Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennungserfordernis. Angemessenheit. Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs. Beihilfe. Beihilfeausschluss. Beihilfesystem. Beschränkungsverbot. Dienstleistungsverkehr. Differenzierung im Beihilfesystem. Ermächtigungsgrundlage. Erschwerung einer Leistung. Erschwerungsverbot. freie medizinische Tätigkeit. Freizügigkeits-Abkommen der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten mit der Schweiz. Fürsorgepflicht. Gemeinschaftsrecht. gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Freizügigkeit. gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit. Gleichheitsgrundsatz. Kostenersparnis. Leistungsausschluss. medizinische Leistungen. Mischsystem. Normenkontrollverfahren. Rechtsgrundlage. Sachgesetzlichkeit. Territorialitätsprinzip. Verordnungsermächtigung. Verwaltungsvereinfachung
Leitsatz (amtlich)
Der Ausschluss der Beihilfe für anlässlich einer privaten Reise in der Schweiz entstandene notwendige medizinische Aufwendungen in der Beihilfeverordnung eines Landes verstößt gegen Bundesrecht.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 80; EG-Vertrag (konsolidierte Fassung) Art. 46; EG-Vertrag (konsolidierte Fassung) Art. 49; EG-Vertrag (konsolidierte Fassung) Art. 50; LBG Schl.-H. § 100; BhVO Schl.-H. § 8 Abs. 4 Nr. 8
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Urteil vom 30.03.2007; Aktenzeichen 3 KN 1/06) |
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. März 2007 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass § 8 Abs. 4 Nr. 8 der Landesverordnung über die Gewährung von Beihilfen an Beamtinnen und Beamte in Schleswig-Holstein in der Fassung vom 16. Mai 2006 (GVOBl S. 85) insoweit nichtig ist, als darin Aufwendungen anlässlich privater Reisen für Behandlungen in der Schweiz nur dann beihilfefähig sind, wenn sie vor Behandlungsbeginn von der Festsetzungsstelle anerkannt worden sind.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I
Der Antragsteller ist beihilfeberechtigter Versorgungsempfänger des Landes Schleswig-Holstein. Anlässlich einer privaten Urlaubsreise in die Schweiz entstanden ihm für sich und seine Ehefrau Aufwendungen für ärztliche Behandlungen. Unter Hinweis auf entgegenstehende Vorschriften der Beihilfeverordnung lehnte der Antragsgegner die Gewährung einer Beihilfe zu diesen Aufwendungen ab. Gegen die Ablehnung hat der Antragsteller Klage erhoben, über die bisher noch nicht entschieden worden ist.
Mit seinem Normenkontrollantrag macht der Antragsteller geltend, der Ausschluss der Beihilfe für krankheitsbedingte Aufwendungen in der Schweiz verstoße gegen Bundes-, Landes- und Gemeinschaftsrecht, nämlich gegen die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, gegen Art. 33 Abs. 5 GG, gegen Art. 3 Abs. 1 GG und gegen die gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Freizügigkeit.
Das Oberverwaltungsgericht als Normenkontrollgericht hat den Antrag als unbegründet abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Nach § 8 Abs. 4 Nr. 8 BhVO seien Aufwendungen für Behandlungen außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union grundsätzlich nicht beihilfefähig. Der Ausschluss sei von der Verordnungsermächtigung des nunmehr geltenden § 100 Abs. 1 LBG gedeckt. Zwar ermächtige diese Vorschrift nicht ausdrücklich dazu, Aufwendungen für Behandlungen außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union anlässlich privater Reisen von der Beihilfefähigkeit auszunehmen. Dessen bedürfe es aber nicht, denn diese Einschränkung verstehe sich von selbst. Aus dem im Völkerrecht wurzelnden Territorialitätsprinzip ergebe sich die grundsätzliche Beschränkung der Anwendung deutschen öffentlichen Rechts auf das deutsche Staatsgebiet. Zwar sei es zulässig, innerstaatliche Leistungen an Auslandssachverhalte anzuknüpfen, doch bedürfe es dafür einer gesetzlichen Regelung, wie sie sich beispielsweise in § 4 SGB IV finde. Eine vergleichbare Regelung finde sich weder in dem die Länder bindenden Teil des Beamtenrechtsrahmengesetzes noch im Landesbeamtengesetz.
