Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersgrenze für die Einstellung. Schwerbehinderter. gleichgestellter Behinderter. Zusicherung. Rücknahme. Anfechtung. Widerspruchsbescheid. Vorverfahren. Ausnahme. Entbehrlichkeit
Leitsatz (amtlich)
Gegen die Ersetzung eines stattgebenden Widerspruchsbescheids, der eine Zusicherung der begehrten Behördenentscheidung enthält, durch einen ablehnenden Widerspruchsbescheid, der diese Zusicherung wieder aufhebt, muss vor Klageerhebung kein weiteres Widerspruchsverfahren durchgeführt werden.
Im Übrigen Parallelverfahren zu BVerwG 2 C 55.07
Normenkette
VwGO § 68 Abs. 1; SGB IX § 2 Abs. 3; VwVfG NRW §§ 38, 48-49; LVO NW § 6 Abs. 1 S. 6
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 18.07.2007; Aktenzeichen 6 A 4680/04) |
VG Köln (Urteil vom 14.10.2004; Aktenzeichen 3 K 4460/02) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 2007, das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 14. Oktober 2004 sowie der Rücknahme- und Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 14. Mai 2002 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I
Rz. 1
Der am … 1960 geborene Kläger legte nach Studium und Vorbereitungsdienst im Jahr 1995 die Zweite Staatsprüfung für die Lehrämter der Sekundarstufen I und II ab. Mit Wirkung vom 18. August 1997 wurde er auf unbestimmte Dauer als Lehrkraft in den Schuldienst des Landes eingestellt.
Rz. 2
Mit Schreiben vom 5. November 2001 beantragte der Kläger die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe unter Hinweis auf die laufbahnrechtliche Einstellungsgrenze von 43 Jahren für Schwerbehinderte nach § 6 Abs. 1 Satz 6 der Laufbahnverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (LVO NW). Hierzu legte er einen Bescheid des Arbeitsamtes vom 10. Oktober 2001 vor, mit dem er zunächst befristet bis zum 31. Dezember 2006 den schwerbehinderten Menschen gleichgestellt worden war. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 8. März 2002 ab, weil der Kläger nicht als Schwerbehinderter anerkannt sei. Auf den Widerspruch des Klägers hob der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 2002 den Bescheid vom 8. März 2002 auf und sicherte dem Kläger zu, dass er kurzfristig in das Beamtenverhältnis auf Probe übernommen werde. Nach § 6 Abs. 1 Satz 6 LVO NW sei für Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte die Vollendung des 43. Lebensjahres die Altersgrenze. Mit Schreiben vom 24. April 2002 ergänzte der Beklagte, dass die erklärte Übernahmeabsicht unter dem Vorbehalt der gesundheitlichen Eignung stehe.
Rz. 3
Mit Bescheid vom 14. Mai 2002 hob der Beklagte sodann den stattgebenden Widerspruchsbescheid vom 10. April 2002 und die darin enthaltene Zusicherung auf und erließ zugleich einen neuen Widerspruchsbescheid, mit dem er den Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurückwies, der ursprüngliche Widerspruchsbescheid und die darin enthaltene Zusicherung seien rechtswidrig und könnten zurückgenommen werden. Die Ausnahme von der allgemeinen Altersgrenze für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Laufbahnbewerber nach § 6 Abs. 1 Satz 6 LVO NW gelte nur bei der erstmaligen Einstellung in den Schuldienst. In der Rechtsmittelbelehrung des Bescheids wurde der Kläger auf die Möglichkeit eines Widerspruchs gegen die Aufhebung des ersten Widerspruchsbescheids und die darin enthaltene Zusicherung sowie auf die Möglichkeit der Klage gegen den ablehnenden Bescheid vom 8. März 2002 hingewiesen.
Rz. 4
Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 18. Juli 2007 ausgeführt, die zusammen mit der neuen Widerspruchsentscheidung vom 14. Mai 2002 erfolgte Rücknahme des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2002 einschließlich der dortigen Zusicherung sei nicht überprüfbar. Selbst wenn zu seinen Gunsten unterstellt werde, dass der Kläger auch dies zum Gegenstand seiner Klage gemacht habe, sei sie insoweit mangels Vorverfahren unzulässig. Der Kläger habe trotz der zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung gegen den rechtlich selbstständigen Rücknahmebescheid keinen Widerspruch eingelegt. Dass sich der Beklagte auf die Klage auch insoweit eingelassen habe, ändere nichts. Eine Übernahme des Klägers in das Beamtenverhältnis auf Probe sei ausgeschlossen; für ihn gelte die allgemeine Einstellungsgrenze für Lehrerlaufbahnen von 35 Jahren. Gleichgestellte Behinderte würden von der Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 6 LVO NW nicht erfasst. Die allgemeine Altersgrenze von 35 Jahren sei mit höherrangigem Recht vereinbar.
Rz. 5
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 2007 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 14. Oktober 2004 sowie den Rücknahme- und Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 14. Mai 2002 aufzuheben, hilfsweise den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 8. März 2002 und des Widerspruchsbescheids vom 14. Mai 2002 zu verpflichten, ihn in ein Beamtenverhältnis auf Probe zu übernehmen.
Rz. 6
Der Beklagte verteidigt das angegriffene Berufungsurteil. Er beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Rz. 7
Der Vertreter des Bundesinteresses tritt der Revision ebenfalls entgegen.
