rechtskräftig

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausbildungsförderung für Kinder von EG-Wanderarbeitnehmern. Ausbildungsförderung für Studium im Ausland. Freizügigkeit für Kinder von EG-Wanderarbeitnehmern. Unterhaltsgewährung

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Freizügigkeit eines Verwandten nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG reicht es aus, daß der seinerseits nach § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG Freizügigkeit genießende Ausländer ihm tatsächlich Leistungen zukommen läßt, die vom Ansatz her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte und regelmäßige Unterstützung mit einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken.

 

Orientierungssatz

Parallelentscheidung BVerwG 11. Senat, 20. Oktober 1993, 11 C 9.93

 

Normenkette

EWGV 1612/68 Art. 10 Abs. 1; BAföG § 5 Abs. 2 Fassung: 1990-05-22, § 8 Abs. 1 Fassung: 1990-05-22; AufenthG/EWG § 1 Abs. 2

 

Verfahrensgang

VG Oldenburg (Entscheidung vom 05.11.1992; Aktenzeichen 5 A 3067/90)

 

Tatbestand

Rz. 1

Die 1967 in der Bundesrepublik Deutschland geborene Klägerin ist niederländische Staatsangehörige. Sie wohnte seit ihrer Geburt bei ihren Eltern, die gleichfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzen und sich seit 1963 in Deutschland aufhalten. Der Vater der Klägerin ist als selbständiger Landwirt tätig. Der Klägerin und ihren Eltern ist eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden.

Rz. 2

Nachdem sie die – deutsche – allgemeine Hochschulreife 1987 erlangt hatte, nahm die Klägerin zum Wintersemester 1987/88 ein Lehramtsstudium mit den Fächern Biologie und Englisch an der Universität O. auf. Für diese Ausbildung gewährte das Studentenwerk ihr zuletzt für den Bewilligungszeitraum Oktober 1989 bis September 1990 Förderung in Höhe von monatlich 399 DM, wobei vom Einkommen der Eltern monatlich 355 DM angerechnet wurden.

Rz. 3

m März 1990 beantragte die Klägerin die Gewährung von Ausbildungsförderung für die Fortsetzung ihres Studiums im Fach Anglistik an einer Hochschule in Großbritannien im Zeitraum Oktober 1990 bis März 1991. Sie gab an, ihre Eltern würden sie auch während des Aufenthalts dort mit 300 DM monatlich unterstützen. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 8. Mai 1990 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, für EG-Angehörige komme in derartigen Fällen Ausbildungsförderung nur in Betracht, wenn sie von ihren Eltern Unterhalt in solcher Höhe erhielten, daß sie auf die Gewährung von Sozialleistungen nicht mehr angewiesen seien. Das Widerspruchsverfahren dagegen blieb erfolglos.

Rz. 4

Aufgrund einer von der Klägerin erwirkten einstweiligen Anordnung leistete der Beklagte der Klägerin für den Studienaufenthalt in Großbritannien monatlich eine Förderung von 949 DM. Im erstinstanzlichen Klageverfahren hatte die Klägerin gleichfalls Erfolg. Zur Begründung ist im Urteil vom 5. November 1992 im wesentlichen ausgeführt, nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 Halbs. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 BAföG werde Ausbildungsförderung für eine Ausbildung außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes gewährt, wenn der Auszubildende nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG als Kind Freizügigkeit genieße oder als Kind verbleibeberechtigt sei. Die erste Voraussetzung liege bei der Klägerin vor. Ihr werde gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG als Familienangehöriger ihres selbständig erwerbstätigen Vaters Freizügigkeit gewährt. Ihr Vater habe ihr monatlich Unterstützung in Höhe von 300 DM zukommen lassen.

Rz. 5

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene und vom Beklagten mit Zustimmung der Klägerin eingelegte Revision. Der Beklagte hält an seiner Auffassung fest, die Unterhaltsleistungen müßten, um Freizügigkeit zu begründen, so hoch sein, daß das Kind eines EG-Ausländers auf Sozialleistungen nicht mehr angewiesen sei. Die Sozialeinrichtungen der Mitgliedstaaten sollten nicht mit den Kosten des Aufenthalts unversorgter, über 21 Jahre alter Angehöriger belastet werden.