Soweit Aufwendungen beihilfefähig seien, die außerhalb Deutschlands, aber innerhalb der Europäischen Union entstanden seien, handele es sich um eine positive Diskriminierung, die im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit sachgerecht und angemessen sei. Die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht sei damit erfüllt. Sie gebiete keinen weltweiten Schutz durch Beihilfe im Krankheitsfall.
Zwar gebe es einen Wertungswiderspruch zwischen den Freiheiten, die in Art. 5 und 23 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten und der Schweiz über Freizügigkeit gewährleistet seien. Der Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit widerspreche es, wenn die Kosten der von deutschen Beamten auf diese Weise in Anspruch genommenen Dienstleistung landesrechtlich für beihilfeunfähig erklärt würden. Gleichwohl gebe es hier keine nach Art. 31 GG zu lösende Kollision zwischen Bundes- und Landesrecht, weil die im Abkommen gewährleistete Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit einerseits und ein Kostenausgleich aus öffentlichen Kassen andererseits zweierlei seien.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Antragstellers.
Er beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. März 2007 aufzuheben und festzustellen, dass § 8 Abs. 4 Nr. 8 der Landesverordnung über die Gewährung von Beihilfen an Beamtinnen und Beamte in Schleswig-Holstein in der Fassung vom 16. Mai 2006 (GVOBl S. 85) wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 31 und Art. 80 Abs. 1 GG nichtig ist.
Der Antragsgegner beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat Erfolg. Der gemäß § 47 VwGO i. V. m. § 5 AGVwGO Schleswig-Holstein statthafte und auch sonst zulässige Normenkontrollantrag ist begründet. Die angegriffene Norm verstößt gegen höherrangiges Landesrecht und gegen Bundesrecht. Sie ist daher nichtig.
§ 8 Abs. 4 Nr. 8 der Beihilfeverordnung des Landes Schleswig-Holstein vom 16. Mai 2006 (GVOBl S. 85) – BhVO – hat folgenden Wortlaut:
…
(4) Nicht beihilfefähig sind
…
8. Aufwendungen für Behandlungen außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union anlässlich privater Reisen, es sei denn, diese Aufwendungen sind medizinisch notwendig und vor Behandlungsbeginn von der Festsetzungsstelle anerkannt worden.
Nach dem eindeutigen Wortlaut sind in der Schweiz entstandene notwendige Aufwendungen nicht beihilfefähig, wenn sie nicht vor Behandlungsbeginn von der Festsetzungsstelle anerkannt worden sind. Die Schweiz ist kein Mitgliedstaat der Europäischen Union.
1. Der Beihilfeausschluss verstößt gegen revisibles Landesrecht.
Die Beihilfeverordnung und damit auch die Ausschlussklausel ist auf der Rechtsgrundlage des § 100 des Beamtengesetzes für das Land Schleswig-Holstein in der Fassung vom 14. Dezember 2006 (GVOBl S. 309) – LBG – erlassen worden. Diese Bestimmung hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
§ 100
(1) Die Landesregierung regelt durch Verordnung die Gewährung von Beihilfen an die Beamtinnen und Beamten und Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen, bei Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten und bei Schutzimpfungen, insbesondere Art und Umfang der beihilfefähigen Aufwendungen und Maßnahmen, das Verfahren, das Zusammentreffen mehrerer Beihilfeberechtigungen und die Begrenzung der Beihilfen bei von dritter Seite zustehenden Leistungen. Die Beihilfe ist eine die Eigenvorsorge ergänzende Fürsorgeleistung.
(2) …
(3) Beihilfefähig sind grundsätzlich nur Maßnahmen, die medizinisch notwendig und in ihrer Wirksamkeit nachgewiesen sind, bei denen die Leistungserbringung nach einer wissenschaftlich allgemein anerkannten Methode erfolgt und die wirtschaftlich angemessen sind. Daneben kann die Beihilfefähigkeit vom Vorliegen bestimmter medizinischer Indikationen abhängig gemacht werden.
