Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausnahme. Ausnahmefall. Flüchtlingseigenschaft. Folgeantrag. Folgeverfahren. Nachfluchtgrund. Nachfluchttatbestand. Regelfall. Regelausschlussgrund. selbst geschaffener Nachfluchttatbestand. subjektiver Nachfluchtgrund. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
Leitsatz (amtlich)
Nach Abschluss eines Asylverfahrens selbst geschaffene Nachfluchttatbestände führen nach § 28 Abs. 2 AsylVfG in der Regel nicht zur Flüchtlingsanerkennung. Für eine Ausnahme von dieser Regel ist in Fällen exilpolitischer Betätigung die inhaltliche und zeitliche Kontinuität der nach außen betätigten Überzeugung zwar ein wichtiges Indiz, reicht aber zur Widerlegung der gesetzlichen Regelvermutung allein nicht aus. Vielmehr muss der Asylbewerber gute Gründe dafür anführen, warum er nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmalig exilpolitisch aktiv geworden ist oder seine bisherigen Aktivitäten intensiviert hat.
Normenkette
AsylVfG § 28; AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1; GFK Art. 1A Nr. 2, Art. 33 Abs. 1; Richtlinie 2004/83/EG Art. 5
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 18.07.2006; Aktenzeichen 11 LB 75/06) |
VG Stade (Entscheidung vom 13.06.2005; Aktenzeichen 4 A 483/04) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom 18. Juli 2006 aufgehoben.
Das Verfahren wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der Beigeladene, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der Beigeladene stellte erstmals im November 1998 einen Asylantrag. Zur Begründung gab er u. a. an, dass er in der Türkei die HADEP unterstützt habe. Nach der Festnahme von Freunden, mit denen er politisch zusammengearbeitet habe, sei er zu Verwandten nach Istanbul ausgewichen. Weil am Heimatort nach ihm gesucht worden sei, habe er die Türkei im Oktober 1998 auf dem Luftweg verlassen. Erst auf Vorhalt räumte er ein, dass er bereits Mitte Juni 1998 versucht habe, unter einem Aliasnamen auf dem Landweg in das Bundesgebiet einzureisen. Während des Asylverfahrens veröffentlichte der Beigeladene unter einem Pseudonym Beiträge in der Zeitschrift Özgür Politika. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) – Bundesamt – lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 23. November 1998 als offensichtlich unbegründet ab. Die Klage hatte keinen Erfolg. Den Entscheidungsgründen des rechtskräftig gewordenen verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 9. Dezember 1999 ist im Hinblick auf die vorgetragenen Nachfluchtgründe zu entnehmen, dass keine Kontinuität zwischen dem im Heimatland erkennbar gewordenen Verhalten und dem Nachfluchtverhalten bestehe.
Am 15. Oktober 2003 stellte der Beigeladene einen Asylfolgeantrag und gab an, er sei Mitte Juni 2000 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgereist und habe sich anschließend in Istanbul unter falschem Namen aufgehalten. Ab August 2002 sei er wieder politisch aktiv geworden und habe den Kontakt zur Özgür Politika über Telefongespräche und E-Mails aufrecht erhalten. In dieser Zeitung habe er unter richtigem Namen ein Interview (April 2003) mit und einen Artikel (September 2003) über einen kurdischen Sänger veröffentlicht. Nach einer Festnahme im Juni 2003 habe er sich im September 2003 einer erneuten Festnahme nur mühsam entziehen können. Weil er unter falschem wie auch richtigem Namen sowohl in Istanbul als auch an seinem Heimatort gesucht worden sei, habe er sich erneut zur Flucht nach Deutschland entschlossen.
Mit Bescheid vom 5. März 2004 lehnte das Bundesamt den Antrag des Beigeladenen auf Anerkennung als Asylberechtigter ab. Zugleich stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Selbst bei Zweifeln an den Angaben des Beigeladenen stehe fest, dass dieser als Journalist der PKK (KADEK)-nahen und in der Türkei verbotenen Zeitung Özgür Politika namentlich in Erscheinung getreten sei.