Rz. 6

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.

Rz. 7

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und tritt der Rechtsauffassung des Beklagten bei.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 8

Die nach § 134 VwGO zulässige Revision ist unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Annahme, nach dem festgestellten Sachverhalt stehe der Klägerin aufgrund der Regelung des § 5 Abs. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 BAföG – hier anzuwenden in der Fassung des 12. BAföG-Änderungsgesetzes vom 22. Mai 1990 (BGBl I S. 936) – ein Anspruch gegen den Beklagten auf Ausbildungsförderung für ihr Studium in Großbritannien von Oktober 1990 bis März 1991 zu. Darin liegt kein Verstoß gegen revisibles Recht.

Rz. 9

Nach der genannten Regelung hängt der geltend gemachte Anspruch davon ab, daß der Klägerin im betreffenden Bewilligungszeitraum nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG als Kind Freizügigkeit gewährt wurde oder sie danach als Kind verbleibeberechtigt war. Maßgeblich ist dabei – wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat – die objektive Rechtslage nach dem Aufenthaltsgesetz/ EWG. Dem Förderungsanspruch der Klägerin steht folglich nicht entgegen, daß der Beklagte entgegen Tz. 8.1.12 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföGVwV 1986 – GMBl 1986 S. 397) nicht zur Ergänzung der von der Klägerin vorgelegten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bei der zuständigen Ausländerbehörde angefragt hat, ob die Klägerin als Kind ein abgeleitetes Recht nach § 1 Abs. 2 AufenthG/EWG besitzt.

Rz. 10

Der Klägerin wurde im Bewilligungszeitraum Oktober 1990 bis März 1991 gemäß § 2 Abs. 2 AufenthG/EWG Freizügigkeit als Kind gewährt. Ihr Vater genoß nämlich als selbständiger Landwirt Freizügigkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG/EWG. Nach der Legaldefinition in § 1 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EWG war die Klägerin als Familienangehörige ihres Vaters anzusehen. Da sie bei Beginn des Bewilligungszeitraums am 21. Oktober 1990 das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte, setzt dies gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG voraus, daß ihr während des Bewilligungszeitraums durch ihren Vater Unterhalt gewährt wurde. Dies hat das Verwaltungsgericht auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu Recht bejaht.

Rz. 11

Die Auffassung der Revision, Unterhalt im Sinne dieser Vorschrift werde nur gewährt, wenn der Verwandte nicht daneben noch auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen für die Bestreitung seines Lebensunterhalts angewiesen sei (so auch Rothe/Blanke, BAföG, 4. Aufl. 1989, § 8 Rn. 28.1), steht mit der Rechtslage nicht im Einklang. Der Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG, der das Wort „Unterhalt” ohne bestimmten Artikel und ohne Zusatz verwendet, veranlaßt eine derart einschränkende Auslegung nicht. Im Regelungszusammenhang mit § 8 Abs. 1 Nr. 5 BAföG liefe diese Auslegung auf das widersprüchliche Ergebnis hinaus, daß die von entsprechender Bedürftigkeit abhängige Gewährung von Ausbildungsförderung dem Betroffenen die Eigenschaft eines Familienangehörigen, dem Unterhalt gewährt wird, nehmen und folglich entweder die Streichung der Ausbildungsförderung selbst oder sogar den Verlust des Aufenthaltsrechts rechtfertigen könnte.

Rz. 12

Demgegenüber ergibt sich schon aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, daß sie so nicht verstanden werden darf. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG in der ursprünglichen Fassung vom 22. Juli 1969 (BGBl I S. 927) war Voraussetzung für den Aufenthaltsanspruch der Verwandten eines Erwerbstätigen im Sinne von § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG, daß dieser oder sein Ehegatte ihnen den … v o l l e n … Unterhalt gewährt. Die Worte „den vollen” waren in der entsprechenden Regelung des Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABL Nr. L 257 S. 2) – VO 1612/68 – jedoch nicht enthalten und wurden deshalb durch Änderungsgesetz vom 17. April 1974 (BGBl I S. 948) gestrichen. Daß der deutsche Gesetzgeber mit dem Änderungsgesetz lediglich eine „formelle Divergenz” zu Art. 10 Abs. 1 Buchst. b VO 1612/68 beseitigen und folglich die an die Unterhaltsgewährung zu knüpfenden Maßstäbe materiell nicht verändern wollte (vgl. BT-Drucks. 7/1366 S. 5), ändert nichts daran, daß eine Vereinheitlichung mit dem europäischen Recht bezweckt war.