…
(6) Beihilfe wird auch zu den Aufwendungen berücksichtigungsfähiger Angehöriger gewährt. …
…
(8) In der Verordnung nach Absatz 1 kann vorgesehen werden, dass die errechnete Beihilfe durch jährliche, unter sozialen Gesichtspunkten und nach Besoldungsgruppen zu staffelnde pauschalierte Beträge (Selbstbehalte) gemindert wird; dabei können mehrere Besoldungsgruppen zusammengefasst werden. Die Selbstbehalte dürfen 1,0 % des jeweiligen jährlichen Grundgehalts grundsätzlich nicht übersteigen.
Von dieser Ermächtigungsgrundlage ist der Ausschluss in § 8 Abs. 4 Nr. 8 BhVO nicht gedeckt. Gemäß Art. 38 der Landesverfassung Schleswig-Holstein (er entspricht Art. 80 GG) ist in der Ermächtigungsgrundlage Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung anzugeben. Nach der Rechtsprechung des Senats hat der Gesetzgeber im Beihilferecht u. a. festzulegen, nach welchen Grundsätzen Leistungen erbracht und bemessen oder ausgeschlossen werden (vgl. Urteil vom 17. Juni 2004 – BVerwG 2 C 50.02 – BVerwGE 121, 103 ≪110≫ = Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 123). Regelungen, die einen Leistungsausschluss oder jedenfalls die erhebliche Erschwerung einer Leistung zum Gegenstand haben, bedürfen daher einer ausdrücklichen gesetzlichen Verordnungsermächtigung. Welche Leistungsausschlüsse oder Einschränkungen danach in Schleswig-Holstein durch Verordnung geregelt werden dürfen, ergibt sich aus § 100 Abs. 1, 3 und 8 LBG. Keine dieser Bestimmungen besagt ausdrücklich, dass die Beihilfefähigkeit auf Aufwendungen beschränkt werden kann, die innerhalb der Europäischen Union entstanden sind.
Das Oberverwaltungsgericht hält eine solche ausdrückliche Ermächtigung nicht für erforderlich, weil sich diese Einschränkung von selbst verstehe, sich nämlich aus dem Territorialitätsprinzip ergebe. Dem ist nicht zu folgen.
Das Territorialitätsprinzip besagt, dass staatliche Hoheitsakte auf dem Gebiet eines anderen Staates nur mit dessen Zustimmung erlaubt sind (BVerfG, Urteil vom 24. Juli 1962 – 2 BvL 15, 16/61 – BVerfGE 14, 221 ≪237≫). Länder sind in ihrer Verwaltungshoheit grundsätzlich auf ihr eigenes Gebiet beschränkt (Urteil vom 30. Januar 2002 – BVerwG 9 A 20.01 – BVerwGE 115, 373 ≪384≫ = Buchholz 310 § 44a VwGO Nr. 9). Das Prinzip greift hier nicht ein, weil mit der Gewährung oder Versagung von Beihilfe auf der Grundlage der Schleswig-Holsteinischen Beihilfeverordnung weder hoheitlich noch in sonstiger Weise in die Rechtsordnung der Schweiz eingegriffen wird. Das Territorialitätsprinzip hindert den deutschen Staat insbesondere nicht daran, an ein im Ausland stattfindendes Ereignis innerstaatliche Rechtsfolgen zu knüpfen und beispielsweise Unfallopfer auch für Unfälle zu entschädigen, die sich außerhalb seines Territoriums ereignet haben (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Juli 1962 a. a. O.). Die durch nationales Recht zu treffende Entscheidung, ob die einem deutschen (schleswig-holsteinischen) Beamten entstandenen Aufwendungen nur dann beihilfefähig sind, wenn sie im Inland (und im EU-Raum) entstanden sind, stellt keine Ausübung deutscher Hoheitsgewalt gegenüber anderen Staaten dar.
