Leitsatz (amtlich)
Verursacht ein Soldat bei einer außerdienstlichen Fahrt fahrlässig den Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers, ist in disziplinarrechtlicher Hinsicht ein Beförderungsverbot Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Hat er dabei grob fahrlässig oder vorsätzlich eine Straßenverkehrsgefährdung im Sinne des § 315c StGB begangen, ist von einer Herabsetzung im Dienstgrad auszugehen.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Nord (Entscheidung vom 11.06.2020; Aktenzeichen TDG N 5 VL 7/18) |
Tenor
Die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft gegen das Urteil der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 11. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der dem früheren Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.
Tatbestand
Rz. 1
Das Berufungsverfahren betrifft die disziplinarische Ahndung einer im Straßenverkehr außerdienstlich verursachten fahrlässigen Tötung eines Menschen.
Rz. 2
1. Der 1991 geborene frühere Soldat absolvierte nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. 2012 wurde er unter Berufung in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit zum Obermaat ernannt und 2016 in die Besoldungsgruppe A 7 eingewiesen. Seine Dienstzeit endete Anfang...
Rz. 3
Der frühere Soldat gehörte der Verwendungsreihe Schiffsbetriebstechnik an. Er hat den Laufbahnlehrgang und den Fachlehrgang Schiffsbetriebstechnikgast mit "befriedigend" absolviert. Zwischen 2012 und 2014 gehörte er der Fahrbereitschaft an. Seit Ende September 2014 bis zu seinem Ausscheiden versah er Dienst in der...
Rz. 4
2015 und 2016 war er mehrere Monate zum Einsatzverband UNIFIL sowie 2015 mehrere Wochen zum Einsatzverband ATALANTA kommandiert. Er ist berechtigt, die Einsatzmedaille für die Teilnahme am Auslandseinsatz der Bundeswehr in Bronze zu tragen.
Rz. 5
2019 erhielt er eine förmliche Anerkennung wegen vorbildlicher Pflichterfüllung. Neben seiner dauerhaft zuverlässigen Auftragserfüllung habe er bereitwillig oft die über den normalen Tagesdienst hinausgehenden Wachaufgaben übernommen. Trotz längerer Abwesenheit der Besatzungen habe auch er die Durchführung wichtiger Instandsetzungen und die Einsatzbereitschaft des Waffensystems Korvette gewährleistet.
Rz. 6
In seinem Dienstzeugnis vom 10. März 2020 wird er als Soldat beschrieben, der beständig überzeugende Arbeitsergebnisse gezeigt habe. Er habe seine Aufgaben stets selbständig mit äußerster Sorgfalt und Genauigkeit erledigt und sich wegen seiner hohen Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft aus der Masse der Dienstgradgruppe deutlich hervorgehoben. Der Leumundszeuge Fregattenkapitän A., von Oktober 2018 bis zum Dienstzeitende des früheren Soldaten dessen nächster Disziplinarvorgesetzter, hat erstinstanzlich ausgesagt, der frühere Soldat sei zuverlässig, hilfsbereit und in der Truppe anerkannt gewesen. Er habe sich stets freiwillig bereiterklärt, Zusatzdienste zu übernehmen. In der Vergleichsgruppe bewege er sich wegen seiner sehr guten Leistungen im oberen Drittel.
Rz. 7
Die aktuelle Auskunft aus dem Zentralregister und der Auszug aus dem Disziplinarbuch weisen jeweils das sachgleiche rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts... vom 28. September 2016 (Strafurteil) aus. Mit ihm wurde der frühere Soldat wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Zudem wurde ihm aufgegeben, unter Anrechnung auf bestehende Schmerzensgeldansprüche 1 500 € an die Mutter des Opfers zu zahlen. Der Auszug aus dem Fahreignungsregister vom 9. Juni 2020 enthielt zum Zeitpunkt der Verhandlung vor dem Truppendienstgericht keine Eintragungen mehr.
Rz. 8
Nach seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr hat der frühere Soldat erfolgreich das Abitur erlangt, für welches er bereits seit 2017 wöchentlich die Abendschule besucht hatte. Er studiert im zweiten Semester Rechtswissenschaften.
