Entscheidungsstichwort (Thema)
Sperrbezirk. Prostitution. Einwohner. Ermächtigungsgrundlage
Leitsatz (amtlich)
Nur die Einwohner einer Gemeinde, die in ihr ihren alleinigen oder ihren Hauptwohnsitz haben, sind bei der Frage zu berücksichtigen, ob die Gemeinde bis zu 50 000 Einwohner hat und ob deshalb gemäß Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB die Prostitution im gesamten Gemeindegebiet verboten werden darf.
Normenkette
EGStGB Art. 297 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; MRRG § 12
Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 17.07.2002; Aktenzeichen 8 A 10692/02) |
VG Neustadt a.d. Weinstraße (Entscheidung vom 31.01.2002; Aktenzeichen 2 K 1762/01.NW) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Juli 2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Der Kläger begehrt die Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung.
Er ist Eigentümer eines Wohnhauses in Speyer. Zwei der dort vorhandenen drei Wohnungen möchte er künftig für die Wohnungsprostitution nutzen. Sein Bauantrag wurde abgelehnt, weil die vorgesehene Anordnung der Stellplätze den Straßenverkehr gefährde. Auch der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Die Beklagte stützte in der Widerspruchsentscheidung die Ablehnung des Bauantrags zusätzlich auf die Rechtsverordnung zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes für den Regierungsbezirk Rheinhessen-Pfalz – SperrBezV – vom 14. August 1986, nach dessen § 1 es im gesamten Gebiet von Gemeinden bis zu 50 000 Einwohnern verboten sei, der Prostitution nachzugehen.
Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte, dem Kläger die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Das Vorhaben sei bauplanungs- und auch bauordnungsrechtlich zulässig. Der Genehmigung stehe auch nicht die Sperrbezirksverordnung, nunmehr in der Fassung vom 23. August 2001, entgegen. Sie sei nichtig, soweit sie die Prostitution in Speyer verbiete. Ihre Rechtsgrundlage, der Art. 297 Abs. 1 EGStGB, ermächtige nämlich nur in Gemeinden bis zu 50 000 Einwohnern, die Ausübung der Prostitution für das ganze Gemeindegebiet zu verbieten. Einschließlich der Einwohner mit Nebenwohnsitz habe die Einwohnerzahl von Speyer jedoch am 31. Dezember 2000 über 50 000 gelegen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Nach seiner Rechtsauffassung überschreitet die Sperrbezirksverordnung ihre Ermächtigungsgrundlage in Art. 297 Abs. 1 EGStGB nicht. Im Zeitpunkt ihres Erlasses im September 2001 habe die Stadt Speyer nämlich unstreitig weniger als 50 000 Einwohner mit Hauptwohnsitz gehabt. Allein die Anzahl der Einwohner mit Hauptwohnsitz sei im Rahmen des Art. 297 Abs. 1 EGStGB wegen der mit ihm verfolgten Zwecke maßgebend. Unerheblich sei, dass die maßgebliche Einwohnerhöchstzahl möglicherweise im Oktober und November 2001 überschritten worden sei. Denn eine im Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens hinreichend legitimierte Rechtsverordnung verliere ihre Wirksamkeit durch spätere tatsächliche Entwicklungen grundsätzlich nicht.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts; er begehrt die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Berufungsgerichts und tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, dass der Kläger keinen Rechtsanspruch auf die beantragte Baugenehmigung besitzt, steht im Einklang mit Bundesrecht.
- Das Berufungsgericht legt dar, die Baugenehmigung für die Nutzungsänderung der zwei Wohnungen des Klägers als Räume für die Wohnungsprostitution könne nach § 70 Abs. 1 Satz 1 LBauO RhPf nur erteilt werden, wenn dem Vorhaben keine baurechtlichen, aber auch keine sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstünden. Zu den sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften gehöre die “Rechtsverordnung zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes für den (ehemaligen) Regierungsbezirk Rheinhessen-Pfalz” – SperrBezV – in der Fassung der Änderungsverordnung vom 23. August 2001, bekannt gemacht im Staatsanzeiger für Rheinland-Pfalz vom 17. September 2001 (S. 1717). Mit ihr sei das Vorhaben des Klägers nicht vereinbar. Denn § 1 SperrBezV verbiete die Ausübung der Prostitution einschließlich der Wohnungsprostitution in der Stadt Speyer. Diese Ausführungen sind der Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen, weil sie auf der Anwendung irrevisiblen Landesrechts beruhen (§ 137 Abs. 1, § 173 VwGO, § 560 ZPO).