Die Einschränkung ergibt sich auch nicht als bloße Ableitung und alternativlose Konkretisierung des positivrechtlich verankerten Fürsorgegrundsatzes, der innerhalb des geltenden Beihilfesystems besagt, dass Aufwendungen in Krankheitsfällen beihilfefähig sind, soweit sie notwendig und angemessen sind (§ 100 Abs. 3 LBG). Da die Fürsorgepflicht des Dienstherrn an die Person des Beamten oder Versorgungsempfängers und nicht an dessen Aufenthalt anknüpft, ist die territoriale Begrenzung einer medizinisch notwendigen und angemessenen Leistung jedenfalls nicht im Fürsorgegrundsatz angelegt.
Die Einschränkung ist auch nicht aus dem gesetzlich verankerten Gesichtspunkt der Angemessenheit ableitbar. Zwar hat der Dienstherr ein berechtigtes Interesse daran, die Angemessenheit der Kosten im Einzelfall nachprüfen zu können, was bei ärztlichen Behandlungen im Ausland gelegentlich mit Schwierigkeiten verbunden sein mag. Diesem Bedürfnis entsprechen die Beihilfevorschriften aber bereits damit, dass der Beihilfeberechtigte die Angemessenheit im Zweifelsfall darzulegen und zu beweisen hat.
2. Die Einschränkung verletzt auch den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Da die Beihilfe ihre Grundlage in der Fürsorgepflicht des Dienstherrn hat, ist diese bei der Prüfung eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz in ihrem verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich einzubeziehen. Die vom Normgeber für eine Differenzierung im Beihilfesystem angeführten Gründe müssen hiervor Bestand haben. Solange der Gesetzgeber am gegenwärtig praktizierten “Mischsystem” aus privat finanzierter Vorsorge und ergänzender Beihilfe festhält, ist der allgemeine Gleichheitssatz dann verletzt, wenn eine bestimmte Regelung im beihilferechtlichen Sinne notwendige und angemessene Aufwendungen von der Beihilfe ausschließt und dabei die im Beihilfesystem angelegte Sachgesetzlichkeit ohne zureichenden Grund verlässt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1992 – 1 BvL 29/87 – BVerfGE 85, 238 ≪247≫; BVerwG, Urteile vom 28. April 2005 – BVerwG 2 C 1.04 – BVerwGE 123, 308 ≪313 f.≫ = Buchholz 240 § 72a BBesG Nr. 1 und vom 28. Mai 2008 – BVerwG 2 C 12.07 – Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 30 Rn. 23). So ist es hier.
Die Ausschlussklausel des § 8 Abs. 4 Nr. 8 BhVO verletzt ohne zureichenden Grund den im Beihilfesystem normativ verankerten Grundsatz, dass Beihilfe zu gewähren ist, soweit die Kosten der Behandlung notwendig und angemessen sind (§ 100 Abs. 3 LBG). Hier kommt nur eine normative Konkretisierung des Begriffs der Angemessenheit in Betracht, die der Antragsgegner unter zwei Einzelaspekten, nämlich der Kostenersparnis und der Verwaltungsvereinfachung, für gerechtfertigt hält. Beide Gesichtspunkte halten einer am Grundsatz der Fürsorge orientierten Nachprüfung nicht stand.
Solange der deutsche Beamte und Versorgungsempfänger nach nationalem Recht berechtigt ist, weltweit zu reisen, kann ihm auch weltweit etwas zustoßen, was unmittelbarer medizinischer Behandlung bedarf. Das Schutzbedürfnis des deutschen Beihilfeberechtigten, dem Fürsorge zu gewähren ist, hängt nicht davon ab, in welchem Land es akut geworden ist. Der damit im Prinzip territorial nicht begrenzte Fürsorgeanspruch des Beihilfeberechtigten steht der Absicht des Antragsgegners entgegen, für im Ausland entstandene Behandlungsaufwendungen grundsätzlich keine Beihilfe zu leisten und von diesem Grundsatz nur insoweit abzusehen, als Gemeinschaftsrecht dies gebietet. Die angegriffene Bestimmung führt dazu, dass Beihilfeleistungen vollständig ausgeschlossen sind, wenn im Ausland außerhalb der Europäischen Union ein spontaner Behandlungsbedarf entsteht, der vor Antritt der Reise weder angemeldet noch genehmigt werden konnte. Soweit in solchen Fällen eine Kostenbegrenzung überhaupt zu rechtfertigen ist, ist sie durch die in anderen Bundesländern und im Bund gebräuchliche Regelung zu erreichen, dass im Ausland entstandene Aufwendungen nur in der Höhe beihilfefähig sind, in der sie in Deutschland entstanden und beihilfefähig wären (vgl. § 11 Abs. 1 der am 14. Februar 2009 in Kraft getretenen Bundesbeihilfeverordnung vom 13. Februar 2009 – BGBl I S. 326).
