Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 30.07.2020; Aktenzeichen OVG 3 B 19.19) |
VG Berlin (Urteil vom 12.02.2019; Aktenzeichen 33 K 128.18 A) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 30. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin, eine philippinische Staatsangehörige, wendet sich gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig.
Rz. 2
Die Klägerin reiste nach eigenen Angaben am 13. Dezember 2017 in das Bundesgebiet ein und stellte am 2. Januar 2018 einen Asylantrag. Ausweislich des Visa-Informationssystems VIS verfügte die Klägerin über ein von Frankreich am 10. Mai 2017 in Dubai ausgestelltes Schengen-Visum.
Rz. 3
Die französischen Behörden stimmten einem Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 19. Februar 2018 zu. Mit Bescheid vom 21. Februar 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Frankreich an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Hiergegen erhob die Klägerin am 5. März 2018 Klage.
Rz. 4
Am 13. Juli 2018 teilte das Landeskirchliche Pfarramt dem Bundesamt und der Ausländerbehörde mit, dass sich die Klägerin seit 12. Juli 2018 im Kirchenasyl in der Versöhnungsgemeinde Berlin-Wedding aufhalte.
Rz. 5
Mit Schreiben vom 17. Juli 2018 forderte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten des Landes Berlin (Ausländerbehörde) die Klägerin unter Berufung auf § 58 AufenthG auf, sich am 2. August 2018 um 04:30 Uhr zur Durchführung der Abschiebung beim Polizeipräsidenten in Berlin einzufinden. Die Klägerin erschien nicht zu dem genannten Termin. Am 17. August 2018 teilte das Bundesamt den französischen Behörden mit, dass die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO am 19. August 2019 ende.
Rz. 6
Am 27. August 2018 beantragte die Klägerin bei dem Verwaltungsgericht, die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis zur Entscheidung in der Hauptsache von Vollzugsmaßnahmen abzusehen. Sie habe sich ausweislich einer Krankenhausbescheinigung ab 1. August 2018 und damit auch am Tag der Selbstgestellung bis auf Weiteres in stationärer Behandlung befunden. Das Verwaltungsgericht erließ mit Beschluss vom 6. September 2018 die beantragte Anordnung und hob mit Urteil vom 12. Februar 2019 den Bescheid der Beklagten vom 21. Februar 2018 auf.
Rz. 7
Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 30. Juli 2020 zurückgewiesen. Die Frist zur Überstellung der Klägerin sei am 19. August 2018 abgelaufen und die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden. Sie habe die Überstellungsfrist nicht wirksam um 12 auf 18 Monate verlängern können. Ein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sei zu verneinen, wenn die Überstellung wegen fehlender Mitwirkung oder mangelnder Kooperation des Asylbewerbers bei fortbestehendem behördlichen Zugriff lediglich dahingehend erschwert werde, dass die Behörde zusätzlichen Vollstreckungsaufwand, etwa durch die Bereitstellung einer Begleitperson bei der Überstellung, betreiben müsse. Das Nichterscheinen zur Selbstgestellung führe nicht dazu, dass die Behörde keinen Zugriff (mehr) auf den Asylbewerber habe und aus diesem Grund seine Überstellung unmöglich sei. Auch wenn sich der Asylbewerber subjektiv der Überstellung entziehen wolle, so bleibe der behördliche Zugriff objektiv fortbestehen und er sei daher nicht flüchtig. Es sei nicht aufgrund der fehlenden Mitwirkung der Klägerin objektiv unmöglich gewesen, sie mit Verwaltungszwang nach Frankreich zu überstellen. Ihr Aufenthaltsort in der Kirchengemeinde sei bekannt gewesen. Dass sie dort am fraglichen Tage wegen des stationären Krankenhausaufenthalts nicht anzutreffen gewesen sei, begründe ebenfalls nicht die Annahme, sie sei "flüchtig", denn es fehle jedenfalls am subjektiven Willen, die Überstellung gezielt zu vereiteln.