Dagegen erhob der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) Klage, die vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg hatte. Die Berufung des Bundesbeauftragten wies das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 18. Juli 2006 zurück. Ausweislich der Entscheidungsgründe hat es das Berufungsgericht trotz anderweitiger Indizien für glaubhaft angesehen, dass sich der Beigeladene nach Abschluss des ersten Asylverfahrens vorübergehend in der Türkei aufgehalten hat. Offen bleibe, ob seine Angaben zu den politischen Aktivitäten in der Türkei den Tatsachen entsprächen und ob ihm politische Verfolgung wegen der Veröffentlichungen unter richtigem Namen über kurdische Sänger in der Özgür Politika drohe. Denn entscheidend sei darauf abzustellen, dass der Beigeladene seine journalistische Tätigkeit für diese Zeitung in Deutschland fortgesetzt und intensiviert habe. Hier verfasse er regelmäßig unter seinem Namen erscheinende Artikel, in denen er kritisch zu den Zuständen in der Türkei Stellung nehme und deren Inhalt aus der Sicht des türkischen Staates geeignet sei, zur Verbreitung separatistischen Gedankenguts beizutragen. Aufgrund dieses exponierten prokurdischen Engagements drohe ihm trotz des Reformprozesses in der Türkei bei einer Rückkehr dorthin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Regelausschlussgrund des § 28 Abs. 2 AsylVfG stehe einer Berücksichtigung der im Folgeverfahren geltend gemachten subjektiven Nachfluchtgründe nicht entgegen. In Anknüpfung an die das Grundrecht auf Asyl betreffende Regelung in Absatz 1 der Vorschrift bestehe eine zur Flüchtlingsanerkennung führende Ausnahme von der Regel, wenn die Nachfluchtaktivitäten sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Herkunftsland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellten. Ein derartiger Ausnahmefall liege hier vor. Obwohl das Verwaltungsgericht im Erstverfahren die Klage mit Urteil vom 9. Dezember 1999 abgewiesen habe, gehe aus den Entscheidungsgründen hervor, dass es die Angaben des Beigeladenen über sein Vorfluchtschicksal trotz gewisser Bedenken als wahr unterstellt habe. Deshalb beruhten die nunmehr geltend gemachten politischen Aktivitäten auf einer bereits früher geäußerten Einstellung und wiesen die erforderliche inhaltliche Kontinuität auf.
Der Bundesbeauftragte hat zur Begründung seiner vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision ausgeführt, dass es mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel einer Reduzierung von Folgeanträgen für eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht ausreiche, dass sich die Nachfluchtaktivitäten als Ausdruck einer schon während des Aufenthalts im Herkunftsland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellten. Durch die Novellierung der Bestimmung im Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 sei der Ausschlussgrund zudem von der Regelung in Absatz 1 abgekoppelt worden. Jedenfalls fehlten dem Berufungsurteil ausreichend tragfähige tatsächliche Feststellungen.
Die Beklagte und der Beigeladene verteidigen das Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hat Erfolg, denn das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht auf den Folgeantrag des Beigeladenen davon ausgegangen ist, dieser sei aufgrund selbst geschaffener subjektiver Nachfluchttatbestände im Falle der Rückkehr in die Türkei den Bedrohungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt (1.). Die Begründung des Berufungsgerichts für seine Annahme, der Regelausschlusstatbestand des § 28 Abs. 2 AsylVfG greife ausnahmsweise nicht, hält jedoch revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand (2.). Die im Berufungsurteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen für eine Entscheidung des Senats in der Sache weder zulasten noch zugunsten des Klägers aus (3.), so dass das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der vom Beigeladenen begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist das Asylverfahrensgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798). Das Berufungsgericht müsste, wenn es jetzt entschiede, gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die nunmehr geltende Rechtslage abstellen. Deshalb ist die durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) neu gefasste Vorschrift des § 28 AsylVfG auch der Entscheidung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen (Urteil vom 1. November 2005 – BVerwG 1 C 21.04 – Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 15; stRspr).
1. Die in § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG geregelten Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sind gegeben. Jedenfalls die Veröffentlichung des Beigeladenen unter eigenem Namen in einer der PKK nahestehenden Zeitschrift aus dem September 2003 begründet eine nachträgliche Änderung der Sachlage i. S. d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, die sich mit Blick auf die Flüchtlingsanerkennung zu seinen Gunsten auswirken kann und die – wie für mehrere, in zeitlichen Abständen vorgebrachte Wiederaufgreifensgründe erforderlich (vgl. Urteil vom 13. Mai 1993 – BVerwG 9 C 49.92 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 161) – innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG mit dem Folgeantrag geltend gemacht worden ist. In der Sache hat das Berufungsgericht angenommen, dem Beigeladenen drohe wegen seines im Asylfolgeverfahren entwickelten exponierten prokurdischen Engagements bei Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Dagegen erhebt die Revision keine Einwände; die gestellte Verfolgungsprognose ist, gemessen am Prüfungsmaßstab des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Beigeladenen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit einer Begründung bejaht, die mit § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht vereinbar ist. Nach dieser Bestimmung kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat.
