei einer Ermessensentscheidung sichergestellt und insoweit voll gerichtlich überprüfbar. Eine rechtmäßige Ermessensentscheidung setzt in der Regel allerdings auch voraus, dass die Behörde den entscheidungserheblichen und für eine sachgemäße Wahrnehmung der Letztverantwortlichkeit maßgeblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und in ihre Erwägungen eingestellt hat. Hat die Behörde wesentliche Umstände übersehen oder konnte sie diese noch nicht berücksichtigen und kommt es nicht zu einer Nachbesserung im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO, führt dies wegen Ermessensfehlgebrauchs zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung (vgl. Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 41. EL Juli 2021, § 114 VwGO Rn. 53).
Rz. 49
Da für die gerichtliche Überprüfung der Entscheidung über die Verlustfeststellung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist (s.o.), trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens - wie nach altem Recht bei der Ermessensausweisung - eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Verlustfeststellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (BVerwG, Urteil vom 15. November 2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 20 m.w.N.; siehe auch Urteil vom 22. Februar 2017 - 1 C 27.16 - BVerwGE 157, 356 Rn. 23).
Rz. 50
2.3.2 Bei der Ermessensentscheidung über eine Verlustfeststellung sind neben den in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU ausdrücklich erwähnten Gesichtspunkten im Grundsatz auch Nachteile zu berücksichtigen, die den Ausländer im Herkunftsland erwarten. Dies gilt uneingeschränkt für solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können (a). Gefahren, die so schwerwiegend sind, dass sie die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots begründen, sind im Ausweisungsverfahren jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn für diese eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) besteht (b).
Rz. 51
a) Nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU, der Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG nahezu wortgleich umsetzt, sind bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Gefahren und Nachteile, die dem Ausländer im Herkunftsland drohen, werden dabei zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Ebenso wie bei der Ausweisung (§ 53 Abs. 2 AufenthG) ist die Aufzählung der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte aber nicht abschließend ("insbesondere"). Die Erwähnung der "Bindungen zum Herkunftsstaat" in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU (vgl. dazu auch EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - 46410/99, Üner - Rn. 58, sowie EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - Rn. 80), könnten darauf schließen lassen, dass die Ermessensentscheidung jedenfalls dann, wenn eine Abschiebung nicht von vornherein rechtlich ausscheidet, auch - ausgewählte - Folgen im Herkunftsstaat einzubeziehen hat und nicht etwa allein am Interesse des Ausländers am Verbleib in Deutschland ausgerichtet werden kann. Zur - strukturell vergleichbaren - Ausweisung hat das Bundesverwaltungsgericht schon unter Geltung des Ausländergesetzes 1965 darauf hingewiesen, dass das private Interesse des Ausländers, sich nicht in einen (bestimmten) anderen Staat begeben zu müssen, sondern im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, aus sämtlichen Nachteilen resultiert, die mit der Ausweisung verbunden sind. In die Abwägung der für und gegen die Ausweisung sprechenden Gründe seien daher auch solche Belange des Ausländers einzubeziehen, die keinen derart strikten rechtlichen oder verfassungsrechtlichen Schutz genießen, dass er unter allen Umständen vor ihnen bewahrt werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 C 29.85 - BVerwGE 78, 285, 291).
Rz. 52
Eine Berücksichtigung der Folgen einer Ausweisung für den Ausländer im Herkunftsland unter dem Aspekt des Art. 8 EMRK erscheint dem Grunde nach auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geboten (vgl. EGMR, Urteile vom 20. Dezember 2018 - 18706/16, Cabucak/Deutschland - Rn. 51 und vom 6. Februar 2001 - 44599/98, Bensaid/Vereinigtes Königreich - Rn. 46 ff.). Der EuGH geht ebenfalls ganz allgemein davon aus, dass die Folgen einer Ausweisung nicht nur für die Familienangehörigen, sondern auch für die betreffende Person bei der Entscheidung über eine Ausweisung zu berücksichtigen seien (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 - Rn. 80). Selbst wenn nach aktueller Rechtslage weder im allgemeinen Ausweisungsrecht noch in § 6 FreizügG/EU eine Regelung enthalten ist, nach der Duldungsgründe und Abschiebungsverbote bei der Entscheidung über eine Ausweisung zu berücksichtigen sind (vgl. zuletzt § 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG in der bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung) und dies Zweifel begründen mag, ob diese Verpflichtung noch fortbesteht, ist an der älteren Rechtsprechung zur Berücksichtigungspflicht von Nachteilen und Gefahren im Herkunftsland jedenfalls insoweit festzuhalten, als es um Nachteile geht, die unterhalb der Schwelle eines Abschiebungsverbots verbleiben, sofern sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können.