Rz. 8
Zur Begründung ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. der Dublin III-VO und macht im Wesentlichen geltend, der Begriff des Flüchtigseins umfasse auch den Fall der Nichtbefolgung einer sogenannten Selbstgestellungsaufforderung. Das Berufungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass bereits der Aufenthalt der Klägerin im sogenannten offenen Kirchenasyl eine Verlängerung der Überstellungsfrist wegen Flüchtigseins rechtfertige. Sie habe die Änderung der Anschrift nicht noch am Tage des Wechsels in das Kirchenasyl angezeigt und aus der angegebenen Adresse ergebe sich nicht hinreichend deutlich ihr tatsächlicher Aufenthalt. Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber auch Konstellationen der vorliegenden Art vom Begriff des Flüchtigseins grundsätzlich mit habe umfassen bzw. jedenfalls nicht ausschließen wollen, lieferten die unterschiedlichen Sprachfassungen und die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin III-VO. Soweit die Regelungen auf eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates zielten, setze dies die unbeeinträchtigte Möglichkeit eines Vollzugs der Überstellung innerhalb der Regelfrist von sechs Monaten voraus, was impliziere, dass auch der Drittstaatsangehörige keine Verhaltensweisen zeige, die sich nachhaltig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkten. Es könne keinen Unterschied machen, ob er aufgefordert sei, sich zum Zweck der Überstellung an einem bestimmten Ort einzufinden, oder ihm auferlegt werde, an dem zugewiesenen Aufenthaltsort zu verbleiben. Hinsichtlich der erforderlichen Kausalität des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen reiche bereits die vorübergehende bzw. zeitlich befristete Unmöglichkeit der Überstellung aus. Erscheine der Betroffene nicht zur Selbstgestellung, sei der Behörde in diesem Zeitpunkt der Vollzug der Überstellung nicht nur erschwert, sondern tatsächlich unmöglich.
Rz. 9
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
Rz. 10
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.
Entscheidungsgründe
Rz. 11
Die zulässige Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Berufungsgericht die Aufhebung der gegen die Klägerin ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung bestätigt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG liegen nicht vor, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist von Frankreich auf Deutschland übergegangen ist. Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil die Voraussetzungen für die Annahme, die Klägerin sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, nicht vorlagen (1.). Die Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht in eine andere (Unzulässigkeits-)Entscheidung umgedeutet werden (2.). Zu Recht hat das Berufungsgericht auch die Aufhebung der Folgeentscheidungen durch das Verwaltungsgericht bestätigt (3.).
Rz. 12
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des auf die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 21. Februar 2018 gerichteten Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), sowie das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), beide zuletzt geändert durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 (BGBl. I S. 2467). Unionsrechtlich maßgeblich sind die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 S. 31) - Dublin III-VO - und die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (ABl. L 222 S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. L 39 S. 1) geänderten Fassung - Dublin-DVO -. Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuellen Fassungen zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht geändert.
Rz. 13
1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG nicht vorliegen. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht (mehr) der Fall. Damit ist Deutschland für das Asylverfahren der Klägerin zuständig geworden.
Rz. 14
1.1 Zwar war nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO zunächst Frankreich für die Prüfung des Asylantrags zuständig, weil die Klägerin ein von diesem Mitgliedstaat am 10. Mai 2017 erteiltes Visum besessen hat. Die Beklagte hat unter dem 5. Januar 2018 auch gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO fristgerecht ein Wiederaufnahmegesuch für die Klägerin an Frankreich gestellt, das von dort am 19. Februar 2018 angenommen wurde.
Rz. 15
1.2 Die Zuständigkeit ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist aber nachträglich auf Deutschland übergegangen. Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat (Alt. 1) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat (Alt. 2). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet, und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Satz 1). Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf 18 Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist (Satz 2). Verzögert sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder weil sich der Antragsteller der Überstellung entzogen hat, ist der zuständige Mitgliedstaat hierüber unverzüglich zu unterrichten (Art. 9 Abs. 1 Dublin-DVO). Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist bedarf es keiner Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat, sondern es genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat den zuständigen Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:118], Jawo - Rn. 72 und 75).
Rz. 16
a) Die sechsmonatige Überstellungsfrist wurde hier mit Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Frankreich am 19. Februar 2018 in Gang gesetzt und endete am 19. August 2018. Der Eilantrag beim Verwaltungsgericht vom 27. August 2018 vermochte die Überstellungsfrist nicht mehr gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO zu unterbrechen, da sie bereits abgelaufen war.
Rz. 17
b) Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil die Klägerin nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO "flüchtig" war (im Folgenden auch Flüchtigsein). Der vom Oberverwaltungsgericht für die Beurteilung eines Flüchtigseins in diesem Sinne zugrunde gelegte Maßstab steht im Einklang mit dem insoweit maßgeblichen Unionsrecht (aa). Weder war die Klägerin infolge des Aufenthalts im sog. offenen Kirchenasyl ab dem 12. Juli 2018 (bb) noch wegen der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung vom 17. Juli 2018 (cc) flüchtig.