a) Entgegen der Auffassung des Beigeladenen erfasst die am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Vorschrift auch bereits zuvor geschaffene Nachfluchttatbestände. Eine ausdrückliche Übergangsvorschrift fehlt, so dass es bei der Regelung des § 77 Abs. 1 AsylVfG verbleibt. Die tatbestandliche Rückanknüpfung der neuen Regelung wird zudem durch die Absicht des Gesetzgebers gestützt, mit der Vorschrift den bislang bestehenden Anreiz zu nehmen, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein weiteres Asylverfahren zu betreiben; auch sollte zur Entlastung des Bundesamtes die Zahl der Folgeverfahren reduziert werden (vgl. BTDrucks 15/420 S. 110). Diese Ziele werden durch die Erstreckung der Neuregelung auf im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits verwirklichte subjektive Nachfluchttatbestände wesentlich effektiver erreicht. Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz wird durch die unechte Rückwirkung der Vorschrift nicht verletzt, denn schutzwürdig kann nur das betätigte Vertrauen sein, d. h. die “Vertrauensinvestition”, die zur Erlangung einer Rechtsposition oder zu entsprechenden anderen Dispositionen geführt hat (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. September 2007 – 1 BvR 58/06 – juris Rn. 20 mit Verweis auf Urteil vom 16. Juli 1985 – 1 BvL 5/80 u.a. – BVerfGE 69, 272 ≪309≫, Beschluss vom 5. Mai 1987 – 1 BvR 724/81 u. a. – BVerfGE 75, 246 ≪280≫). Dazu ist weder etwas vorgetragen noch ersichtlich; zudem verbleibt dem Betreffenden der Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG, so dass die Erfassung bereits verwirklichter Nachfluchttatbestände durch den Regelausschlusstatbestand nicht unverhältnismäßig erscheint (vgl. zur unechten Rückwirkung des § 28 Abs. 2 AsylVfG: Beschluss vom 23. April 2008 – BVerwG 10 B 106.07 – juris Rn. 5; OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 8 A 780/04.A – InfAuslR 2005, 489; OVG Koblenz, Beschluss vom 5. Januar 2006 – 6 A 10761/05 – AuAS 2006, 102).
b) Da jedenfalls die nach Stellung des Folgeantrags unter eigenem Namen publizierten Beiträge des Beigeladenen unter den Tatbestand des § 28 Abs. 2 AsylVfG fallen, greift die gesetzliche Rechtsfolge, derzufolge die Flüchtlingseigenschaft in einem Folgeverfahren in der Regel nicht zuerkannt werden kann. Das Berufungsgericht hat es – allerdings zu § 28 Abs. 2 AsylVfG in der mittlerweile überholten Fassung der Vorschrift durch Art. 3 Nr. 18 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) – in Orientierung an Abs. 1 der Vorschrift für die Annahme eine Ausnahme von dieser Regel ausreichen lassen, dass die Nachfluchtaktivitäten sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Herkunftsland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen (so auch OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 8 A 780/04.A – InfAuslR 2005, 489 ≪490≫). Dem folgt der Senat nicht. Jedenfalls für die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 modifizierte Fassung der Vorschrift ist die inhaltliche und zeitliche Kontinuität der nach außen betätigten politischen Überzeugung zwar ein wichtiges Indiz, reicht aber zur Widerlegung der gesetzlichen Regelvermutung allein nicht aus. Vielmehr muss der Asylbewerber gute Gründe dafür anführen, warum er nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmalig exilpolitisch aktiv geworden ist oder seine bisherigen Aktivitäten intensiviert hat. Dazu hat der Senat erwogen:
Mit § 28 Abs. 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die risikolose Verfolgungsprovokation durch Nachfluchtgründe, die der Betreffende nach Abschluss des ersten Asylverfahrens selbst geschaffen hat, regelhaft unter Missbrauchsverdacht gestellt. Das ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs, die darauf abzielt, den bislang bestehenden Anreiz zu nehmen, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein weiteres Asylverfahren zu betreiben (vgl. BTDrucks 15/420 S. 110). Demgegenüber greift kein Filter für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind; für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese – anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG – nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. In dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt die für das Verständnis der Vorschrift entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet. Damit erübrigt sich ein positiver Nachweis des finalen Zusammenhangs zwischen selbst geschaffenem Nachfluchttatbestand und erstrebtem Flüchtlingsstatus im Einzelfall. § 28 Abs. 2 AsylVfG verlagert die Substantiierungssowie die objektive Beweislast auf den Asylbewerber, der die gesetzliche Missbrauchsvermutung widerlegen muss, um in den Genuss der Flüchtlingsanerkennung zu gelangen.