Rz. 8
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
II
Rz. 9
1. Das Begehren des Klägers ist gemäß § 88 VwGO sachgerecht dahin auszulegen, dass vorrangig der Rücknahme- und Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2002 angefochten und nur hilfsweise eine Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme in ein Beamtenverhältnis begehrt werden soll. Die Aufhebung dieses Bescheides lässt den Widerspruchsbescheid vom 10. April 2002 mit der Zusicherung, den Kläger (unter Vorbehalt der gesundheitlichen Eignung) in das Beamtenverhältnis auf Probe zu übernehmen, wiederaufleben. Damit hat der Kläger sein Rechtsschutzziel bereits erreicht. Mit der Verpflichtungsklage könnte er allenfalls dieselbe Rechtsstellung erreichen. § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht dieser Auslegung nicht entgegen, weil keine Klageänderung vorliegt, sondern nur eine Fassung des Antrags, die dem von Anfang an verfolgten Klagebegehren entspricht. Das Klagebegehren hat bei verständiger Würdigung bereits erstinstanzlich ungeachtet der als Verpflichtungsklage formulierten Anträge auch die Anfechtung der Rücknahme der Zusicherung zum Gegenstand gehabt; im Übrigen schließen die Anträge ausdrücklich die Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 14. Mai 2002 ein, der die Rücknahme der Zusicherung enthält. Die Rechtmäßigkeit der Rücknahme ist zwischen den Beteiligten demgemäß im Verfahren erörtert und vom Verwaltungsgericht im Einzelnen geprüft worden. Sie ist, was das Berufungsgericht lediglich zu Gunsten des Klägers unterstellt hat, fraglos Streitgegenstand.
Rz. 10
2. Die Revision hat Erfolg. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es die Anfechtungsklage mangels Vorverfahren als unzulässig angesehen hat. Richtigerweise hätte das Berufungsgericht der Anfechtungsklage stattgeben müssen; denn sie ist zulässig und begründet.
Rz. 11
a) Das Erfordernis eines Vorverfahrens nach § 68 Abs. 1 VwGO steht der Zulässigkeit der Anfechtungsklage nicht entgegen. Die gegenteilige Ansicht des Berufungsgerichts beruht auf einer künstlichen Trennung der Behördenentscheidung vom 14. Mai 2002 in eine Rücknahme der Zusicherung und einen neuen Widerspruchsbescheid. Tatsächlich fällt aber beides in eins. Der Beklagte wollte den stattgebenden durch einen ablehnenden Widerspruchsbescheid ersetzen und hat deshalb eine neue Entscheidung getroffen, die notwendigerweise so ausfiel, dass der alte Widerspruchsbescheid mit der dortigen Zusicherung aufgehoben und ein neuer Widerspruchsbescheid erlassen wurde. Gegen die damit einhergehende Beschwer – die Beseitigung der mit der Zusicherung erlangten Rechtsposition – findet kein weiteres Widerspruchsverfahren statt (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO). Unabhängig davon wäre ein Vorverfahren hier nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus Gründen der Prozessökonomie entbehrlich, weil sich der Beklagte, vertreten durch die sowohl Ausgangs- als auch Widerspruchsbehörde, im Verfahren auf die Sache insgesamt eingelassen und zu erkennen gegeben hat, dass er die Rücknahme für rechtmäßig hält. Die gespaltene Rechtsbehelfsbelehrung in dem Bescheid vom 14. Mai 2002 vermag daran nichts zu ändern.
Rz. 12
b) Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rz. 13
Die Aufhebung der Zusicherung, den Kläger vorbehaltlich einer gesundheitlichen Eignung in ein Beamtenverhältnis auf Probe zu übernehmen, kann nicht auf § 38 Abs. 2, § 48 VwVfG NRW gestützt werden. Die Rücknahme einer Zusicherung nach diesen Vorschriften setzt ihre Rechtswidrigkeit voraus. Die Zusicherung ist indes nicht rechtswidrig. Sie verstößt entgegen der Ansicht des Beklagten nicht gegen § 6 Abs. 1 Satz 6 LVO NW, sondern geht zutreffend davon aus, dass die besondere Altersgrenze von 43 Jahren für schwerbehinderte Laufbahnbewerber auch für gleichgestellte Behinderte wie den Kläger gilt. Die im Bescheid vom 14. Mai 2002 vertretene Auffassung des Beklagten, die Altersgrenze gelte auch für gleichgestellte Behinderte, aber nur bei der erstmaligen Einstellung, also nicht für Beamtenbewerber, die bereits im Dienste des Beklagten stehen, ist ebenso unzutreffend wie die Ansicht des Berufungsgerichts, die Vorschrift gelte überhaupt nicht für gleichgestellte Behinderte. Sie findet über § 2 Abs. 3 SGB IX und die Rechtswirkungen einer erfolgten Gleichstellung auch auf gleichgestellte Behinderte Anwendung. Da die Vorschrift eine eigenständige Altersgrenze normiert, die an keine weitere Voraussetzung als das Vorliegen der Behinderung geknüpft ist, kommt es auch nicht darauf an, ob der Laufbahnbewerber bereits als Tarifbeschäftigter im Dienste des Beklagten steht und wann die Behinderung oder Gleichstellung eingetreten ist (vgl. dazu im Einzelnen das Urteil des Senats vom 19. Februar 2009 – BVerwG 2 C 55.07 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).
Rz. 14
Die Aufhebung der Zusicherung kann nicht ersatzweise auf § 49 VwVfG NRW gestützt werden, weil die Voraussetzungen für den Widerruf eines rechtmäßigen begünstigen Verwaltungsaktes nach Absatz 2 der Vorschrift nicht vorliegen. Gleiches gilt für § 38 Abs. 3 VwVfG NRW.
Rz. 15
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Herbert, Prof. Dr. Kugele, Dr. Heitz, Thomsen, Buchheister
Fundstellen
Haufe-Index 2166261 |
VR 2009, 287 |