Rz. 18
aa) Der in der Dublin III-Verordnung verwendete Begriff des Flüchtigseins ist nicht legal definiert. Mit Blick auf die von der Dublin III-Verordnung verfolgten Ziele (schnelle Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und Gewährleistung eines effektiven Zugangs zum Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes) ist der Begriff als Voraussetzung für ein ausnahmsweises Abweichen von der grundsätzlich einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist eng auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 53 ff.; s.a. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 25) ist ein Antragsteller flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff "flüchtig" objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 60); das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 70). Subjektiv ist erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entzieht und seine Überstellung vereiteln will (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 56).
Rz. 19
Ein Flüchtigsein kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 70). Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 61 f.). Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO ("flüchtig ist") folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 27).
Rz. 20
Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung - gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs - hat. Im Gegensatz zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) - Rückführungsrichtlinie - kennt das Dublin-Überstellungssystem das Institut der freiwilligen Ausreise nicht. Vielmehr erfolgt eine Dublin-Überstellung stets im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens. Auch bei einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Dublin-DVO handelt es sich um eine staatlich überwachte Ausreise, die hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung der behördlichen Organisation bedarf (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 17 f.). Hinsichtlich der drei Überstellungsmodalitäten geben die Dublin-Bestimmungen keine bestimmte Rangfolge vor. In welcher Variante die Überstellung erfolgt, obliegt der Regelungskompetenz des ersuchenden Mitgliedstaats (vgl. Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO; s.a. BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 15). Damit im Einklang steht die nationale Umsetzung der Dublin-Bestimmungen durch ein Regel-Ausnahme-System zugunsten einer Überstellung mit Verwaltungszwang. Nach § 34a Abs. 1 AsylG kann vom Bundesamt nur die Abschiebung als Möglichkeit der Überstellung eines Ausländers in den für die Prüfung seines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat angeordnet werden. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist von der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Ausländerbehörde dadurch Rechnung zu tragen, dass die Überstellung zwar regelmäßig in Gestalt der Abschiebung vollzogen wird, im Ausnahmefall aber auch eine Überstellung ohne Verwaltungszwang möglich ist (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 17 ff.). Sie ist dem Asylbewerber von der Vollzugsbehörde dann zu ermöglichen, wenn gesichert erscheint, dass er sich freiwillig in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der verantwortlichen Behörde meldet (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 19 ff.).
Rz. 21
Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt für ein kausales Sichentziehen nicht jedes sich irgendwie nachteilig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkende Verhalten des Betroffenen bzw. jedwede vorübergehende Verunmöglichung einer Überstellung. Insbesondere entzieht sich ein Ausländer jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung regelmäßig nicht allein durch ein passives - wenn auch möglicherweise pflichtwidriges - Verhalten (objektiv) dem staatlichen Zugriff. Ist der Vollzugsbehörde der Aufenthalt des Betroffenen bekannt, kann sie eine zwangsweise Überstellung durchführen. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG i.V.m. § 67 Abs. 1 Nr. 5 und § 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG) beinhaltet keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Der Ausreisepflichtige kann selbst entscheiden, ob er an einer ihm angebotenen kontrollierten Überstellung mitwirkt oder nicht. Verweigert er seine Mitwirkung, bedarf es einer begleiteten Überstellung, die er passiv dulden muss. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung bzw. Kooperation des Betroffenen der für eine zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöht und sein Verhalten möglicherweise zu einer Verzögerung führt, weil die Vollzugsbehörde keine Vorsorge für eine begleitete Überstellung getroffen hat, stellt objektiv kein Sichentziehen dar. Der Aufenthalt des Betroffenen ist der Behörde bekannt, und eine Überstellung könnte unter Anwendung unmittelbaren Zwangs jederzeit durchgeführt werden. Damit fehlt es (objektiv) an einem Sichentziehen. Dass der Betroffene (subjektiv) regelmäßig in der Absicht handeln dürfte, eine Überstellung zu vereiteln, genügt nicht. Eine Verlängerungsmöglichkeit allein wegen fehlender Mitwirkung des Betroffenen widerspräche nicht nur dem mit den Dublin-Bestimmungen und speziell mit Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO verfolgten Beschleunigungszweck (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo Rn. 57 f.), sondern angesichts der erheblichen Folgen, die eine Verlängerung der Überstellungsfrist für den Betroffenen zeitigt, auch dem Ausnahmecharakter des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO (Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 - C-163/17 - Rn. 59). Folglich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers grundsätzlich weder dessen Flugunwilligkeit, ein Aufenthalt im offenen Kirchenasyl (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 26 m.w.N.), ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig. Letztere dient lediglich der Erleichterung einer - im nationalen Recht regelmäßig vorgeschriebenen - Überstellung mit Verwaltungszwang, in dem sie der Vollzugsbehörde eine zwangsweise Abholung des Ausländers in seiner Unterkunft oder Wohnung erspart. Kommt der Ausländer einer Aufforderung zur Selbstgestellung nicht nach, entzieht er sich damit (objektiv) nicht dem staatlichen Zugriff.