Rz. 9
Der frühere Soldat ist kinderlos und hat eine Lebensgefährtin, die demnächst als Studienreferendarin tätig wird. Er erhält monatliche Übergangsgebührnisse von etwa 1 850 € netto; die Übergangsbeihilfe wurde zur Hälfte einbehalten.
Rz. 10
2. Nach ordnungsgemäßer Einleitung und Anschuldigung hat das Truppendienstgericht das Disziplinarverfahren mit Urteil vom 11. Juni 2020 unter Feststellung eines Dienstvergehens eingestellt.
Rz. 11
a) Vor allem aufgrund der strafgerichtlichen Tatsachenfeststellungen stehe der angeschuldigte Sachverhalt fest. Der frühere Soldat befuhr am... um... Uhr mit seinem Pkw, amtliches Kennzeichen..., die Kreisstraße... aus... kommend in Richtung... mit einer Geschwindigkeit von mindestens 100 km/h, wobei er die Linkskurve am Abzweig... schnitt und sich mit seinem Pkw komplett auf der linken Fahrspur befand. Dabei stieß er mit dem Geschädigten B., welcher mit seinem Mofa kurz zuvor als Linksabbieger von... kommend auf die Kreisstraße... aufgefahren war, frontal zusammen. Der Geschädigte erlitt dadurch derart schwere Verletzungen, dass er noch an der Unfallstelle verstarb. Der frühere Soldat hätte den Unfall vermeiden können, wenn er bei der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit auf der rechten Fahrspur verblieben wäre. Er habe beim Schneiden der Linkskurve dem Verbot nach Zeichen 295 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO zuwider die durchgezogene Mittellinie vollständig überfahren und damit auch gegen § 2 Abs. 2 StVO verstoßen.
Rz. 12
Aus dem im Strafverfahren erstellten Sachverständigengutachten folge, dass der frühere Soldat mit der festgestellten Geschwindigkeit die Linkskurve unter Nutzung der rechten Fahrspur gefahrlos hätte befahren und dass auch der Geschädigte das Unfallgeschehen hätte vermeiden können, wenn er nicht vor dem für ihn erkennbaren Pkw des früheren Soldaten auf die K... aufgefahren wäre. Selbst wenn dessen Pkw auf der rechten Fahrspur verblieben wäre, hätte ein äußerst knappes Auffahrmanöver des Geschädigten vorgelegen. Das Splitterfeld am Unfallort habe aus gutachterlicher Sicht auf eine vergleichsweise hohe Geschwindigkeit des Kleinkraftrades zum Zeitpunkt der Kollision hingewiesen. Dies spreche dafür, dass der Geschädigte zuvor nicht angehalten habe. Zum Unfallzeitpunkt hätten Tageslichtbedingungen geherrscht und es sei trocken gewesen. Von der Einmündung aus sei die K... verhältnismäßig weit einsehbar gewesen.
Rz. 13
Der frühere Soldat habe bei dem Unfall nur eine leichte Schnittverletzung an der Hand davongetragen und sei eine Woche krankgeschrieben gewesen. Danach sei er noch in einen Auslandseinsatz gegangen. Der Totalschaden am Fahrzeug des früheren Soldaten sei durch seine Versicherung bis auf 500 € (Selbstbeteiligung) beglichen worden. Zusätzlich zur Zahlung von 1 500 € an die Angehörige des Getöteten habe er sich keine weiteren Forderungen ausgesetzt gesehen.
Rz. 14
Das Unfallgeschehen habe den früheren Soldaten stark belastet. Er habe anfangs Scheu davor gehabt, sich wieder in ein Fahrzeug zu setzen, und unter "Flashbacks" gelitten. Durch die lange Verfahrensdauer sei das Geschehen zudem immer wieder aufgewühlt worden. Der frühere Soldat habe sich zu einer Truppenpsychologin begeben und dort mehrere Sitzungen absolviert. Eine posttraumatische Belastungsstörung sei festgestellt worden.
Rz. 15
b) Durch die fahrlässige Tötung eines Menschen habe der frühere Soldat zugleich gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verstoßen und somit ein Dienstvergehen begangen, wobei er als Vorgesetzter verschärfter Haftung unterliege. Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bilde ein Beförderungsverbot, weil die Elemente der Straßenverkehrsgefährdung und des innerdienstlichen Vergehens fehlten, welche typischerweise nach einer Dienstgradherabsetzung verlangten. Jedoch stehe dem Ausspruch eines Beförderungsverbots § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WDO entgegen. Der frühere Soldat habe keinen besonders exponierten Dienstgrad bekleidet und der Vorfall sei nur einem kleinen Personenkreis bekannt geworden.