Eine andere Missbrauchsregelung enthielt § 1a AsylVfG 1982 (Gesetz vom 6. Januar 1987, BGBl I S. 89, geändert durch Gesetz vom 9. Juli 1990, BGBl I S. 1354). Danach blieben Umstände, mit denen ein Ausländer seine Furcht vor politischer Verfolgung begründete, bei der Entscheidung über die Anerkennung als Asylberechtigter unberücksichtigt, wenn sich aus bestimmten Tatsachen ergab, dass der Ausländer sie im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu dem Zweck herbeigeführt hatte, die Voraussetzungen seiner Anerkennung zu schaffen. Einen vergleichbaren Ansatz im Einzelfall nachweisbedürftigen Missbrauchs für alle – vor oder nach Abschluss des Erstverfahrens verwirklichten – subjektiven Nachfluchtgründe sah die Europäische Kommission in Art. 8 Abs. 2 ihres Vorschlags für eine Richtlinie über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen (ABl C 51 E/325 vom 26. Februar 2002), vor. Dieses Modell hat sich jedoch in der Abstimmung der Richtlinie so nicht durchgesetzt, sondern findet sich zum einen abgeschwächt in dem Prüfauftrag des Art. 4 Buchst. d sowie zum anderen in der den Mitgliedstaaten in Art. 20 Abs. 6 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl EG Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) eröffneten Möglichkeit wieder, die aus dem internationalen Schutz fließenden Rechte einzuschränken. Die Vertreterin des Bundesministeriums des Inneren hat dazu in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erläutert, dass für den Wechsel vom Kommissionsentwurf zu einer an äußere Ereignisse anknüpfenden Regelvermutung die Problematik des Nachweises, welche Motive subjektiven Nachfluchttatbeständen zugrunde liegen, leitend gewesen sei. Von der in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Regelungsoption für die Mitgliedstaaten hat der deutsche Gesetzgeber mit § 28 Abs. 2 AsylVfG i. d. F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 Gebrauch gemacht und die seit 1. Januar 2005 geltende Vorschrift dem Wortlaut der Richtlinie angepasst (vgl. BTDrucks 16/5065 S. 216 f.).
Die Maßstäbe für die Abgrenzung des Regelausschlusses von einem Ausnahmefall, in dem nach Abschluss des Erstverfahrens geschaffene Nachfluchtgründe zur Flüchtlingsanerkennung führen, sind aus dem vom Gesetzgeber gewählten Regelungsmodell sowie dem Zweck der Vorschrift zu entwickeln. Die gesetzliche Missbrauchsvermutung ist dann widerlegt, wenn der Asylbewerber den Verdacht ausräumen kann, er habe Nachfluchtaktivitäten nach Ablehnung des Erstantrags nur oder aber hauptsächlich mit Blick auf die erstrebte Flüchtlingsanerkennung entwickelt oder intensiviert. Aus den Vorgaben in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/83/EG lässt sich entnehmen, dass das Kriterium der Kontinuität nach außen betätigter politischer Überzeugung auch gemeinschaftsrechtlich legitim ist und Indizwirkung besitzen kann, ohne jedoch allein zur Widerlegung der Vermutung auszureichen. Bleibt das Betätigungsprofil des Betroffenen nach Abschluss des Erstverfahrens unverändert, liegt die Annahme einer missbräuchlichen Verknüpfung von Nachfluchtaktivitäten und begehrtem Status eher fern. Wird der Asylbewerber jedoch nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmals exilpolitisch aktiv oder intensiviert er seine bisherigen Aktivitäten, muss er dafür gute Gründe anführen, um den Verdacht auszuräumen, dies geschehe in erster Linie, um die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung zu schaffen (so OVG Magdeburg, Urteil vom 20. Juni 2007 – 3 L 309/05 – juris UA S. 17 f. bereits zu der bisher geltenden Rechtslage). Dazu hat der Tatrichter die Persönlichkeit des Asylbewerbers und dessen Motive für seine erstmalig aufgenommenen oder intensivierten Aktivitäten vor dem Hintergrund seines bisherigen Vorbringens und seines Vorfluchtschicksals einer Gesamtwürdigung zu unterziehen.
c) Der Regelausschluss der Flüchtlingsanerkennung für nach Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe ist mit den Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention – GFK – vereinbar und wirft deshalb auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG (“Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention …”) keine gemeinschaftsrechtlichen Zweifelsfragen auf.