Der revisionsgerichtlichen Kontrolle unterliegt dagegen die Frage, ob § 1 SperrBezV, soweit er die Prostitution in Speyer verbietet, in Art. 297 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 1974 (BGBl I S. 469 ≪640≫) eine tragfähige Ermächtigungsgrundlage besitzt. Nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 dieser Vorschrift kann für das ganze Gebiet einer Gemeinde bis zu 50 000 Einwohnern durch Rechtsverordnung verboten werden, der Prostitution nachzugehen.
Diese Regelung ist geltendes Recht. Gegen ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht sind Bedenken weder geltend gemacht worden noch ersichtlich (vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 24. Oktober 2002 – 11 KN 4073/01 – NordÖR 2003, 26). Die durch Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB gegebene Möglichkeit, in Gemeinden mit bis zu 50 000 Einwohnern die Prostitution gänzlich zu verbieten, ist auch durch das Prostitutionsgesetz vom 20. Dezember 2001 (BGBl I S. 3983) nicht beseitigt worden; vielmehr ist der Vorschlag, Art. 297 EGStGB ersatzlos zu streichen (BTDrucks 14/4456 S. 3), nicht Gesetz geworden.
Das Berufungsgericht führt aus, die Voraussetzung des Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB sei erfüllt, weil die Stadt Speyer im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der derzeit geltenden Fassung des § 1 SperrBezV am 18. September 2001 weniger als 50 000 Einwohner mit Hauptwohnsitz hatte und allein die Anzahl der Einwohner mit Hauptwohnsitz im Rahmen des Art. 297 Abs. 1 EGStGB maßgeblich sei. Dieser Rechtsauffassung ist zu folgen. Die gegenteilige Rechtsansicht der Revision, nach der auch die Einwohner mit Nebenwohnsitz zu berücksichtigen seien, so dass mehr als 50 000 Menschen in Speyer wohnten, beruht auf einem fehlerhaften Verständnis des Einwohnerbegriffs in Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB.
Allerdings lässt sich aus dem Wortlaut des Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB nicht ableiten, ob “Einwohner” im Sinne dieser Vorschrift nur diejenigen Personen sind, die in der Gemeinde ihren alleinigen oder ihren Hauptwohnsitz haben, oder ob auch die Personen mit Nebenwohnsitz in der Gemeinde mitzuzählen sind. Dass beide Gruppen gemeint sein könnten, zeigt § 12 MRRG, der davon ausgeht, dass ein Einwohner mehrere Wohnungen haben kann (ebenso die landesrechtliche Vorschrift des § 13 GemO RhPf). Im melderechtlichen Sinne ist Einwohner auch derjenige, der in der Gemeinde nur seinen Nebenwohnsitz hat.
Eine Beschränkung auf die Einwohner einer Gemeinde, die in ihr ihren alleinigen oder Hauptwohnsitz haben, entspricht jedoch dem Sinn der Regelung des Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB. Wie das Berufungsgericht im Einzelnen zu Recht ausführt, ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass dem “Schutz der Jugend und des öffentlichen Anstandes” in kleinen und mittleren Gemeinden eine größere Bedeutung zukomme als etwa in Großstädten. Die Ermächtigung zum generellen Prostitutionsverbot für diese Gemeinden beruht auf der typisierenden Betrachtung, dass Art und Überschaubarkeit der in kleineren Gemeinden vorhandenen Sozialstrukturen zu einer erhöhten Wahrnehmbarkeit der Prostitution führen und dass deshalb in ihnen Belange des Jugendschutzes und des öffentlichen Anstandes stärker als in größeren Gemeinden beeinträchtigt werden können. Wenn aber die “kleinstädtisch” geprägte Sozialstruktur einer Gemeinde den Grund für die Ermächtigung zum Erlass einer Verbotsverordnung nach Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB bildet und wenn nach der Entscheidung des Gesetzgebers diese Ermächtigung durch eine bestimmte Einwohnerzahl begrenzt wird, so kommt es auf diejenigen Einwohner der Gemeinde an, die sich überwiegend in ihr aufhalten. Dies sind die Personen, die in der Gemeinde ihren einzigen oder ihren Hauptwohnsitz haben. Denn nach dem Grundsatz des § 12 Abs. 2 Satz 1 MRRG ist Hauptwohnung die vorwiegend benutzte Wohnung. Zu Unrecht verweist die Revision auf die vielen Studenten, die die soziale Struktur einer Gemeinde mit prägten, ohne dort mit Erstwohnsitz gemeldet zu sein. Zwar kann nicht bezweifelt werden, dass das Bild von Hochschulorten auch durch ihre Studenten bestimmt wird. Die Revision übersieht jedoch, dass nur minderjährige Studenten ihren Hauptwohnsitz regelmäßig bei ihren Eltern haben (§ 12 Abs. 2 Satz 3 MRRG). Dagegen hat der volljährige Student, wenn er sich vorwiegend am Studienort aufhält, im Regelfall auch dort seinen Hauptwohnsitz (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 1991 – BVerwG 1 C 24.90 – BVerwGE 89, 110). Dass es auch Einwohner gibt, die sich zu Unrecht nur mit zweitem Wohnsitz gemeldet haben, trifft zwar zu; aus dem gesetzeswidrigen Verhalten Einzelner lassen sich jedoch keine Auslegungskriterien gewinnen.
Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die Entstehungsgeschichte des Art. 297 EGStGB. Neben dem melderechtlichen Einwohnerbegriff gibt es seit langer Zeit einen anderen, an der Wohnbevölkerung ausgerichteten Einwohnerbegriff, der für die Berechnung der Einwohnerzahl auf die Ergebnisse der jeweils letzten Volkszählung abstellt (vgl. Preußisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Juni 1924 – II.B.1/24. – PrOVG 79, 23). Bei ihm blieben Nebenwohnungen unberücksichtigt; denn eine mehrfache Zählung von Personen wäre mit dem Zweck einer allgemeinen Volkszählung nicht vereinbar. Dieser Einwohnerbegriff liegt den Vorläufern des Art. 297 EGStGB, insbesondere § 361 Nr. 6a StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 18. Februar 1927 (RGBl I S. 61 ≪63≫), zugrunde. Aus den Gesetzesmaterialien zum Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber bei der Berechnung der Einwohnerzahlen neue Wege beschreiten wollte. Zwar beruhten die nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Statistiken über die Wohnbevölkerung nicht allein auf Volkszählungen, sondern auch auf deren Fortschreibungen. Gleichwohl lagen in regelmäßigen Abständen vom Statistischen Bundesamt und den Statistischen Landesämtern veröffentlichte Zahlen über die Wohnbevölkerung vor, aus denen die jeweils maßgebliche Einwohnerzahl der Gemeinden ermittelt werden konnte. Auch nachdem die statistischen Ämter die Fortschreibung der Einwohnerzahlen im Jahr 1983 auf den Begriff der Bevölkerung am Ort der alleinigen bzw. Hauptwohnung umgestellt haben, hat sich daran im Wesentlichen nichts geändert (vgl. Statistisches Jahrbuch 2002 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 41).
Bundesrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, dass die Sperrbezirksverordnung nicht deshalb unwirksam geworden ist, weil die Einwohnerzahl der Stadt Speyer (unter Berücksichtigung nur der Hauptwohnsitze) nach einer Mitteilung des Statistischen Landesamts Rheinland-Pfalz im Oktober und November 2001 geringfügig über 50 000 gelegen habe. Zwar gehört die Frage, ob eine nachträgliche Zunahme der Einwohner auf mehr als 50 000 zugleich eine Überschreitung der Ermächtigungsgrundlage darstellt, die zur Unwirksamkeit der SperrBezV führt, zum revisiblen Recht. Die Frage ist jedoch ohne weiteres zu verneinen. Landesverordnungen, die auf bundesrechtliche Ermächtigungen gestützt sind, treten, solange sie nicht förmlich aufgehoben worden sind, nicht allein deshalb außer Kraft, weil der Ermächtigungstatbestand nachträglich fortgefallen ist (BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1979 – BVerwG 8 C 2.79 – BVerwGE 59, 195 ≪197≫). Ein Außer-Kraft-Treten einer Verordnung nach Art. 297 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGStGB kommt erst dann in Betracht, wenn in einer Gemeinde die Einwohnerzahl von 50 000 offensichtlich auf Dauer überschritten wird. Dies lässt sich hier aus den Zahlen für zwei Monate, die dem Berufungsgericht vorlagen, nicht feststellen.
Ob die Rechtslage auf der Grundlage des Vortrags des Klägers im Revisionsverfahren, nach dem die Einwohnerzahl der Stadt Speyer seit April 2002 (bis zuletzt Juni 2003) erneut auf über 50 000 angestiegen sei, anders zu beurteilen wäre, kann offen bleiben. Denn der Kläger trägt insoweit neue Tatsachen vor, die im Revisionsverfahren unbeachtlich sind.
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Paetow, Dr. Lemmel, Halama, Prof. Dr. Rojahn, Dr. Jannasch
Fundstellen
BauR 2004, 642 |
ZAP 2004, 228 |
ZfIR 2004, 612 |
ZfBR 2004, 390 |
BayVBl. 2004, 570 |
DVBl. 2004, 522 |
GV/RP 2004, 757 |
UPR 2004, 145 |
FuHe 2004, 554 |