Rz. 16
3. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft begründet ihre zulasten des früheren Soldaten eingelegte maßnahmebeschränkte Berufung im Wesentlichen damit, das Truppendienstgericht habe den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen unzutreffend bestimmt. Dass sich der frühere Soldat zum Tatzeitpunkt vollständig auf der linken Fahrbahnhälfte befunden hätte, begründe die Dienstgradherabsetzung als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen; angesichts mehrerer Milderungsgründe sei davon jedoch nach Ansicht des Bundeswehrdisziplinaranwalts abzuweichen und eine Herabsetzung in der Besoldungsgruppe angemessen.
Entscheidungsgründe
Rz. 17
Die zulässige Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist unbegründet. Das Truppendienstgericht hat das disziplinargerichtliche Verfahren zu Recht unter Feststellung eines Dienstvergehens eingestellt.
Rz. 18
1. Aufgrund der verfahrensfehlerfreien Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts steht für den Senat bindend fest, dass der frühere Soldat die angeschuldigte Handlung begangen und dadurch fahrlässig gegen die Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verstoßen hat. Denn bei einer - wie hier - auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Der Prozessstoff wird somit nicht mehr von der Anschuldigungsschrift, sondern nur von den Tat- und Schuldfeststellungen des angefochtenen Urteils bestimmt. Verfahrensmängel, die eine Abweichung davon gebieten, liegen nicht vor (BVerwG, Urteil vom 25. März 2021 - 2 WD 13.20 - juris Rn. 16 m.w.N.).
Rz. 19
2. Bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme ist von der von Verfassungs wegen allein zulässigen Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts auszugehen. Diese besteht ausschließlich darin, dazu beizutragen, einen ordnungsgemäßen Dienstbetrieb wiederherzustellen und/oder aufrechtzuerhalten ("Wiederherstellung und Sicherung der Integrität, des Ansehens und der Disziplin der Bundeswehr", vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juni 2008 - 2 WD 11.07 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 26 Rn. 23 m.w.N.). Bei Art und Maß der Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Im Einzelnen geht der Senat von einem zweistufigen Prüfungsschema aus:
Rz. 20
a) Auf der ersten Stufe bestimmt er im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als "Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen".
Rz. 21
aa) Eine gefestigte Rechtsprechung zum Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen für Fälle, in denen ein außerdienstliches und in strafrechtlicher Hinsicht ausschließlich als fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) im Straßenverkehr zu qualifizierendes Verhalten im Raum steht, besteht bislang nicht. Der Senat erachtet in Fällen dieser Art bei aktiven Soldaten ein Beförderungsverbot gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 60 WDO für angemessen. Dies entspricht dem Gebot kohärenter Rechtsprechung:
Rz. 22
(1) Der Senat hat bislang in Fällen eines fahrlässig verursachten Verkehrsunfalls mit Todesfolge nur dann eine Dienstgradherabsetzung (§ 58 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 3 WDO) als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen festgelegt, wenn in dienst- oder strafrechtlicher Hinsicht zusätzliche erschwerende Umstände vorlagen. Dies hat seinen Grund darin, dass im Straßenverkehr schon bei geringen Unachtsamkeiten Unfälle mit tragischen Folgen vorkommen können und dass für die disziplinare Bewertung das Handlungsunrecht und nicht das Erfolgsunrecht im Vordergrund steht. In disziplinarrechtlicher Hinsicht wirkt es erschwerend, wenn ein Soldat im Rahmen einer Dienstfahrt fahrlässig einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Mensch zu Tode kommt (BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2018 - 2 WD 12.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 61 Rn. 34 ff.). In strafrechtlicher Hinsicht wirkt es erschwerend, wenn durch eine vorsätzliche außerdienstliche Straßenverkehrsgefährdung fahrlässig der Tod eines Menschen verursacht wird (BVerwG, Urteil vom 25. August 2017 - 2 WD 2.17 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 54 Rn. 52 ff.). Nichts anderes gilt, wenn grob fahrlässig und damit dicht an der Schwelle zu bedingt vorsätzlichem Verhalten eine Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 (a) StGB begangen wird, da dies sowohl im Fall des § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB (sog. Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination) als auch im Fall des § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB (sog. Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Kombination) gleichermaßen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2020 - 2 WD 1.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 71 Rn. 20).