Zum einen erscheint bereits zweifelhaft, ob eine Furcht vor Verfolgung i. S. d. Art. 1A GFK überhaupt auf Fälle der risikolosen Verfolgungsprovokation im Aufnahmestaat gestützt werden kann. Zwar erfasst der Flüchtlingsbegriff des Art. 1A Nr. 2 GFK auch die sog. “réfugiés sur place”, d.h. Personen, die erst nach ihrer Einreise Flüchtling geworden sind. Die daraus gezogene Schlussfolgerung, auch selbst geschaffene Nachfluchtgründe könnten die Flüchtlingseigenschaft rechtlich uneingeschränkt – wenn auch unter dem Vorbehalt sorgfältiger tatsächlicher Untersuchung – begründen (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 1979, Nr. 96; Marx, Handbuch der Flüchtlingsanerkennung, § 30 Rn. 10), erscheint indes nicht zwingend. Dagegen wird vorgebracht, dass es sich bei den “Ereignissen” i. S. d. Art. 1A Nr. 2 GFK stets um Ereignisse im Heimatstaat und nicht um Handlungen des Betroffenen im Aufnahmestaat handelt (Frowein/Zimmermann, Der völkerrechtliche Rahmen für die Reform des Asylrechts – Gutachten für das BMJ, 1993, S. 15; Richter, ZaöRV 1991, 1 ≪19 f.≫; Maaßen, Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, 1997, S. 281). Zudem wollten sich die Vertragsstaaten bei Vertragsschluss nicht der Möglichkeit begeben, die politische Tätigkeit von Ausländern zu reglementieren und Ausländer bei gleichwohl stattfindender Betätigung auszuweisen; diese Option wäre ihnen aber durch Art. 33 GFK genommen, wenn auch selbst geschaffene Nachfluchtgründe die Flüchtlingseigenschaft begründen könnten. Auch aus der Staatenpraxis ergibt sich kein gegenläufiger Anhalt (so die Analyse von Richter a. a. O.). Für eine Einbeziehung selbst geschaffener Nachfluchtgründe in den Schutzbereich des Art. 1A GFK spricht noch weniger, wenn es sich um eine missbräuchliche Inanspruchnahme des von der Konvention vorgesehenen Schutzes handelt.
Diese Frage kann hier aber dahin stehen, da die Genfer Flüchtlingskonvention mit ihrem in Art. 33 Abs. 1 GFK verankerten Refoulement-Verbot dem anderswo von politischer Verfolgung bedrohten Ausländer keinen bestimmten Status, sondern lediglich Abschiebungsschutz für die Dauer der Bedrohung garantiert (vgl. BTDrucks 15/420, S. 109 f.; dem folgend OVG Koblenz, Beschluss vom 5. Januar 2006 – 6 A 10761/05 – AuAS 2006, 102; OVG Bremen, Beschluss vom 20. Juli 2006 – 2 A 215/05.A – juris Rn. 16; OVG Magdeburg, Urteil vom 19. Dezember 2006 – 1 L 319/04 – juris Rn. 31; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, II-§ 28 Rn. 57). In diesem Sinne gewähren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG regelmäßig ausreichenden Schutz.
3. Da das Berufungsgericht seiner Entscheidung den oben beschriebenen Maßstab zur Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall nicht zugrunde gelegt hat, verletzt die angefochtene Entscheidung Bundesrecht. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine eigene Entscheidung des Senats nicht aus.