Rz. 22
Ob in Ausnahmefällen trotz bekannter Anschrift, etwa bei Verhinderung fortgesetzter Überstellungsversuche oder einem Verhalten, das einer fortdauernden Flucht gleichsteht, ein gegebenenfalls in der Gesamtwürdigung (fortbestehendes) Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO angenommen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 27), bedarf auch im vorliegenden Verfahren keiner abschließenden Entscheidung. Die Anschrift der Klägerin war dem Bundesamt und der Ausländerbehörde durchgehend bekannt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat das Landeskirchliche Pfarramt dem Bundesamt am 13. Juli 2018 mitgeteilt, dass sich die Klägerin seit dem 12. Juli 2018 im Kirchenasyl in der Versöhnungsgemeinde Berlin-Wedding aufhalte. Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass dem Bundesamt dabei der tatsächliche Aufenthaltsort der Klägerin nicht hinreichend eindeutig mitgeteilt worden ist. Vielmehr ist das Oberverwaltungsgericht (UA S. 10) - wie schon zuvor das Verwaltungsgericht (UA S. 5) - in seiner Entscheidung davon ausgegangen, dass dem Bundesamt der Aufenthalt der Klägerin im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung bekannt war. Das Bundesamt hat die Mitteilung des Pfarramts nicht zum Anlass für eine Verlängerung der Überstellungsfrist genommen, sondern stattdessen nach Prüfung der Unterlagen einen Selbsteintritt abgelehnt. Erstmals im Revisionsverfahren hat es ein Flüchtigsein (auch) damit begründet, dass der konkrete Aufenthaltsort der Klägerin im Kirchenasyl (in der Kirche oder in den Gemeinderäumen) nicht hinreichend mitgeteilt worden sei. Dieser Einwand ist schon deshalb unerheblich, weil das Revisionsgericht an die tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, gegen die die Beklagte keine Verfahrensrügen erhoben hat, nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist. Im Übrigen war dem Bundesamt auch nach Aktenlage der tatsächliche Aufenthalt der Klägerin bekannt. Die Aufforderung zur Selbstgestellung ist der Klägerin ausweislich der Zustellungsurkunde vom 20. Juli 2018 unter der Anschrift der Gemeinderäume ("Bernauer Straße 111") durch persönliche Übergabe zugestellt worden. Diese Zustellungsurkunde ist dem Bundesamt von der Ausländerbehörde übermittelt worden und war ausweislich der von ihm im Gerichtsverfahren vorgelegten Unterlagen Grundlage für seine Verlängerungsentscheidung vom 17. August 2018.
Rz. 23
Der Begriff des Flüchtigseins im unionsrechtlichen Sinne ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt, und diese bietet nach obigen Ausführungen eine hinreichende Grundlage für die nationalen Gerichte zur Beantwortung der Frage, ob die Verletzung von Mitwirkungspflichten ein Flüchtigsein begründet, so dass es keiner Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV bedarf.
Rz. 24
bb) Der Aufenthalt der Klägerin im Kirchenasyl ist zwar bei der Prüfung des Flüchtigseins zu berücksichtigen ((1)), rechtfertigt aber in der Sache nicht die Annahme, sie sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig ((2)).
Rz. 25
(1) Auch wenn die Beklagte den Aufenthalt der Klägerin im Kirchenasyl nicht zum Anlass für eine Verlängerungsmitteilung gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat genommen hat, hätte das Berufungsgericht diesen - insbesondere wegen der zeitlichen Nähe der Mitteilung über das Kirchenasyl am 13. Juli 2018 und der Verlängerungsentscheidung am 17. August 2018 - bei der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung berücksichtigen müssen.
Rz. 26
Als unbestimmter Rechtsbegriff unterliegt der (unionsrechtliche) Begriff des Flüchtigseins der vollen gerichtlichen Kontrolle. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist flüchtig war, hat das Gericht deshalb alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat.