Rz. 13

Zur Auslegung des für diese Anpassung an das Gemeinschaftsrecht maßgeblichen Begriffs eines Verwandten, dem Unterhalt gewährt wird, in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b VO 1612/68 hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entschieden, diese Eigenschaft sei ungeachtet der Gewährung des Existenzminimums aus öffentlichen Mitteln zu beurteilen und setze auch keinen Unterhaltsanspruch voraus, sondern ergebe sich aus einer tatsächlichen Situation – der Unterstützung durch den Arbeitnehmer –, ohne daß es erforderlich sei, die Gründe für die Inanspruchnahme dieser Unterstützung zu ermitteln (EuGH, Urteil vom 18. Juni 1987 – Rs 316/85 –, Lebon, ≪Slg. 1987, 2811/2838≫). Steht damit dem Status eines EG-Angehörigen als Familienmitglied, dem Unterhalt von seinen Eltern gewährt wird, nicht entgegen, daß er Sozialhilfeleistungen erhält, so ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt, daß die Unterhaltsgewährung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b VO 1612/68 nicht nur dann angenommen werden kann, wenn der Bedürftige daneben auf keine Sozialleistungen angewiesen ist. Danach muß es auch für die Freizügigkeit eines Verwandten nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG ausreichen, daß der seinerseits nach § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG Freizügigkeit genießende Ausländer ihm tatsächlich Leistungen zukommen läßt, die vom Ansatz her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte und regelmäßige Leistung mit einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken (BVerwG, Beschluß vom 20. Juni 1986 – BVerwG 5 B 18.85 – ≪Buchholz 436.36 § 8 BAföG Nr. 5≫). Mehr an Unterstützung kann jedoch nicht verlangt werden (vgl. von der Groeben/Wölker, EWGV, 4. Aufl. 1991 Art. 48 Rn. 66; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 1992, Kommentar D 1, § 1 AufenthG/EWG, Rn. 30). Die in Teilen der Literatur vorgeschlagene Mindestgrenze in Höhe des sozialhilferechtlichen Bedarfs (vgl. Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Ausländerrecht, Stand November 1992, § 1 AufenthG/EWG Rn. 20; Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 3. Aufl. 1991, § 8 Rn. 8) wäre mit der erwähnten Entscheidung des Gerichtshofs nicht vereinbar.

Rz. 14

Dieses Ergebnis entspricht auch dem sich aus der Entstehungsgeschichte ergebenden Zweck der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EWG, das innerstaatliche Recht den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer anzupassen (vgl. BT-Drucks. 5/4125, S. 8 ff.). Da diese Vorschriften, die zu den Grundlagen der Gemeinschaft gehören, weit auszulegen sind (vgl. EuGH, Urteile vom 3. Juni 1986 – Rs 139/85 –, Kempf, ≪Slg. 1986, 1741 ff.≫ und vom 18. Juni 1987 ≪a.a.O.≫), muß dasselbe für § 1 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EWG gelten. Allein der Wunsch, die deutschen Sozialeinrichtungen nicht mit dem Aufenthalt unversorgter erwachsener Angehöriger von EG-Ausländern zu belasten, rechtfertigt es nicht, die vom Gesetzgeber angestrebte Harmonisierung außer acht zu lassen.

Rz. 15

Nach dem festgestellten Sachverhalt erhielt die Klägerin im maßgeblichen Bewilligungszeitraum fortgesetzt monatliche Unterhaltsleistungen von ihrem Vater in Höhe von 300 DM, die es ihr ermöglichten, ihren Lebensunterhalt während des Auslandsstudiums zu einem nicht unerheblichen Teil zu decken. Das reicht nach den soeben dargelegten Maßstäben als Unterhaltsgewährung im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG aus.

 

Fundstellen

BVerwGE, 239

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