Ob die Berufungsentscheidung, in der die Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung bestätigt worden ist, sich aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO), kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil nicht prüfen. Nicht vollends klar wird aus den Entscheidungsgründen (UA S. 10 f.), ob das Berufungsgericht positiv festgestellt hat, dass der Beigeladene sich – seinen Angaben entsprechend – die gesamte Zeit zwischen Juni 2000 und September 2003 in der Türkei und nicht nur “vorübergehend” (UA S. 11 unten) dort aufgehalten hat. Offen gelassen hat das Berufungsgericht ausdrücklich, ob dessen Angaben zu seinen weiteren politischen Aktivitäten in der Türkei den Tatsachen entsprechen und ob ihm wegen der Veröffentlichungen vom April und September 2003 politische Verfolgung droht (UA S. 12). Somit fehlen die notwendigen Feststellungen, um eine Flüchtlingsanerkennung auf andere, nicht der Regelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG unterfallende Umstände stützen zu können. Dem Senat ist auch eine abschließende Entscheidung zugunsten des Klägers verwehrt, denn für die Prüfung des Entscheidungsfalles an § 28 Abs. 2 AsylVfG mit Blick auf den zur Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall entwickelten Maßstab reichen die im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen ebenfalls nicht aus. Damit ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
4. Das Berufungsgericht wird bei der Prüfung des § 28 Abs. 2 AsylVfG erneut der Frage nachgehen müssen, ob und wie lange sich der Beigeladene zwischen dem Abschluss des Erstverfahrens und der Stellung des Folgeantrags in der Türkei aufgehalten hat und ob er dort – entsprechend seinem Vortrag – politisch aktiv geworden ist. Die Rückkehr in sein Herkunftsland allein ist unerheblich, denn damit erfüllt der Beigeladene nur seine Ausreiseverpflichtung im Anschluss an ein negativ abgeschlossenes Asylverfahren. Hat er aber die im April und September 2003 unter eigenem Namen publizierten Beiträge tatsächlich von der Türkei aus veröffentlicht und sich dadurch – was ebenfalls aufzuklären bleibt – wegen ihres regimekritischen Inhalts dem Risiko einer politischen Verfolgung ausgesetzt, erschienen seine nach Stellung des Folgeantrags im Bundesgebiet entwickelten Nachfluchtaktivitäten jedenfalls nicht intensiviert. Ergäbe sich aus den von der Türkei aus bewirkten Veröffentlichungen vom April und September 2003 sogar die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung, läge ein neuer Vorfluchtgrund vor und die Prüfung des § 28 Abs. 2 AsylVfG wäre obsolet.
Lassen sich der Zwischenaufenthalt in der Türkei und eine von dort ausgehende, das Risiko politischer Verfolgung begründende Publikationstätigkeit des Beigeladenen dagegen nicht feststellen, hätte das Berufungsgericht erneut zu untersuchen, ob dessen nunmehr geltend gemachten politischen Aktivitäten auf einer bereits früher erkennbar geäußerten Einstellung beruhen und die erforderliche Kontinuität aufweisen. Seine dahingehende Würdigung (UA S. 27) begegnet Bedenken, weil das Berufungsgericht sich von den Angaben des Beigeladenen über sein Vorfluchtschicksal vor Stellung des ersten Asylantrags nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschafft hat. Zwar ist dazu nicht zwingend eine eigene Aufklärung im Folgeverfahren erforderlich. Im vorliegenden Fall bedarf es aber entsprechender Feststellungen, nachdem das Berufungsgericht sich insoweit auf eine Wahrunterstellung im Urteil des VG Oldenburg vom 9. Dezember 1999 gestützt hat, das seinerseits die Kontinuität mangels glaubhaft gemachter politischer Betätigung gerade verneint hatte. Würde sich das Berufungsgericht die Überzeugung von der inhaltlichen und zeitlichen Kontinuität der politischen Aktivitäten des Beigeladenen verschaffen können, müsste es weiter prüfen, warum dieser nach Abschluss des Erstverfahrens erstmals unter eigenem Namen veröffentlicht hat. Nur wenn der Beigeladene gute Gründe dafür anführt, hat er die gesetzliche Vermutung widerlegt, dass dies mit Blick auf die begehrte Flüchtlingsanerkennung geschehen ist.
5. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG.
Unterschriften
Dr. Mallmann, Prof. Dr. Dörig, Richter, Prof. Dr. Kraft, Fricke
Fundstellen
Haufe-Index 2141124 |
BVerwGE 2009, 31 |
DÖV 2009, 506 |
InfAuslR 2009, 260 |
VR 2009, 215 |
ZAR 2009, 276 |
AuAS 2009, 118 |
DVBl. 2009, 595 |
NordÖR 2009, 64 |