Rz. 27
Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sieht für die Verlängerung keine gesonderte, gegenüber dem Schutzsuchenden zu treffende Entscheidung vor. Die Verlängerungsentscheidung ist (innerstaatlich) eine - tatbestandlich gebundene - Verfahrensentscheidung, die (außerstaatlich) dem zuständigen, ersuchten Staat mitzuteilen ist, um einen Zuständigkeitsübergang durch Ablauf der Überstellungsfrist zunächst zu vermeiden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO dahin auszulegen, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf höchstens 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 72 und 75). Eine besondere Rechtsform der vorgelagerten innerstaatlichen Verfahrensentscheidung, den zuständigen Mitgliedstaat zu unterrichten, wird weder erwähnt noch vorausgesetzt; auch eine Mitteilung an den Schutzsuchenden ist nicht vorgesehen. Sie wäre - jedenfalls als Wirksamkeitsvoraussetzung der Mitteilung gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat - überdies geeignet, in der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 der Dublin III-VO genannten Situation diese Bestimmung schwer anwendbar zu machen und ihr einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit zu nehmen, weil sie eine Bekanntgabe an eine Person voraussetzte, die als flüchtig anzusehen ist. Der Umstand, dass das Bundesamt im Rahmen seines weiten Verfahrensermessens darüber zu befinden hat, ob die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat ergeht und ob es für die neue Überstellungsfrist die unionsrechtlich eröffnete Höchstfrist von 18 Monaten ausschöpft, macht diese Entscheidung nicht zu einer Ermessensentscheidung im Sinne des § 40 VwVfG, die nach § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG zu begründen wäre. Liegen (objektiv) die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat im Zeitpunkt ihres Ergehens vor, ist eine Verlängerung auf bis zu 18 Monate unionsrechtlich vorgesehen und willkürfrei möglich (BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2019 - 1 B 75.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 107).
Rz. 28
(2) Die Klägerin ist indes auch unter Berücksichtigung des Aufenthalts im Kirchenasyl nicht als flüchtig anzusehen, weil dieser der Überstellung nicht entgegengestanden hat und sich die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts insoweit im Ergebnis als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO). Kennt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Aufenthaltsort eines Asylbewerbers, der sich im sogenannten offenen Kirchenasyl befindet, kann es diesen nicht (mehr) als flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO ansehen und deswegen die Frist zur Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht auf 18 Monate verlängern. Dies gilt auch dann, wenn sich der Antragsteller zuvor innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist (Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO) in einem verdeckten Kirchenasyl befunden hat, dem Bundesamt aber vor Ergehen der Verlängerungsentscheidung dessen Aufenthaltsort bekannt geworden ist (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 26 f.).
Rz. 29
cc) Im Einklang mit Bundesrecht geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klägerin auch nicht deshalb flüchtig im unionsrechtlichen Sinne ist, weil sie der Selbstgestellungsaufforderung vom 17. Juli 2018 nicht Folge geleistet hat.
Rz. 30
Dabei kann offenbleiben, ob die vorliegend ergangene Selbstgestellungsaufforderung Verwaltungsaktqualität hat und auf welcher Ermächtigungsgrundlage sie beruht. Denn ein Ausländer entzieht sich auch mit der Verweigerung einer aktiven Mitwirkung in Form der Selbstgestellung - unabhängig von der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens - objektiv nicht dem staatlichen Zugriff. Seine (zwangsweise) Überstellung ist weiterhin tatsächlich und rechtlich möglich. Dies gilt unabhängig davon, ob der Ausländer mit der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung gegen eine Mitwirkungspflicht zur Förderung seiner Überstellung verstößt oder nicht. Er ist weiterhin bekannten Aufenthalts und offenbart mit seinem Nichterscheinen allenfalls seine Kooperationsunwilligkeit, die bei der (weiteren) Organisation der Überstellung zu berücksichtigen ist. Dagegen ist das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung durch den Ausländer (objektiv) nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs kausal für seine (zumindest vorübergehende) Nichtüberstellbarkeit, weil er auch ohne Selbstgestellung zwangsweise überstellt werden kann. Damit ist er nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.