Rz. 23
(2) Einer Vergleichbarkeit mit der vorliegenden Fallkonstellation steht bereits entgegen, dass Eigenart und Schwere des Dienstvergehens neben dem außerdienstlichen Charakter vor allem dadurch geprägt werden, dass strafrechtlich ausschließlich der Tatbestand der fahrlässigen Tötung (nach § 222 StGB) verwirklicht worden ist, nicht aber zusätzlich auch der Straftatbestand der Straßenverkehrsgefährdung (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2017 - 2 WD 1.16 - Rn. 52 und 82). Die Strafgerichte haben namentlich den Gefährdungsstraftatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 e StGB ("an unübersichtlichen Stellen nicht die rechte Seite der Fahrbahn einhält") abgelehnt. Denn der frühere Soldat ist nicht an einer unübersichtlichen Stelle auf der falschen Fahrbahn gefahren und hat damit keinen Verkehrsverstoß begangen, der vom Gesetzgeber als so schwerwiegend angesehen wird, dass er unabhängig von den Folgen stets mit einer Strafe bedroht wird.
Rz. 24
(3) Dass der frühere Soldat beim Fahrbahnwechsel eine durchgezogene Linie missachtet, damit gegen Zeichen 295 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO verstoßen und gemäß § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO eine Ordnungswidrigkeit begangen hat, ändert daran nichts. Damit hat er kein zusätzliches kriminelles Unrecht (BVerwG, Urteil vom 14. November 1996 - 2 WD 31.96 - BVerwGE 113, 95 = juris Rn. 10), sondern nur eine rechtswidrige Handlung verwirklicht, die für sich genommen lediglich mit einer Geldbuße geahndet werden darf (§ 1 Abs. 1 OWiG). Einer zusätzlichen Ordnungswidrigkeit kann aber nicht das gleiche erschwerende Gewicht wie einer weiteren Straftat zukommen. Daher kann in den Fällen einer außerdienstlichen fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr - ohne Straßenverkehrsgefährdung - nicht die Dienstgradherabsetzung den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bilden.
Rz. 25
Vielmehr ist bei aktiven Soldaten regelmäßig von einem Beförderungsverbot auszugehen, weil dies bei generalisierender Betrachtungsweise die nächstmildere Maßnahme ist. Dass im konkreten Fall der frühere Soldat Bezüge nach der Besoldungsgruppe A 7 erhalten hat und somit bei ihm - wie vom Bundeswehrdisziplinaranwalt beantragt - auch nach § 58 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 61 WDO die Herabsetzung der Besoldungsgruppe eine zulässige Disziplinarmaßnahme bildet, weil das Amt des Obermaats der Besoldungsgruppe A 6 und A 7 zugewiesen ist, ändert an der Bestimmung der auf der ersten Stufe maßgeblichen Maßnahmeart nichts. Weil nur wenige Ämter mehreren Besoldungsgruppen zugewiesen sind, stellt die Herabsetzung in der Besoldungsgruppe die Ausnahme im Kanon zulässiger Disziplinarmaßnahmen dar. Sie kann daher nicht bei einer Vielzahl vergleichbarer Dienstvergehen zum Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen gewählt werden (BVerwG, Urteil vom 25. März 2021 - 2 WD 13.20 - juris Rn. 21).
Rz. 26
Da bei Soldaten, die sich im Ruhestand befinden oder - wie beim früheren Soldaten - wegen des Bezugs von Übergangsgebührnissen gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 WDO als solche gelten, ein Beförderungsverbot gemäß § 58 Abs. 2 WDO nicht mehr zulässig ist, bildet für sie Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen folglich die nach § 58 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 64 WDO grundsätzlich statthafte Kürzung des Ruhegehalts (§ 1 Abs. 3 Satz 2 WDO).