Der Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung ist ebenfalls nicht tragfähig. Das nach § 8 Abs. 4 Nr. 8 BhVO erforderliche Anerkennungsverfahren macht bei jedem Auslandaufenthalt eines Beihilfeberechtigten die Beihilfefähigkeit eventueller Aufwendungen von einem vor Antritt der Reise gestellten und zu genehmigenden Antrag abhängig, welcher sich wegen der Unvorhersehbarkeit möglichen medizinischen Behandlungsbedarfs pauschal auf alle denkbaren Erkrankungen und Leiden erstrecken müsste.
3. Die Ausschlussregelung verletzt auch das kraft Ratifikation durch den Deutschen Bundestag durch Gesetz vom 2. September 2001 (BGBl II S. 810) in den Rang einfachen Bundesrechts überführte Abkommen der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 21. Juni 1999 (im Folgenden: “Abkommen”), weil sie den freien Dienstleistungsverkehr zwischen Deutschland und der Schweiz behindert. Auch dieser Verstoß führt gemäß Art. 31 GG zur Nichtigkeit der angegriffenen Bestimmung.
a) Das Abkommen bestimmt in Art. 1 Buchst. b als sein Ziel u. a. die “Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien, insbesondere (die) Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen”. Nach Art. 5 Abs. 1 wird einem Dienstleistungserbringer gemäß Anhang I das Recht eingeräumt, Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu erbringen, deren tatsächliche Dauer 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet. Nach Absatz 3 dieser Bestimmung wird natürlichen Personen, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft oder der Schweiz sind und sich nur als Empfänger einer Dienstleistung in das Hoheitsgebiet einer Vertragspartei begeben, das Einreise- und Aufenthaltsrecht eingeräumt. Nach Absatz 4 werden die in diesem Artikel genannten Rechte gemäß den Bestimmungen der Anhänge I, II und III eingeräumt.
Anhang I bestimmt in Art. 17 Buchst. a, dass hinsichtlich der Erbringung von Dienstleistungen gemäß Art. 5 dieses Abkommens Beschränkungen grenzüberschreitender Dienstleistungen im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, deren Dauer 90 tatsächliche Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet, untersagt sind.
Medizinische Leistungen sind Dienstleistungen im Sinne des Abkommens. Was unter Dienstleistung zu verstehen ist, ist zwar weder im Abkommen noch im Ratifizierungsgesetz definiert, ergibt sich jedoch aus dem EG-Vertrag, auf den das Abkommen in seiner Einleitungsformel (“entschlossen, diese Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen”) Bezug nimmt. Art. 49 EG gewährleistet den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Gemeinschaft. Art. 50 EG beschreibt den Begriff der Dienstleistung als “Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Als Dienstleistungen gelten insbesondere … freiberufliche Tätigkeiten”, worunter auch die Tätigkeit der Ärzte fällt. Nach ständiger Rechtsprechung fallen medizinische Tätigkeiten unter Art. 50 EG, ohne dass danach zu unterscheiden ist, ob die Behandlung im klinischen Rahmen oder außerhalb davon erfolgt (EuGH, Urteile vom 31. Januar 1984 in den Rechtssachen 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 16, vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland, Slg. 1991, I-4685, Rn. 18 und vom 28. April 1998 – Rs. C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 29 und 51). Diese Rechtsprechung wird auch von der späteren, für die Auslegung des 1999 geschlossenen Abkommens allerdings nicht mehr maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH fortgeführt (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 – C 368/98 – DVBl 2001, 1509 ≪1511≫ und C 157/99 – DVBl 2001, 1512 ≪1514≫ jeweils m. w. N.). Bei ärztlichen Dienstleistungen, die in der Schweiz gegenüber einem deutschen Staatsangehörigen erbracht worden sind, handelt es sich um grenzüberschreitende Dienstleistungen.
b) Als Beschränkung einer Dienstleistung ist es anzusehen, wenn die Erstattung ihrer Kosten einer ungünstigeren Regelung unterliegt als die Erstattung der Kosten einer inländischen Dienstleistung. § 8 Abs. 4 Nr. 8 BhVO stellt eine solche Beschränkung dar.