Rz. 53
b) Geltend gemachte Gefahren im Herkunftsstaat, die die Schwelle zu einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 AufenthG überschreiten, können hingegen im Rahmen der Ermessensentscheidung bzw. (bei der Ausweisung) der Interessenabwägung jedenfalls insoweit nicht berücksichtigt werden, als für das Abschiebungsverbot eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge besteht und dieses ein solches Verbot bisher nicht festgestellt hat. Dies gilt insbesondere für zielstaatsbezogene Gefahren, die ihrer Art nach objektiv geeignet sind, eine Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling oder die Zuerkennung subsidiären Schutzes zu begründen. Denn nach der - vom Berufungsgericht zutreffend zugrunde gelegten - Rechtsprechung des Senats ist ein Ausländer mit einem materiellen Asylbegehren, das nach § 13 AsylG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) seit dem 1. Dezember 2013 auch das Begehren auf subsidiären Schutz umfasst, hinsichtlich aller zielstaatsbezogener Schutzersuchen und Schutzformen auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt zu verweisen; er hat kein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2019 - 1 C 30.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 6 Rn. 22). Ein Ausländer ist daher nach aktueller Rechtslage schon dann - gemäß § 24 Abs. 2 AsylG auch hinsichtlich nationaler Abschiebungsverbote - zwingend auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt verwiesen, wenn er sich auf Gefahren beruft, die ihrer Art nach objektiv geeignet sind, subsidiären Schutz zu begründen. Hat er bereits erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt, ist unabhängig davon die Ausländerbehörde zudem gemäß § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG an die in jenem Verfahren (zuletzt) getroffene Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts gebunden. Diese Bindungswirkung kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch negativen Entscheidungen des Bundesamts zu (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. September 1999 - 1 C 6.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20, vom 21. März 2000 - 9 C 41.99 - BVerwGE 111, 77 ≪80 f.≫ und vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 12). Auch bei nachträglicher erheblicher Änderung der Sachlage ist ausschließlich das Bundesamt zur Korrektur seiner einmal getroffenen Feststellungen befugt, und zwar unabhängig von dem Zeitraum, der seit der Erstentscheidung des Bundesamts verstrichen ist.
Rz. 54
Die Ausländerbehörde ist deshalb im Ausweisungsverfahren an eine negative Entscheidung des Bundesamtes über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 5 und 7 AufenthG gebunden. Sie ist nach bisheriger Rechtsprechung auch nicht verpflichtet, das Ausweisungsverfahren auszusetzen, bis das Bundesamt eine aktuelle Entscheidung über einen Asylfolgeantrag oder ein Folgeschutzgesuch getroffen hat, sondern darf ihre Entscheidung (zunächst) auf der unterstellten, nicht notwendigerweise weiterhin zutreffenden tatsächlichen Grundlage treffen, dass kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vorliegt. Wird später ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt, kann der Betroffene gegebenenfalls einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens stellen.
Rz. 55
Dieser Praxis steht Unionsrecht hier nicht entgegen. Die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU ist eine Beschränkung des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne des Kapitels VI der Richtlinie 2004/38/EG. Selbst wenn sie nicht nur an Art. 27, sondern auch an Art. 28 RL 2004/38/EG zu messen sein sollte, ist Absatz 1 dieser Regelung doch keine Verpflichtung zur Berücksichtigung auch zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote zu entnehmen. Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG dürfte zwar im Lichte von Art. 7 GRC auszulegen sein, woraus das Gebot folgt, den Ausländer im Herkunftsland erwartende Nachteile bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Erreichen derartige Nachteile aber das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots, so steht dies erst und nur einer Verpflichtung, in ein bestimmtes Land, in dem derart erhebliche Gefahren drohen, auszureisen sowie einer Abschiebung dorthin gemäß Art. 18, 19 Abs. 2 GRC entgegen. Die Ausweisung ebenso wie die Verlustfeststellung nach deutschem Recht ist als solche indes auch dann, wenn hinsichtlich des Herkunftslandes ein Abschiebungsverbot besteht oder ungeprüft im Raum steht, noch keine nach Art. 19 Abs. 2 GRC verbotene Ausweisung "in einen Staat", in dem eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Rz. 56
2.3.3 Nach diesen Maßstäben erweist sich die Entscheidung der Beklagten als ermessensfehlerhaft, soweit diese die geltend gemachte Gefahr einer dem Kläger in der Türkei drohenden erneuten langjährigen Freiheitsstrafe bezüglich der Auswirkungen auf das durch Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familien- und Privatleben des Klägers nicht durch eine nachträgliche Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen berücksichtigt hat. Der Kläger hat sich im Klageverfahren hinreichend substantiiert auf die Gefahr berufen, dass gegen ihn in der Türkei ein neues Strafverfahren wegen der 2017 in Deutschland abgeurteilten Betäubungsmitteldelikte droht. Er hat darauf hingewiesen, dass das diesen Delikten zugrundeliegende Tatgeschehen (Einfuhr von Heroin aus der Türkei) einen eindeutigen Bezug zur Republik Türkei aufweist und dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung gerade bei Betäubungsmitteldelikten mit Türkeibezug eine erneute Strafverfolgung in der Türkei grundsätzlich in Betracht komme. Des Weiteren hat er auf Feststellungen in der Rechtsprechung hingewiesen, nach denen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland ein regelmäßiger Strafnachrichtenaustausch stattfinde; jeder Staat unterrichte den anderen von allen dessen Staatsangehörige betreffenden strafrechtlichen (rechtskräftigen) Verurteilungen und nachfolgenden Maßnahmen, die in das Strafregister eingetragen worden seien.