Rz. 27
b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe in Ansatz gebrachten Regelmaßnahme gebieten. Dabei ist zu klären, ob es sich angesichts der be- und entlastenden Umstände um einen schweren, mittleren oder leichten Fall der schuldhaften Pflichtverletzung handelt. Liegt kein mittlerer, sondern ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist gegenüber dem Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach "oben" bzw. nach "unten" zu modifizieren. Zusätzlich sind die gesetzlichen Bemessungskriterien für die Bestimmung der konkreten Situation zu gewichten, wenn die Maßnahmeart, die den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet, dem Wehrdienstgericht hinsichtlich des Disziplinarmaßes einen Spielraum eröffnet. Dabei müssen Milderungsgründe umso gewichtiger sein, je schwerer ein Dienstvergehen wiegt (BVerwG, Urteil vom 5. Dezember 2019 - 2 WD 29.18 - juris Rn. 28 m.w.N.). Umstände, vom Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen nach "oben" abzuweichen, liegen nicht vor.
Rz. 28
aa) Zu den nachteiligen Folgen des Dienstvergehens, bei denen die Tötung eines Menschen ausgeklammert bleiben muss, weil sie bereits auf der ersten Zumessungsstufe berücksichtigt wurde (BVerwG, Urteil vom 25. August 2017 - 2 WD 2.17 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 54 Rn. 57), zählt zwar der einwöchige Dienstausfall des früheren Soldaten. Auch stand er im Tatzeitpunkt als Obermaat in einem Vorgesetztenverhältnis, womit er gemäß § 10 SG zu vorbildlicher Pflichterfüllung verpflichtet war (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 WD 15.20 - Rn. 41). Ebenso hat er eigennützig gehandelt und mit seinem fahrlässigen Verhalten zugleich einen Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllt.
Rz. 29
bb) Demgegenüber steht jedoch eine Vielzahl von mildernden Umständen:
Die Schwere des Dienstvergehens wird dadurch verringert, dass dem Getöteten an seinem Tod ein nicht unerhebliches Mitverschulden trifft. Denn das Gutachten stellt nachvollziehbar fest, auch für ihn wäre das Unfallgeschehen vermeidbar gewesen, wenn er bei der - von ihm nach der StVO - gebotenen Beachtung des vorrangigen Verkehrs nicht vor dem leicht erkennbaren PKW des früheren Soldaten - wahrscheinlich ohne überhaupt anzuhalten - abgebogen wäre.
Rz. 30
Hinzu kommt, dass der frühere Soldat in der Berufungshauptverhandlung Unrechtseinsicht und Reue gezeigt hat, das Dienstvergehen nur innerhalb des Kameradenkreises bekannt geworden ist und die Veröffentlichung in der Regionalzeitung keine Angaben zu dessen Beruf enthielt. Dass die Mutter des Getöteten in der öffentlichen Verhandlung des Strafgerichts davon Kenntnis erlangte, reicht für die Annahme einer rufschädigenden Wirkung nicht aus, weil dies eine gewisse Bekanntheitsbreite voraussetzt. Für den früheren Soldaten fallen zudem seine durchgehend soliden Leistungen, seine mehrfachen, erfolgreichen Auslandseinsätze (BVerwG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 WD 15.20 - Rn. 42) und eine förmliche Anerkennung, die ihm 2019 nach dem Dienstvergehen erteilt wurde, ins Gewicht. Für eine im Übrigen disziplinierte Persönlichkeit spricht zudem, dass er sein Abitur in der Abendschule und parallel zu den Belastungen des Dienstes nachgeholt hat.
Rz. 31
cc) Die Überlänge des Disziplinarverfahrens gebietet zusätzlich eine Milderung der Disziplinarmaßnahme (zu den Bemessungsfaktoren im Einzelnen: BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2020 - 2 WD 12.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 76 Rn. 25 m.w.N.).