Rz. 31
Ob und unter welchen Voraussetzungen dies ein einer fortdauernden Flucht gleichstehendes Verhalten darstellt, das das Bundesamt trotz grundsätzlich bekanntem Aufenthaltsort ausnahmsweise zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist wegen Flüchtigseins berechtigt, bedarf aus Anlass des vorliegenden Verfahrens keiner Entscheidung. Es fehlt an tatrichterlichen Feststellungen zu einer Verletzung der o.g. Obliegenheiten durch die Klägerin, und die Frage, ob und in welchem Umfang die Ausländerbehörde - über die Regelung in § 50 Abs. 4 AufenthG hinaus - auf die tatsächliche Erreichbarkeit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seiner Wohnung bzw. Unterkunft etwa mittels einer (auf § 46 Abs. 1 AufenthG gestützten) Bereithalteanordnung einwirken kann, durch die dem Ausländer aufgegeben wird, sich an einem bestimmten Datum zum Zwecke der Durchführung seiner Abschiebung oder Überstellung bereitzuhalten stellt sich nicht. Eine solche Anordnung ist gegenüber der Klägerin nicht ergangen. Gegen eine Vereitelungsabsicht spricht im Übrigen die Feststellung des Berufungsgerichts, dass sich die Klägerin am Überstellungstag zu einer stationären Behandlung im Krankenhaus aufgehalten hat (UA S. 10). Auch in der Gesamtschau fehlt es insoweit an einem dem Flüchtigsein gleichzustellenden Verhalten.
Rz. 32
c) Ist die Überstellungsfrist mangels wirksamer Verlängerung bereits am 19. August 2018 abgelaufen, konnte sie schon deshalb weder durch den Eilantrag beim Verwaltungsgericht vom 27. August 2018 noch durch die behördliche Aussetzung der Abschiebung durch das Bundesamt vom 26. März 2020 wegen der Covid-19-Pandemie unterbrochen werden, so dass sich hinsichtlich der behördlichen Aussetzung die im Vorlagebeschluss des Senats vom 26. Januar 2021 im Verfahren - 1 C 52.20 u.a. - (Asylmagazin 2021, 178) an den Gerichtshof gerichteten Fragen vorliegend nicht stellen. Im Übrigen unterbricht nicht jede während eines gerichtlichen Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung oder sogar erst nach dessen Abschluss ergehende gerichtliche Eilentscheidung den Lauf der Überstellungsfrist (erneut). Aus dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO und dem auf eine schnelle Klärung der Zuständigkeitsfrage gerichteten Sinn und Zweck sowohl der Dublin III-Verordnung insgesamt als auch des Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO im Besonderen ergibt sich vielmehr, dass ein - die Überstellungsfrist unterbrechender - Rechtsbehelf im Sinne des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO nur die zur Vermeidung der Bestandskraft der Überstellungsentscheidung gegen diese gerichtete Klage und gegebenenfalls ein in diesem Zusammenhang gestellter, fristgebundener Eilantrag ist. Dies gilt insbesondere, wenn einem Antrag auf Abänderung nach § 80 Abs. 7 VwGO bzw. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vom Gericht - wie hier - gerade mit der Begründung stattgegeben worden ist, dass die Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen und damit die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei.
Rz. 33
d) Die Klägerin kann sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen. Der Betroffene hat einen subjektiv-öffentlichen Anspruch darauf, dass die objektive Dublin-Zuständigkeitsordnung eingehalten und ein durch das Fristenregime des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO bewirkter Zuständigkeitsübergang beachtet wird. Insbesondere ist Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen, dass im Rahmen eines gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Verfahrens die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 70 und BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 28).
Rz. 34
2. Eine Umdeutung der auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 - InfAuslR 2020, 402 Rn. 13 ff. unter Verweis auf die Urteile vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 40 und vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 111 Rn. 25 ff.) kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen eines anderen Unzulässigkeitstatbestandes nicht vorliegen. Insbesondere ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass ein anderer Staat aufgrund anderer unionsrechtlicher Vorschriften oder völkerrechtlicher Verträge für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig wäre (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AsylG) oder im Hinblick auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG der Klägerin bereits in einem anderen Mitgliedstaat, etwa Frankreich, internationaler Schutz gewährt worden wäre.
Rz. 35
3. Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung nach dem oben Ausgeführten als rechtswidrig erweist, hat das Berufungsgericht zu Recht auch die Aufhebung der daran anknüpfenden Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten in Bezug auf Frankreich und die Abschiebungsandrohung bestätigt. Die Aufhebung der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (a.F.) rechtfertigt sich jedenfalls zur Beseitigung des möglichen Rechtsscheins eines Einreiseverbots (BVerwG, Urteile vom 25. Mai 2021 - 1 C 2.20 - und - 1 C 39.20 - juris, jeweils Rn. 22).
Rz. 36
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Dokument-Index HI14922571 |