Rz. 57
Der Hinweis des Klägers auf den nur begrenzt geltenden, hier nicht einschlägigen Grundsatz "ne bis in idem" geht insoweit zwar fehl, als er hieraus ein zwingendes Abschiebungsverbot herleitet. Denn es gibt keine unions-, völker- oder verfassungsrechtlich zwingende Regel, nach der ein straffälliger Ausländer absolut davor geschützt werden muss, in der Türkei für eine bereits in Deutschland abgeurteilte Straftat ein weiteres Mal verurteilt zu werden und diese Strafe - gegebenenfalls auch ohne Anrechnung der im Bundesgebiet verbüßten - auch verbüßen zu müssen (vgl. Berufungsgericht UA S. 23). Eine nach Art. 3 EMRK unzulässige unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung dürfte erst dann vorliegen, wenn die den Ausländer im Herkunftsland erwartende Strafe mit Blick auf eine Nichtanrechnung oder Nichtberücksichtigung der in der Bundesrepublik Deutschland wegen derselben Tat erlittenen Strafe als unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint (vgl. etwa VG Aachen, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 6 L 1332/19.A - juris Rn. 30 ff.; VGH Mannheim, Urteil vom 10. Juli 2002 - 13 S 1871/01 - juris Rn. 46; OVG Münster, Beschluss vom 22. Januar 2002 - 17 B 519/01 - juris Rn. 4).
Rz. 58
Eine (mögliche) Doppelbestrafung ist allerdings auch unterhalb der Schwelle eines zwingenden Abschiebungsverbots geeignet, sich auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das durch Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familien- und Privatleben des Klägers auszuwirken. Sie muss deshalb in die Ermessensentscheidung über die Verlustfeststellung einbezogen werden. Dies gilt nicht nur unter dem - vom Berufungsgericht erwogenen - Gesichtspunkt, dass eine erneute Freiheitsstrafe dem Kläger die Aufrechterhaltung der Kontakte zu seiner Familie während der Dauer der verfügten Verlustfeststellung mit einem vierjährigen Einreiseverbot erschweren würde. Vielmehr wäre im Falle einer dem Kläger drohenden, vier Jahre (möglicherweise deutlich) übersteigenden Freiheitsstrafe neu zu bewerten, ob sich die Verlustfeststellung auch unter Berücksichtigung der damit faktisch verlängerten Dauer der Familientrennung als verhältnismäßig und angemessen erwiese. Dies setzt zunächst voraus, im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren aufzuklären, ob dem Kläger eine erneute Verurteilung in der Türkei tatsächlich droht, welches Strafmaß gegebenenfalls in Betracht käme und inwieweit mit einer Anrechnung der in Deutschland verbüßten Strafhaft zu rechnen wäre. Zur selbstständigen Prüfung dieser auf das Herkunftsland bezogenen Umstände ist die Beklagte - gegebenenfalls unter Zuhilfenahme der Sachkunde des Bundesamtes - befugt und verpflichtet, wenn und weil sie die Schwelle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 3 EMRK voraussichtlich nicht erreichen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 11.08 - BVerwGE 134, 124 Rn. 22).
Rz. 59
Die Beklagte war mithin auf das erwähnte Klagevorbringen hin - mit Blick auf die Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Verlustfeststellungsentscheidung - unter dem Aspekt des Art. 7 GRC, Art. 8 Abs. 1 EMRK gehalten, die Aufrechterhaltung der Verlustfeststellung zu überprüfen und ihre Ermessenserwägungen gegebenenfalls bis zum Abschluss der Tatsacheninstanzen entsprechend zu ergänzen. Diesen Anforderungen genügt die Reaktion der Beklagten vorliegend nicht. Denn diese beschränkt sich auf den Hinweis im Berufungsverfahren, das Vorbringen des Klägers sei allenfalls geeignet, ein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfendes Abschiebungsverbot zu begründen, das nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei und auch nicht "per se" vorliege. Eigene Erwägungen des Berufungsgerichts können unzureichende Ermessenserwägungen der Behörde insoweit nicht ersetzen.
Rz. 60
2.4 Da die Verlustfeststellung mithin aufzuheben ist, entfällt die Grundlage für das auf vier Jahre befristete Einreiseverbot (§ 7 Abs. 2 FreizügG/EU) und ist auch die auf § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU beruhende Abschiebungsandrohung als rechtswidrig aufzuheben. Damit bedarf hier keiner Entscheidung, ob der Kläger im Falle einer rechtmäßigen Verlustfeststellung - wie das Berufungsgericht angenommen hat - ausreisepflichtig gewesen wäre (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU), oder ob das von ihm geäußerte materielle Asylgesuch einer Ausreisepflicht - etwa mit Blick auf unionsrechtliche Vorgaben - entgegengestanden hätte.
Rz. 61
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Fundstellen
DÖV 2022, 515 |
InfAuslR 2022, 264 |
JZ 2022, 291 |
VR 2022, 215 |
ZAR 2022, 171 |
Asylmagazin 2022, 226 |
BayVBl. 2022, 3 |
DVBl. 2022, 3 |