Rz. 32
In welchem Umfang der - grundsätzlich zu beachtende (BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - BVerwGE 166, 189 Rn. 43 m.w.N. und vom 22. April 2021 - 2 WD 15.20 - Rn. 45 m.w.N.) - Zeitraum von der Kenntniserlangung der Wehrdisziplinaranwaltschaft vom Strafverfahren (August 2016) bis zur Einleitung des disziplinargerichtlichen Verfahrens (Juni 2017) einzubeziehen ist, kann dahingestellt bleiben; jedenfalls wurde über die im März 2018 eingegangene Anschuldigung vom Truppendienstgericht erst im Juni 2020 entschieden, obwohl angesichts des seit April 2017 rechtskräftigen Strafurteils und der - jedenfalls im wehrdienstgerichtlichen Verfahren - geständigen Einlassungen des früheren Soldaten keine umfassenden Sachverhaltsermittlungen mehr erforderlich waren. Zudem stand lediglich eine, wenn auch bis dahin noch nicht höchstrichterlich geklärte Rechtsfrage zur Beantwortung an. Damit liegt eine dem Staat zuzurechnende Überlänge des Verfahrens von jedenfalls sechszehn Monaten vor (zu 15 Monaten Verfahrensüberdauer: BVerwG, Urteil vom 25. März 2021 - 2 WD 13.20 - juris Rn. 32). Sie hat sich nach den Einlassungen des früheren Soldaten zu seiner seelischen Situation in den Jahren nach dem Dienstvergehen für ihn auch belastend ausgewirkt.
Rz. 33
3. Die danach allein schuld- und tatangemessene Kürzung des Ruhegehalts darf jedoch gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 WDO nicht mehr verhängt werden, so dass das Verfahren vom Truppendienstgericht zu Recht gemäß § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO eingestellt worden ist.
Rz. 34
Nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 WDO darf neben einer strafrechtlichen Verurteilung, wie sie vorliegend gegen den früheren Soldaten wegen desselben Sachverhalts ausgesprochen worden ist, eine Kürzung des Ruhegehalts nur verhängt werden, wenn dies noch für die Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung erforderlich ist oder wenn das Ansehen der Bundeswehr durch das Fehlverhalten ernsthaft beeinträchtigt wurde. Beide Ausnahmevoraussetzungen sind nicht erfüllt.
Rz. 35
Eine Beeinträchtigung des Ansehens der Bundeswehr, also ihres "guten Rufs" bei Außenstehenden, liegt dann vor, wenn der betreffende Soldat als "Repräsentant" der Bundeswehr oder eines bestimmten Truppenteils anzusehen ist und sein Verhalten negative Rückschlüsse auf die Streitkräfte als Angehörige eines - an Recht und Gesetz gebundenen - Organs des Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland zulässt; hierbei muss die Ansehensschädigung im konkreten Fall tatsächlich eingetreten sein (BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2019 - 2 WD 24.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 64 Rn. 35). Ein solcher Fall ist nicht gegeben, da in den Medien über die Pflichtverletzung nicht unter Hinweis auf den Beruf des früheren Soldaten berichtet worden ist und ein Bekanntwerden allein bei den Strafverfolgungsorganen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Februar 2013 - 2 WD 36.12 - juris Rn. 43) oder bei einer Einzelperson dafür noch nicht ausreicht.
Rz. 36
Im Hinblick auf die hier erneut bekräftigte Rechtsprechung zur disziplinarischen Relevanz außerdienstlicher Pflichtverletzungen - insbesondere zum Fehlverhalten von Soldaten im Straßenverkehr - ist ebenfalls nicht zu befürchten, dass das Absehen von einer Disziplinarmaßnahme bei gleichzeitiger Feststellung eines Dienstvergehens eine negative Beispielswirkung auslösen könnte. Daher kommt generalpräventiven Aspekten keine Bedeutung zu. Da sich der frühere Soldat nach dem vor über fünf Jahren begangenen Dienstvergehen bis zu seinem Ausscheiden bewährt hat, er insbesondere keine weiteren Pflichtverletzungen begangen hat, besteht keine Wiederholungsgefahr. Auch spezialpräventive Aspekte fordern keine Disziplinarmaßnahme mehr, zumal der frühere Soldat nicht mehr im aktiven Dienst steht. Auch deuten keine Umstände darauf hin, dass er nach dem Dienstvergehen Handlungen begangen hat, die seine Fahreignung in Frage stellten.
Rz. 37
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 139 Abs. 2, § 140 Abs. 1 WDO.
Fundstellen
Haufe-Index 14755628 |
BVerwGE 2022, 29 |
BWV 2021, 261 |
JZ 2021, 733 |
JZ 2021, 740 |