In der Rechtsprechung des Senats ist anerkannt, dass eine beihilferechtliche Vorschrift, welche die Beihilfe bei Heilkuren in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union von gesteigerten Anforderungen abhängig macht, gegen Art. 49 EG über die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs verstößt (vgl. Urteil vom 23. Mai 2002 – BVerwG 2 C 35.00 – BVerwGE 116, 269 ≪271≫ = Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 23). Gegen Art. 49 EG verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs jede nationale Regelung, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaates erschwert (EuGH, Urteile vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-381/93, Kommission/Frankreich, Slg. 1994, I-5145, Rn. 17 und vom 28. April 1998 a. a. O. Rn. 33; ebenso EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 a. a. O. S. 1511 und 1514 jeweils m. w. N.; stRspr). Die Dienstleistungsfreiheit schließt die Befugnis der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer medizinischen Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.
Die hier in Rede stehende Einschränkung der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für ärztliche Tätigkeiten behindert den freien Dienstleistungsverkehr. Sie nimmt dem Beihilfeberechtigten zwar nicht die Möglichkeit, Dienstleistungen in oder aus der Schweiz entgegenzunehmen. Doch macht sie die (teilweise) Erstattung der dadurch verursachten notwendigen Kosten davon abhängig, dass die medizinische Behandlung in der Schweiz vor Behandlungsbeginn von der Festsetzungsstelle anerkannt ist. Das Anerkennungserfordernis stellt sowohl für den Beihilfeberechtigten als auch für den medizinischen Leistungserbringer in der Schweiz eine erhebliche, oft unerfüllbare Hürde und damit eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, weil sie Beihilfeberechtigte davon abhält oder zumindest davon abhalten kann, medizinische Behandlungen in der Schweiz durchführen zu lassen. Das Erfordernis führt in allen Fällen einer bei Reiseantritt unvorhersehbaren Erkrankung zu einem Ausschluss der Beihilfegewährung für deren Behandlung in der Schweiz. Dies gilt selbst in Fällen, in denen die Behandlung keinen Aufschub duldet (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 a. a. O. S. 1511 f. und 1515 jeweils m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 23. Mai 2002 a. a. O. S. 271).
c) Diese Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit lässt sich mit den Argumenten des Antragsgegners nicht rechtfertigen. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen vermag (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 a. a. O. S. 1512 und 1515 jeweils m. w. N.). Der Europäische Gerichtshof hat ebenfalls anerkannt, dass das Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten, zwar eng mit der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit verbunden ist, aber auch zu den Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nach Art. 46 EG zählen kann, soweit es zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzes beiträgt (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 a. a. O. S. 1512 und 1515 jeweils m. w. N.). Schließlich hat der Europäische Gerichtshof auch entschieden, dass Art. 46 EG es den Mitgliedstaaten erlaubt, den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der medizinischen Versorgung einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde für die Gesundheit oder selbst das Überleben ihrer Bevölkerung erforderlich ist (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 a. a. O. S. 1512 und 1515 jeweils m. w. N.). Keiner der genannten Gründe kann jedoch den Ausschluss der Beihilfefähigkeit für normale ärztliche Behandlungen in der Schweiz rechtfertigen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Herbert, Prof. Dr. Kugele, Groepper, Dr. Heitz, Dr. Burmeister
Fundstellen
ZBR 2009, 383 |
DÖD 2009, 190 |
DÖV 2009, 503 |
MedR 2009, 338 |
PersV 2010, 117 |
NPA 2010 |
NordÖR 2009, 268 |
Städtetag 2009, 46 |